6 Monate Guardian of the Blind

Ein halbes Jahr nun, seit dem 28. Juni 2009, habe ich dieses Blog, Guardian of the Blind. Und da ich Statistiken ja schon immer mochte, hab ich mal ein paar über dieses Blog zusammengestellt. Anschließend versuchen, ein kleines Resümee des bisherigen Blog-Verlaufs zu ziehen.

Also, bisher sah es so aus:

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Top-Referrer: twitter.com

Top-Suchbegriffe, mit denen dieses Blog gefunden wurde:

zensursula, globalisierung entwicklungsländer, wahlomat kritik, nordkoreas internationale beziehungen, platon, seneca, entwicklungsländer globalisierung, platons höhlengleichnis, fdp entwicklungspolitik, uni trier, entwicklungsländer

Lustige oder merkwürdige Suchbegriffe:

Viele (oft geschuldet durch den Twitter-Feed im Blog), hab die leider nicht gesammelt ;-), aber z.B. “markus weber bnd”, “bwl-schnösel” (6 mal), “ödp ist eine pr-illusion” (4 mal – hä?), “guardian esoterik”, “oh gott frey zdf chefredakteur”, “rösler lustigster student”, “lustiger mann”, “angela merkel komisch”, …

Top-Klicks in diesem Blog:

Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2009

derStandard.at: “Ich will kein Nazi sein”

Wen Wählen?

Häufigste Kategorien: Politik (92), Medien (33), Wissenschaft (23)

Häufigste Schlagworte (Tags): Politik (97), Gesellschaft (28), Medien (26), Video (25), Neoliberalismus (19), Netzpolitik, Politiker (je 18), FDP, Parteien (je 16), Lustiges (16), Bundestagswahl (15)

Soviel zu den Statistiken. Also dann, vielen Dank an euch, an alle, die dieses Blog lesen! Natürlich würde man sich schon noch ein paar mehr Leser wünschen (es ist aber auch immer schön zu erfahren, wenn man regelmäßige Leser hat). Nachdem es am Anfang relativ wenige waren, nahm die Zahl dann aber zu und schwankt meist so zwischen 40 und 120 pro Tag zur Zeit (im Dezember). Aber v.a. würde ich mich über ein paar mehr Kommentare freuen. Denn jeder Kommentar (sofern er nicht nur beleidigend ist oder so) ist hilfreich, zeigt, wofür man schreibt und hilft weiter. Also, schreibt doch bitte ruhig was, was euch einfällt, wenn ihr lest.

Und ich möchte jetzt Dank sagen an alle, die die Beiträge verlinkt oder weiterverbreitet haben. Davon lebt das Bloggen, dies entwicklet seine besondere Dynamik, führt vielleicht sogar zu einer Annäherung an so etwas wie eine “Gruppenintelligenz”. 😉 Jede Verlinkung und Weiterleitung ist erfreulich. 🙂 Besonders schön war auch natürlich die Erwähnung des Beitrags Der neue Wahlomat – schlecht gemacht und tendenziös im Artikel “Ich will kein Nazi sein” im Standard:

“Sind wir alle seit der Europawahl plötzlich zu Nazis geworden?”, fragt sich der deutsche Blogger Markus Weber. Er will entschlüsselt haben, warum die NPD im Instrument der Bundeszentrale für Politische Bildung so häufig bei überzeugten Grün- oder SPD-Wählern auf Top-Positionen gelangte: die Thesen seien tendenziös formuliert, die Positionen der Parteien zu extrem dargestellt. Bei der Frage “Die Türkei soll die Vollmitgliedschaft in der EU erhalten” gebe es von der SPD oder den Linken eben kein klares Ja oder Nein. So würde die Bedingung der SPD, dass eine Mitgliedschaft „nur unter Wahrung der Menschenrechte” zustande kommen könnte, dennoch pauschal als “Ja” gewertet. Dem eindeutigen Nein der NPD dürfte sich so mancher Teilnehmer des Fragebogens aber näher gefühlt haben.

Weber wirft der Bundeszentrale für Politische Bildung vor, dass die Auswahl und Formulierung der Thesen „Parteien des rechten Randes” überproportional bevorzuge, während SPD, Grüne und Linke benachteiligt würden.

Was ich ja um ehrlich zu sein immer noch nicht ganz verstanden habe, ist das mit den Verlinkungen und Trackbacks/ Pingbacks. Unter WordPress soll das ja sogar automatisch gehen, aber da gibt es öfter doch Probleme und es werden einige (von mir in anderen Blogs, von anderen Blogs bei mir) nicht angezeigt, auch wenn man manuell Trackback schickt. Ich hab auch gehört, dass andere WordPress-Blogger manchmal dieses Problem haben. Und (wie) funktioniert das bei Blogspot überhaupt? Ansonsten, v. a. an alle, die von außerhalb von WordPress bloggen: wäre mich bei einer Verlinkung über einen kleinen Trackback (einfach an die Adresse des Artikels) danbar. 🙂

So, genug zu den Selbstbetrachtungen, das soll ja hier ein Politik-, kein selbstreferentielles Medien-Blog sein. Es geht doch um Inhalte! 😉

Inhaltlich also habe ich versucht, ich sage mal schon ein gewisses Niveau zu wahren, weiterführende oder die Argumentation unterstützende oder erklärende Links zu posten und (wissenschaftliche) Belege für Behauptungen zu sammeln. Vielleicht ist es manchmal bei einzelnen Themen auch etwas zu akademisch geworden, aber ich denke, diese Artikel dürften sich die Waage halten. Oder wie seht ihr es? Oder ist dies vielleicht nicht (immer) gelungen?

Dass dieses Blog in seiner Positionierung klar links steht, in demokratisch-sozialistischer/ sozialdemokratischer Tradition, mit einigen Übereinstimmungen zu neueren marxistischen Theorien (v. a. der Kritischen Theorie), wirtschaft(swissenschaft)lich keynsianisch (aber nicht in der der Bastardkeynsianer) orientiert ist, dürfte klar geworden sein. Ich habe aber versucht, immer klarzumachen, warum ich die neoliberale (und ich meine nicht den Ordoliberlismus, sondern den marktradikalen Neoliberalismus etwa von Friedman und der Lambsdorff-Papiere) ablehne. Aus normativen Gründen, aber auch aus performance-orientierten. Wenn ich es dabei manchmal vielleiht etwas übertrieben habe, dann deshalb, weil ich in der neoliberalen bis neokonservativen Meinungsführerschaft von Politik, Wirtschaft und Mainstream-Medien eine große Gefahr für unsere Gesellschaft sehe. Und ich denke, dass es klare Alternativen gibt zu einer Gesellschaft, die nur Egoismus und Eigennutz kennt. Diese Kräfte können, wenn sie es können, vielleicht entstehen in sozialen Bewegungen, globalisierungskritischen Gruppierungen, Gwerkschaften, Umweltgruppen, und vielleicht auch in der Gegenöffentlichkeit der Blogosphäre.

Aber fragen wir doch die “Betroffenen”, denn die können es besser als man selbst einschätzen: Also, liebe Leser, wie fandet ihr bisher dieses Blog bisher? Was fehlte euch, was wünscht ihr euch noch wovon gab es vielleicht zu viel? Wie war es geschrieben? Welche Kritikpunkt habt ihr? Was kann man besser machen? Wie gesagt, jede Kritik ist willkommen!

Euer

Guardian of the Blind
Markus Weber

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Jahresrückblick 2010

Ein Rückblick, wie das Jahr 2009 war, kann ja jeder. Einen für das Jahr 2010 hingegen erfordert etwas mehr Geschick. Dies beweist Flatter bei Feynsinn: Das wird 2010 gewesen sein in einem So z.B.:

März: “Endlich dreißig Grad! Deutschland feiert!”, titelt ihr wißt schon wer und erklärt den frühen Sommer mit außergewöhnlicher Sonnenaktiviät. Neuer Umweltredakteur der Springer- Zentralredaktion wird Wolfgang Clement. Thilo Sarrazin wird Aufsichtsratschef, Heinz Buschkowsky Leiter der Berliner Lokalredaktion. “Linksrutsch auf dem Durchmarsch” heißt es dazu im Titel des “Spiegel”. Überall mache sich die Sozialdemokratisierung breit.

Mai: (…) In Frankfurt schließt das Institut für Sozialforschung und wird vom Roland-Koch-Institut abgelöst. “Aufklärung? Können wir besser!” ist der neue Leitspruch.

Juni: (…) Nachdem sich eine Mehrheit der Deutschen für höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern ausgesprochen hat, zündet sich Peter Sloterdijk auf den Stufen des Reichstags an. Sein Abschiedsbrief ist so kryptisch, daß selbst der Vorsitzende der Heidegger-Gesellschaft resigniert abwinkt. Einzig der “Gesang gegen Enteignung” enthält Hinweise auf die Motive.

September: (…) Der Verfassungsschutz muß einräumen, daß er seit Jahren Zeitungsredakteure, Blogger, Sozialdemokraten und Fischverkäufer beobachtet. Innenminister de Maizière dazu: “Die Nachfolger des SED-Unrechtsregimes stecken eben überall. Wir müssen wachsam sein!”.

Ein wirklich sehr gut geschriebene Satire, die sich lohnt, zu lesen!

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Für eine echte Rückkehr des Keynesianismus

Die IG Metall fordert ein Zukunftsinvestitionsprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro zur Wirtschaftsankurbelung von der Bundesregierung. Damit sollen technologische Innovationen gefördert und krisengeschüttelte Unternehmen unterstützt werden.

Nun ist an sich ein staatliches Investitionsprogramm für uns Keynesianer erst einmal eine gute Idee. Einfach gesprochen: ein antizyklisches Verhalten, wobei der Staat in einer Konjunkturkrise seine Ausgaben hochfährt, um die Krise zu überwinden und die Konjunkturzyklen abzuflachen, anstatt die Schwankungen zu verstärken, indem er in Krisenzeiten spart (prozyklisch), ist durchaus als sinnvoll und als notwendig zu betrachten. Schade ist, dass die Neoliberalen mit dem üblichen Hinweis auf die “Staatsschulden” die veröffentlichte Meinung direkt wieder auf ihre Seite ziehen werden. Dabei gibt es in einer Konjunkturkrise deutlich dringlichere Probleme. Natürlich sollte der Staat bei einer Erholung und einem Wiederaufschwung der Wirtschaft die Ausgaben wieder hinunterfahren und die Staatsverschuldung abbauen. Dass dies in der Vergangenheit nicht immer passiert ist, ist ein politisch zu erklärendendes Problem und keine grundlegende Schwäche des Keynsianismus, wie die Neoklassiker es behaupten. (Natürlich soll das Problem nicht kleingeredet werden, aber schaut man sich einmal die Auslandsschulden an, so sieht man, dass Deutschland eine positive Bilanz hat. Die Inlandsschulden sind im internationalen Vergleich nicht beonders hoch und v. a. eine Verteilungsfrage).

Ein bisschen hat in Folge der Finanzkrise ja auch die letzte und sogar diese Bundesregierung eingesehen, dass der Staat zur Konjunkturentwicklung gegensteuern muss. Aber: natürlich sollte Geld sinnvoll ausgegeben werden – keine Schulden um der Schulden willen – und nicht für reine Klientelpolitik. Ein echtes “Wachstumsbeschleunigungsgesetz” wäre natürlich zur Zeit durchaus geboten, trotz des albernen Namens, und auch wenn natürlich Wirtschaftswachstum kein Allheilmittel an sich ist, und auch wenn das Wachstum seine Grenzen hat und möglichst nachhaltig vonstatten gehen solle. Romantisierende Vorstellungen mögen ja ganz nett sein bei einem Gespräch beim Bio-Latte im netten Café im Prenzlauer Berg – zur Verbesserung des weltweiten Wohlstandes ist Wirtschaftswachstum unerlässlich. Und dies kann durchaus auch nachhaltig geschehen. Umwelttechnologien sind zwar das gern bemühte, aber auch das beste Beispiel. Das derzeitige Wachstumsbeschleunigungsgesetz jedoch ist wie gesagt reine Klientelpolitik. Entlastungen für die Besserverdienenden, Subventionen für eine einzelne lobbystarke Dienstleistungssparte – dies wird kaum jemandem nützen außer den Privatkonten der Hoteliers, wo sie schon zugesichert haben, die Subventionen keinesfalls an die Kunden weitergeben zu wollen. Nicht mal aus neoliberaler, angebotsorientierter Sichtweise ist diese Maßnahme sinnvoll.

Nachfrageförderung wäre ja zur Abwechslung mal was. Was fordert aber die IG Metall? Innovationsförderung, sicherlich, das ist eine sinnvolle Maßnahme. Sie sollte es jedoch immer sein, als staatliche Aufgabe, und nicht nur in Krisenzeiten. Aber ansonsten?

Huber plädierte dafür, die Metall- und Elektrobranche als industrielle Kerne zu schützen, um nach der Krise wieder Wachstum und Beschäftigung voranzutreiben. Ein Investitionsprogramm sei dafür dringend nötig.

Wieder eine Subventionierung einzelner Zweige, diesmal der Industrie. Ein Schutz von Branchen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, möglicherweise. Wie lange dies langfristig volkswirtschaftlich sinnvoll ist, erscheint nebensächlich. Werden nichtwettbewerbsfähige Industrien geschützt (auc wenn es geschieht, um Aebeitsplätze zu sihcern), folgen strukturelle Defizite – abnehmende Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft der Volkswirtschaft. Aber es komt noch was:

Huber kündigte zugleich für die im Frühjahr 2010 anstehenden Tarifverhandlungen mit den Metall-Arbeitgebern zurückhaltende Lohnforderungen an. Voraussetzung dafür seien aber verlässliche Vereinbarungen zur Sicherung der Arbeitsplätze. Sollte dies nicht gelingen, würden die Lohnforderungen deutlich höher ausfallen, sagte er.

In den letzten 20 Jahren gab es eine “Lohnzurückhaltung” der deutschen Gewerkschaften – was real ein Sinken der Löhne um knapp 2 Prozent bedeutete, während die Einnahmen aus Gewinnen und Vermögen sich in dieser Zeit verdreifachten. Deutschland hat eine extrem starke Exportwirtschaft, ja – die Inlandsnachfrage jedoch ist auf einem niedrigen Niveau. Zudem macht die Exportabhängigkeit anfällig für Schwankungen und Krisen.

Nein, eine echte Nachfrageförderung, Lohnsteigerungen, Entlastungen und Zuschüsse für untere Einkommensschichten, das ist notwenidig und sowohl wirtschaftlich und sozial sinnvoll. Denn, kurz gesagt, jeder Euro mehr in diesen Einkommensgruppen kommt unmittelbar dem Konsum und damit der Volkswirtschaft zugute. Die Angebotsseite wurde 27 Jahre lang entlastet, die Steueren für Unternehmen und Großverdiener wurden stets gesenkt, ebenso die Arbeitnehmerrechte. Gebracht hat es uns Arbeitslosigkeit, eine weitere Staatsverschuldung, eine Umverteilung von unten nach oben und einen verkrüppelten Sozialstaat. Und die Investitionsquote ist trotz alle gering geblieben.Einzig die Inflationsquote ist niedrig, und das ist für die neoliberalen Monetaristen das wichtigste. Dabei ist die Inflation wirklich das geringste, worum wir uns Sorgen machen müssen. Eine gewisse Inflation ist sogar durchaus nützlich für die Wirtschaft. Eine Deflation dagegen durchaus gefährlicher. Nein, es ist Zeit für die Nachfrageseite, für eine Umverteilung von oben nach unten. Es ist Zeit für eine echte Rückkehr des Keynesianismus.

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Eingesperrt ohne Verdacht – der deutsche Rechtsstaat 2009?

Juli Zeh und Rainer Stadler schreiben im Süddeutsche Zeitung Magazin über den Fall eines marrokanischen Studenten, der während des Oktoberfestes ohne Verdacht inhaftiert wurde. Dieser Bericht zeigt wiedermal, wie weit die Bürgerrechte in Deutschland schon mit Hilfe einer Terror-Panik abgebaut wurden und wie weit die fundamentalsten Grundsätze des Rechtsstaats missachtet, umgedreht oder pervertiert werden:

Um ihren massiven Eingriff zu rechtfertigen, gibt sich die Polizei alle Mühe, Samir als höchst gefährlich erscheinen zu lassen. Seine Freunde heißen in dem Observationsbericht »Kontakt- und Vertrauenspersonen«; sein Bekanntenkreis ist ein »Geflecht«. Dass er sich in der Moschee mehrmals mit einem Bekannten unterhielt und beide das Gebäude »jeweils getrennt voneinander« verließen, wird als verdächtig eingestuft; ebenso wie der Umstand, dass Samir sich von der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden belästigt fühlte. »Der Betroffene zeigte sich äußerst misstrauisch« und »versuchte, seine Verfolger abzuschütteln«. Weil Samir sich nicht in aller Ruhe von Unbekannten fotografieren und verfolgen ließ, schließen die Ermittler daraus, dass er »Freiraum für Aktivitäten gewinnen« wollte. Die Tatsache, dass Samir vor seiner Festnahme zweimal bei der Polizei anrief, um Hilfe gegen seine Verfolger zu erbitten, fehlt in dem Bericht.

Doch auch die Richterin hat sich das präventive Prognose-Denken zu eigen gemacht: In ihrem Beschluss wiederholt sie, was die Polizei zu Samirs angeblichen Kontakten zur Islamisten-Szene vorgebracht hat. Und schreibt: »Weitere Kontakte können nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden.« (…) Schließlich heißt es in dem Beschluss: »An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« Auf den Präventivstaat angewendet bedeutet dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ist das Szenario für einen Anschlag nur verheerend genug, haben die Sicherheitsbehörden weitgehend freie Hand.

Noch mehr haarsträubende Details zu den angeblichen “Verdachtsmomenten” in diesem Fall gibt es auch beim Stern unter “Angst vor einem Anschlag: Vorsorglicher Terrorverdacht”:

(…) waren Ermittler des bayerischen Staatsschutzes. Sie hatten den Mann seit längerem im Visier und dabei offenbar nicht mehr festgestellt, als dass er bis zum Mai dieses Jahres Kontakt zu einer Person hatte, die irgendwann im Jahr 2003 einmal Kontakte zu Bekkay Harrach hatte. Jenem Islamisten, der kurz vor der Bundestagswahl per Video zum Dschihad gegen Deutschland aufrief und seit 2007 im Verdacht steht, Kontakte zu Osama bin Laden zu haben.

Als Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee “ständig seine Umgebung geprüft”. Außerdem habe die “Zielperson” bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen “mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln”. Möglicherweise, so wird spekuliert, um “Freiraum für Aktivitäten” zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.

Glaubt man den Staatsschützern, dann gibt es in dieser Hinsicht nur vage Anhaltspunkte. So traf sich Hatem M. – der Mann, der zusammen mit Marouane S. in Gewahrsam genommen wurde – im Jahr 2003 in Bonn mit Bekkay Harrach. Und obwohl die Ermittler ausdrücklich erklären, dass es keinerlei Belege dafür gibt, dass auch Marouane S. den Islamisten Bekkay Harrach jemals getroffen hat, heißt es aus dem Münchner Polizeipräsidium überraschend, Marouane S. könnte sich durch die Terror-Videos seines “Freundes” Bekkay Harrach angesprochen fühlen und sie quasi als eine “persönliche Botschaft an sich” sehen. Die Ermittlungsrichterin geht sogar noch weiter. Trotz der gegenteiligen Aussage der Staatsschützer erklärt sie, “der Betroffene pflegte in der Vergangenheit Kontakt zu dem Verfasser der Videos und zwar über Hatem M.”.

Ein Student sieht sich – zu Recht – von den Handlangern des Überwachungsstaates verfolgt, wendet sich sogar an die Polizei – und gilt als terrorverdächtig? Weil er Muslim ist? Und deshalb fühlt er sich von Drohvideos, die jemand, den er nicht kennt, ins Internet gestellt hat, angestachelt als eine “persönliche Botschaft an sich”? Tun das vielleicht auch alle Muslime? Und wenn die Verdachtsanforderungen schrumpfen, je mehr die Größe der Gefahr wächst: He, die Terroristen könnten ja vielleicht Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen erlangen und einen Atomkrieg entfachen. Wie konkret müssten da die “Verdachtsmomente” sein? Vielleicht, dass jemand aus dem selben Land wie ein Terrorist kommt? Könnte man die nicht auch alle präventiv wegsperren?

Kein fassbarer Verdacht, allerhöchstens noch Indizien, die einen Verdacht vielleicht irgendwann einmal möglich machen könnten, solche Verdachtsanforderungen, die mit den Hinweis auf eine angebliche Terrorgefahr gerade mal in homöopathischer, also selbst für einen Experten wohl kaum wahrnehmbarer Höhe –  man könnte auch von einem Nichtvorhandensein sprechen –  liegen sollen, eine Beweislastumkehr – dies sind Vorgänge, für die in einem Rechtsstaat kein Platz ist. Stattet man Positionen in einer Gesellschaft mit Autoritätsrechten aus – v. a., wenn diese das Gewaltmonopol des Staates oder die Rechtssprechung ist – so benötigen die Personen, die diese ausfüllen, eine wirksame Kontrolle, damit diese nicht ausgenutzt und ausgehöhlt werden.

Und dieser Fall ist bei weitem kein Einzelfall – schaut nur mal bei annalist vorbei. All dies kann so gut wie jeden treffen. Die normalsten Handlungen können plötzlich “terrorverdächtig” sein oder einen “Terrorverdacht” “nahelegen”, wenn die Öffentlichkeit ersteinmal genug mit ständigen Terrorwarnungen bearbeitet ist. Wie real diese Gefahr ist, ist dabei unerheblich – wichtig ist, für wie real sie die Bevölkerung hält. Diese Gefahr wird in der veröffentlichten Darstellung niemals abnehmen – hat sich eine Warnung nicht als gerechtfertigt erwiesen, folgt reflexartig der Verweis, dass die Gefahr jedoch keineswegs veschwunden ist, nicht einmal kleiner geworden ist sie – sie besteht weiterhin und wird regelmäßig erneuert. Dass ist die Gesellschaft der Verängstigung und der Einschüchterung, die die Neokonservativen sich immer gewünscht haben, um die von ihnen ersehnte Stärkung der “Sicherheits”- und Überwachungsmaßnahmen zu verwiklichen und eine Stimmung zu erzeugen, in denen in anderen demokratischen Rechtsstaaten unrechtmäßige Verhaftungen und Gefängnisse, sogar die Anwendung von Folter durchgeführt, geduldet und unterstützt wird – alles im Dienste der Sicherheit vor der allseits und allerzeit bestehenden Gefahr. Die harte, autoritäre Hand des Staates, law und order – wobei man es mit dem existierenden law nicht immer so genau nehmen muss, wenn man es eigentlich verteidigen sollte.

Dies zeigt wieder mal umso mehr, wie sehr unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Demokratie verteidigt werden müssen gegen die, die ihn abbauen und einschränken wollen – auch unter dem Vorwand, ihn zu schützen.

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Zwei Buchtipps (nicht nur) zu Weihnachten

Suchtihr noch ein Geschenk für Weihnachten und wollt nicht schon wieder Pralinen, Schnaps oder Krawatten verschenken? Vielleicht ein Buch? Dann aber nicht den neuesten “Ratgeber” oder die Auslegeware aus der Bücherkommerzkette?

Na, da ist doch z.B. das erste Buch des geschätzten Blogger-Kollegen Roberto de Lapuente (ad sinistram) “Unzugehörig – Skizzen, Polemiken & Grotesken” wird Anfang der Woche beim Renneritz-Verlag erscheinen und eine überarbeitete Auswahl seiner besten Texte enthalten. (via binsenbrenner.de) Wir dürfen also ein Buch mit äußerst intelligent geschriebenen gesellschaftskritische Texten erwarten. Sobald mehr Informationen dazu da sind, gibt’s die natürlich auch hier.

UPDATE: Das Buch ist erschienen und hier zu beziehen, und dort gibt es auch eine Leseprobe.

Oder wie wäre es mit “Meinungsmache: Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen” von Albrecht Müller von den NachDenkSeiten ?

“An vielen praktischen Beispielen wird gezeigt, dass wichtige politische Entscheidungen in strategisch geplanten Kampagnen der Meinungsbeeinflussung vorbereitet werden. Meinung macht Politik. Meinungsmache bestimmt auch wirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen. Meinungsmache bereitet Kriege vor und prägt oft die Geschichtsschreibung. Die Theorie der demokratischen Willensbildung ist weit von dieser Realität entfernt. Wer über publizistische Macht und unbegrenzte finanzielle Mittel verfügt, bestimmt weitgehend die relevanten Entscheidungen und kann so seine Interessen durchsetzen. Wichtige Voraussetzungen für das Gedeihen demokratischer Willensbildungs-prozesse sind nicht mehr gegeben.”

Über das Buch

Inhaltsverzeichnis

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Happy Birthday, Simpsons!

Happy Birthday! Vor 20 Jahren lief die Serie “Die Simpsons” zum ersten mal im amerikanischen Fernsehen. Dazu die Tagesschau: 20 Jahre “Die Simpsons”: Gelb, chaotisch und erfolgreich

Sehr schön daraus:

Henry Keazor: “Die Simpsons sind Weltliteratur.”
George Bush: “”Wir brauchen mehr Familien wie die Waltons und weniger wie die Simpsons”

Stimmt, da war ja was …

http://www.youtube.com/watch?v=l3nQ6DbGWvw

Dann doch lieber:

http://www.youtube.com/watch?v=1aBaX9GPSaQ

Ach, und noch einer:  heute vor genau 100 Jahren, am 19. Dezember 1909, wurde der Ballspielverein Borussia 09 e. V. Dortmund gegründet. Herzlichen Glückwunsch!

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Marcuse, 1968 und heute

Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 268.)

Herbert Marcuse lieferte mit “Der eindimsionale Mensch” eine umfassende Beschreibung der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, die jegliche Opposition ersticken – und dies schon im Denken der Menschen. Doch Opposition ist notwendig – eine neue, eine bessere Gesellschaft muss gewünscht, gedacht werden und es muss versucht werden, sie umzusetzen. Eine Gesellschaft, wie sie Marcuse sich vorstellt, kennt keine Herrschaft mehr, keine Klassen, keine Verschwendung und Irrationalität, keine Kriege,  sie befriedigt die menschlichen Bedürfnisse bei einem Minimu an harter Arbeit. Die Möglichkeiten dafür sieht er bereits in der bestehenden Gesellschaft, die Analyse dieser mache aber nur allzu klar, dass dafür eine Umwälzung notwendig sei.

Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten des freien Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten Aktionen des Protests und der Weigerung. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 253.)

Die Akteure, die eine Veränderung möglich machen würden, sieht Marcuse sehr beschränkt, und im Eindimensionalen Menschen kommt er erst auf den letzten zwei Seiten auf sie zu sprechen . “Das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen”: ihre Opposition sei revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein. Würden sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel der bestehenden Gesellschaft mitzuspielen, schließlich sich zu Protest aufraffen, könnten sie “den Beginn des Endes einer Periode” makieren. Diese Chance bestünde, wenn sie als “ausgebeutetste Kraft” der Menschheit mit ihrem “fortgeschrittensten Bewußtsein” aufeinandertreffen würden. Im Zuge von 1968 sah er dieses Bewusstsein teilweise in den Studenten. Marcuse hatte großen Einfluss auf diese gehabt, gerade “Der eindimensionale Mensch” stellte mit seiner Analyse des repressiven Charakters der bestehenden Gesellschaft die Notwendigkeit ihrer Veränderung klar heraus.

Es hat sich wohl gezeigt, dass Herbert Marcuses früherer Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Änderung berechtigter war als sein späterer Optimismus, mit Sicht auf die Studentenproteste und die „68er“ Bewegung, in denen er, mehr als andere Vertreter der kritischen Theorie wie Adorno, Kräfte sah, die einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen konnten. Zwar gab es in der Tat Änderung hin zu größeren gesellschaftlichen Freiheiten, jedoch blieben großes sozialen Änderungen oder gar solche am „System“ aus. Der reaktionär-konservative Spießer-Muff, de die Bundesrepublik Deutschland 1968 in den weitesten Teilen beherrschte, wurde gebändigt. Dass das Ideal einer offenen, toleranten Gesellschaft stärker Fuß fassen konnte, haben wir ohne Zweifel den Protesten von 1968 zu verdanken. Das wirtschaftliche Syste blieb währenddessen nicht nur unangetastet. Nach einer Phase einer umfassenderen Sozialpolitik, einer keynsianischen Wirtschaftssteuerung und einer Ausweitung von Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechten unter den Regierungen mit SPD-Beteiligung glitt Deutschland 1982 vollends in den Neoliberalismus nach dem Vorbild Reagans und Thatchers mit den gesitigen Vätern Hayek, Friedman und speziell für Deutschland Hayek ab. Rot-grün (nach einer 6-monatigen Verschnaufpause) und die große Koalition setzten die Politik des Sozialabbaus und des Marktradikalismus fort – und dies auch unter maßgebliche Beteilgung früherer “68er” und ehemaliger Linker. Und jetzt haben wir mit schwarz-gelber Kopfpauschale, Stufensteuer und Klientelgeschenken eine neue Stufe der Entsolidarisierung.

Dass eine eindimensionale Ideologie, die die Möglichkeiten einer Veränderung und Verbesserung des bestehenden negiert und als unrealistisch oder utopisch brandmarkt, die Ideologie der gegebenen Tatsachen, immer noch vorherrschend ist, sieht man z.B. in den politischen Argumentationen im Hinblick auf „Reformen, zu denen es keine Alternative gibt“ und ähnlichen immer wiederkehrenden Phrasen und Floskeln. Irrationalität, die nicht als solche wahrgenommen wird, besteht weiterhin. Indem man sich immer mehr von der sozialen Seite der Sozialen Marktwirtschaft entfernt und immer mehr Menschen die Nachteile erfahren, könnte sich vielleicht irgendwann Widerstand regen. Doch auch dies bleibt nich mehr als eine Möglichkeit.

Die freie Wahl des Herrn beseitigt nicht die Unterscheidung zwischen Herrn und Sklaven. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“)

Die ursprünglichen und grundlegenden Vorstellungen und Ideale marxistischer Theorie, die auf Abschaffung von Arbeit und Herrschaft gerichtet sind, sollten nicht vergessen werden. Die Gesellschaft, die wir heute haben, ist vielleicht eine der fortgeschrittensten, die historisch je erreicht wurde. Doch das heißt nicht, dass nicht auch hier positive Veränderungen möglich sind. „Das bessere ist der Feind des Guten“, sagte schon Voltaire.

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Eindimensionales Denken, eindimensionale Gesellschaft, eindimensionaler Mensch: Herbert Marcuses Ideologie- und Gesellschaftskritik

Nach der Beschreibung der Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels möchte ich nun die Ideologiekritik von Herbert Marcuse*, einem Vertreter sehenden Kritischen Theorie (Frankfurter Schule), die sich in marxistischer Tradition seieht, diesen jedoch für erneuern und aktualisieren möchte, darstellen.

Stellenwert der Ideologiekritik und Verständnis von Ideologie in der Kritischen Theorie

Das Ideologieverständnis der Kritischen Theorie steht zwar in der Marxschen Tradition. Aber, so ihre Vertreter, die Totalität des Spätkapitalismus (oder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft) besetze das Bewusstsein der Individuen so stark, dass die Differenz und Trennung von Basis/ gesellschaftlicher Realität und ideologischem Überbau (sowie von Individuum und Gesellschaft) des klassischen Marxismus zunehmend relativiert werde. Deshalb werde die Kritik des Überbaus in der Gesellschaftskritik wichtiger, der geistige Bereich  müsse von der drohenden Absorbierung durch die materielle Wirklichkeit gerettet werden und bisherige Kategorien des Marxismusreichten nicht mehr aus.

Ziel ist für die Kritische Theorie eine Gesellschaft, in der Sein und Bewusstsein nicht mehr getrennt sind. In dieser Gesellschaft gibt es außerdem eine „Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des ‘Kampfs ums Dasein'” (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 263). Gegensatz dazu ist ideologisches, „positives“ Denken – solches Denken, das Tatsachen einfach als gegeben akzeptiert und die Möglichkeit oder Notwendigkeit ihrer Veränderung nicht in Betracht zieht.

Eindimensionalität als Ideologie der Industriegesellschaften

Das Verhältnis zwischen Ideologie und Realität ist bei Marcuse eine historische Relation und also veränderbar. Dasein ist für ihn in seinen Frühwerken stets schon material und geistig, ökonomisch und ideologisch zugleich, ideales Sein, auf materialem fundiert (Überbau-Basis).

Der marxistische Bergriff des ideologischen als falschen Bewusstseins nun schiene, so Marcuse, auf die hoch entwickelte Industriegesellschaft nicht mehr anwendbar: diese habe ihre Ideologie in die Realität politischer Institutionen umgesetzt. Man könne nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, das Bewusstsein werde vom gesellschaftlichen System absorbiert. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft kann (dank Überflusses durch die Technologie) Konflikte dadurch vermeiden, dass sie all die assimiliert, die in früheren Gesellschaftsformen Kräfte des Nonkonformismus darstellten. Freiheit von Mangel wird zur Stütze der Herstellung von Abhängigkeit und der Verewigung von Herrschaft, der Konsum befriedigt materielle Bedürfnisse und stellt Identifikation mit dem bestehenden System her.

Unter dem Einfluß des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, der Größe und der Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates und des steigenden Lebensstandards zerbricht die politische Opposition gegen die fundamentalen Institutionen der alten Gesellschaft und wird zur Opposition innerhalb der akzeptierten Bedingungen (…) Errungenschaften (…) und die Integration der Gegensätze (…) fördern die materielle und geistige Stabilisierung (…) Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimese: eine unmittelbare Identifizierung des einzelnen mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als Ganzem“. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“, S. 321, 323, 334)

So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. (…) Der heutige Kampf gegen diese geschichtliche Alternative findet eine feste Massenbasis in der unterworfenen Bevölkerung und seine Ideologie in der strengen Orientierung von Denken und Verhalten am gegebenen Universum von Tatsachen.  (Marcuse: Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, S. 32, 36)

(…) in den fortgeschrittensten Bereichen der Industriegesellschaft ist heute sogar bei den ,Benachteiligten’ eine ,innere’ Identifizierung mit dem System vorhanden, ein positives Denken und Handeln (Marcuse: Ideologieproblem, S. 326)

Widersprucht erscheint dabei irrational und Widerstand unmöglich (vgl.: Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 29). Sowohl materiell als auch ideologisch seien die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten, in das System integriert, weshalb das Proletariat sich nicht mehr qualitativ von anderen Klassen unterscheide und keine qualitativ andere Gesellschaft schaffen könne. Jedoch existierten immer noch Menschen, deren Opposition, wenn auch nicht ihr Bewusstsein, revolutionär sei. Denn ein von äußeren Umständen unterschiedliches individuelles Bewusstsein, schrumpfe, und der Verlust dieser inneren Dimension sei das ideologische Gegenstück zum materiellen Vorgang, in welchem die Industriegesellschaft Opposition eindämme. Ideologie, Herrschaft, Verwaltung, Wirtschaft, Technologie und Produktionsprozess sind miteinander verflochten und als verdinglichtes System Instrumente zur Beherrschung von Natur und Menschen. Die heutige Realität eines angeblichen Pluralismus sei ideologisch, da die herrschenden Mächte das gemeinsame Interesse der Bekämpfung historischer Alternativen (zu dieser heute bestehenden Gesellschaft) hätten.

Technologische Rationalität als Herrschaftsrationalität

Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit zu beseitigen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 14)

Die Ideologie der hoch entwickelten Industriekultur (die ideologischer als ihre Vorgänger sei) sei im Produktionsprozess selbst zu finden. Für Marcuse sind im Gegensatz zu Marx die Produktionsverhältnisse nicht die das gesellschaftliche Leben bestimmende Basis. War bei Marx die Kritik der Ideologie Kritik der Abhebung der Philosophie von der sozioökonomischen Realität, sieht Marcuse die Ideologie des herrschenden Bewusstseins im Denken in technologischer Rationalität und seiner Beschränkung auf die bestehende Welt.

Von Marx Unterscheidung der konketen und abstrakten Arbeit kommend, sagt Marcuse, wie in der abstrakte Arbeit Menschen nach quantifizierbaren Qualitäten verbunden werden (als Einheiten abstrakter Arbeitskraft), so hätten sich diese abstrakten Kategorien in wissenschaftliches und technisches Denken übertragen: Abstraktion von Konkretem, Quantifizierung der Qualitäten. Die heutige positivistische Wissenschaft befreie die Natur von allen Zwecken, die Materie von allen Qualitäten. Im Vordergrund stehen Operationalisierbarkeit, praktische Verwertbarkeit. Diese „wissenschaftliche Rationalität“ ist wertfrei, sie setzt keine Zwecke fest, ist ihnen gegenüber neutral. Die technologische Rationalität sieht Natur und Menschen nur noch als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation, als Mittel an sich und hat einen zutiefst instrumentalischen Charakter (“technologisches Apriori”). Die Beherrschung der Natur sei mit Beherrschung des Menschen verbunden; Mensch und Natur werden zu ersetzbaren Objekten. (Marcuse setzt hier eine Analogie zur formalen Rationalität Max Webers: Rationalität der angewendeten Mittel für beliebige Zwecke. Die technologische Rationalität sei zweckrationales Handeln.) Marcuse kritisiert, dass diese Art von Wissenschaft die Realität nicht mehr „transzendiere“: qualitativ andere Sichtweisen, neue Beziehungen Mensch-Mensch und Mensch-Natur werden nicht ins Auge gefasst, es herrscht eine Beschränkung der technologischen Rationalität auf Bestehendes.

Dadurch, dass die Technologie indifferent gegenüber jeglichen (Produktions-) Zwecken ist, wird die gesellschaftliche Produktionsweise bestimmend. Der Logos der Technik wird zum Logos der Herrschaft. Technologie erscheint selbst als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft.  Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung stabilisiert das gesellschaftliche System und legitimiert die Herrschaftsbeziehungen. Sie ist statisch und konservativ. Bürokratie und Technologie werden selbst zu Herrschaftsinstanzen, Herrschaft erweitert sich als Technologie. Die Organisation der Gesellschaft erfolgt nun unter den Erfordernissen der Beherrschung. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen und scheinbar objektiven, verdinglichteten System. Sprache, Libido, Wohlfahrt und Arbeit werden zu Instrumenten totaler Herrschaft (über die Natur und über Menschen). Unfreiheit erscheint als Unterwerfung unter technischen Apparat. Und der technologische Apparat legt sozial notwendige Bedürfnisse, Fähigkeiten und Haltungen fest und bilde Formern von sozialer Kontrolle und sozialem Zusammenhalt,. Er zwingt der materiellen und geistigen Kultur seine wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf. Seine Produkte manipulierten, fördern ein falsches Bewusstsein und binden die Konsumenten an die Produzenten.

Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfut am Main 1969, Seite 9.)

Horkheimer und Adorno entwicklen in der “Dialektik der Aufklärung”, einer der wichtigsten Schriften der Kritischen Theorie, eine ganz ähnliche Kritik der Rolle der technologischen Rationalität, einer Zweckrationalität, die keine Qualitäten, keine Zwecke und keine Ziele mehr kennt.

Darin aber, dass nicht erst die kapitalistische Anwendung der Technik Herrschaft, sondern Technik selbst Herrschaft sei, widerspricht die Kritische Theorie klar Marx: Wissenschaft und Technik können für diesen auch für andere als kapitalistische Zwecke verwendet werden, die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit erst lässt diese zu Instrumenten der Ausbeutung und Herrschaft werden, sie seien an sich neutral.

Statt Entfremdung: die Menschen “identifizieren sich mit ihren Produkten”

Der Mechanismus, der das Individuum mit seiner Gesellschaft verbindet, habe sich verändert, da die soziale Kontrolle nun in den neuen Bedürfnissen, die sie hervorgebracht hat, verankert sei. Die Bedürfnisse (die im klassischen Marxismus Maßstab und nicht Gegenstand der Kritik waren) werden manipuliert, politisch-wirtschaftliche Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu individuellen Bedürfnissen, repressive Bedürfnisse dienen der Erhaltung und Ausdehnung des Systems und der Verewigung des Kampfs ums Dasein.

Und der klassische Marxsche Begriff der Entfremdung erschiene fragwürdig, da die Menschen sich nun in ihren Gütern erkennen und mit ihrer Existenz identifizieren. Das entfremdete Subjekt werde von seiner entfremdeten Existenz „verschlungen“, und das Bewusstsein werde zum glücklichen Bewusstsein, dass auch Untaten der Gesellschaft mit dem Glauben an die Vernünftigkeit des Wirklichen hinnimmt – dies sei der produktive Überbau über der Basis der Gesellschaft. Die Subjekt-Objekt-Differenz ist aufgehoben oder irrelevant, die Differenz von gesellschaftlicher Basis und Überbau (im Medium der Machbarkeit) ausgelöscht und die Aussage Marxens, dass das gesellschaftlich-materielle Sein das Bewusstsein bestimmt, ist nicht länger sinnvoll.

Eindimensionalität in Sprache, Kultur und Philosophie

Die kritische Theorie hat sich als „Theorie des Überbaus“ gegen eine Sicht, die in Kultur und Philosophie nur einen passiven Reflex der ökonomisch-technischen Entwicklung, bloße Ideologie, sieht, gewandt. Die „affirmative Kultur“ der bürgerlichen Epoche habe dazu geführt, die geistig-seelische Welt als selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen, die Kultur bejahe und verdecke die neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen; der Wandel sei durch den veränderten Charakter der Klassenverhältnisse verursacht.

In Sprache und Denken würde nur noch die empirische Dimension bestehen. Die transzendentale, über das Bestehendehinausgehende, die oppositionelle, “negative” Dimension wird ausgeblendet. Widerspruch gegen Bestehendes erscheint nun irrational, es entsteht eindimensionales Denken und Verhalten. Bei der „eindimensionale Kultur“, wurden deren transzendente Elemente, die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, geschmälert und sie wurde kommerzialisiert. Es gäbe Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlich-philosophischen und gesellschaftlichen Vorgängen, der soziale Kampf gegen historische Alternativen finde seine Ideologie in der Eindimensionalität, der starren Ausrichtung von Denken und Handeln an gegebenen Tatsachen und Möglichkeiten, der empiristischen Bewegung in den Sozialwissenschaften und dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, die die transzendenten, negativen Elemente der Vernunft verneinen. Sie seien das akademische Gegenstück zum sozial notwendigen Verhalten und hätten ideologischen Charakter. Stärke der Philosophie zeigt sich bei Marcuse im Gegensatz zu Marx in ihrer Loslösung vom Konkreten und unmittelbar gegebenen und der Entgegensetzung des Reiches der Möglichkeit, sie ist also gewissermaßen „Utopie“. Sie wirke auch teilweise ideologisch, da abstrakt, spekulativ und von einer Position außerhalb der Gesellschaft.

Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Marcuse: Der Eindimensionale Mensch, S. 268.)

Zusammenfassung

Marcuse, der sich und die Kritische Theorie in der Marxschen Tradition versteht und diese für seine Zeit anwendbar machen wollte, benutzt viele von Marxens Gedanken und Begriffen, doch er passt sie an seine Zeit an. Daher gibt es Unterschiede zu Marx. Die Trennung von Basis und Überbau von Marx wird zunehmend nebensächlich, man kann nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, da das Bewusstsein vom gesellschaftlichen System absorbiert werde. Marx kritisierte die Abgehobenheit der seinerzeitigen deutschen Philosophie von der Realität, aber aufgrund dieser geänderten Realität sieht Marcuse die Aufgabe der Philosophie, die bestehende Realität zu überschreiten, eine zweite, negative, utopische Dimension zu besetzen und die Eindimensionalität der gegnwärtigen Philosophie, der gegenwärtigen Wissenschaft, der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuheben. Er sieht Eindimensionalität in Denken und Handeln als die Ideologie seiner Zeit.

Die Ideologie erscheint bei Marcuse ungemein totaler und umfassender als bei Marx. Die Menschen werden von einer totalen Technokratie im Interesse der Aufrechterhaltung von Herrschaft manipuliert, Opposition wird in das System integriert (so die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten). Ideologie, Verwaltung, Wirtschaft, Sprache, Technologie sind zusammenhängende Instrumente der Beherrschung. Menschen erkennen sich in ihren Gütern, der Entfremdungsbegriff ist so nicht mehr zeitgemäß. Bedürfnisse können manipuliert und müssen hinterfragt werden, sie können der Herrschaft dienen. Ein großer Unterschied zu Marx ist außerdem, dass Marcuse technologische Rationalität als Logik der Herrschaft sieht und die Ideologie im Produktionsprozess. Marx sah dagegen in den Produktionsverhältnissen die das gesellschaftliche und das geistige Leben bestimmende Basis,  und er betonte die Neutralität der Technik.

Marcuses Betrachtung der Industriegesellschaften und ihrer Ideologie wirkt sicher drastisch, verstörend, desillusionierend und seine Beschreibung ist sicherlich auch überzogen, griff jedoch damals existierende und meiner Meinung nach noch existierende Tendenzen auf und veranschaulichte ihre Gefahren. Sein Verdienst ist im Hinblick auf die Ideologiefrage besonders, gezeigt zu haben, wie die heutigen Gesellschaften frühere oppositionelle Kräfte integriert hat, die nun zu glühenden Verfechtern des Systems geworden sind, und wie die heutige Gesellschaft jegliche Kritik des bestehenden Systems und jegliche Konzeption von Alternativen als “unrealistisch”, “utopisch”, gar als “unmöglich” brandmarkt.

Quelle: www.marcuse.org/herbert/booksabout.htm (Marcuse family, represented by Harold Marcuse unter creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

*: Marcuse liefert diese v. a. in den folgenden Werken, aus denen auch die Zitate stammen:

Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (hier zitiert nach: Neuwied und Berlin 1967, Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand, September 1970).

“Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft”, aus: Paper: Fifth World Congress of Sociology, Washington D. C. 1962, in: Lenk, Kurt (Hrsg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenssoziologie, herausgegeben und eingeleitet von Kurt Lenk, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 320 – 341.

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Das Sein bestimmt das Bewusstsein: die Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels

„Nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.“ (Aristoteles zugeschrieben)

Ist unser Denken wirklich frei? Von wem ist es beeinflusst? Können wir unser Denken und uns selbst befreien? Diese Fragen sind grundlegende Fragen der menschlichen Existenz, doch auch und v. a. der gesellschaftlichen Realität, seit Karl Marx sagte, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein bestimmt. Ist unsere “freiheitliche” Gesellschaft wirklich freiheitlich für alle Menschen? Warum wird eine andere Gesellschaftsform kaum diskutiert, geschweige denn gewünscht?

Dies sind ein paar grundsäzliche Fragen der Ideologiekritik, und ich möchte hier darstellen, was diese bedeutet anhand des Beispiels, wie Karl Marx als der Begründer der Ideologiekritik diese Fragen beantwortet hat.

(In einem folgenden Beitrag möchte ich dann betrachten, wie die Kritische Theorie, die den Marxismus erneuern will, so dass er für die heutigen Gesellschaften anwendbar ist, dies sieht und welche “Aktualisierungen” der klassischen Marxschen Theorie sie hier vorgenommen hat. Als Beispiel soll dann Herbert Marcuse mit seiner Kritik der Eindimensionalität dienen).

Ideologiekritik und Materialismus

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um: Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten.

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Oberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, 1859, MEW 13, S. 7-11.)

Die Kritik des Bestehenden begann bei Karl Marx und Friedrich Engels als Kritik des Bewusstseins. Erst Marx und  Engels haben „Ideologie“ zu einer politischen Theorie ausgebaut, und diese durchzieht ihr Werk. Die Lehre von der Ideologie ist also auch eines der wichtigsten Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung, die Erkenntnis der Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins der Menschen in ihrem Bewusstsein eine ihrer zentralen Aussagen. Auch wenn die Voraussagen des historischen Materialismus sich als falsch erwiesen haben, kann doch die Ideologiekritik als philosophische Idee durchaus weiter existieren.

Wurzeln des Ideologiebegriffs von Marx und Engels sind Kritik an Hegels  Philosophie, v. a. seiner Staatsphilosophie (die Hegelsche Vorstellung von Geschichte als Werk von Ideen ist für Marx Verkehrung im Bewusstsein der deutschen Ideologen als theoretischer Ausdruck der Verselbstständigung der Waren; Menschen sind für Marx der alleinige Träger der historischen Entwicklung), an Feuerbachs Anthropologie und an der klassischen Nationalökonomie (etwa Adam Smith oder David Ricardo). Die Geschichte der Philosophie habe sich laut Engels durch die Erkenntnisse von Marx und ihm weitgehend als Geschichte der Ideologie erwiesen.

Bewusstsein als gesellschaftliches Produkt

Das Bewusstsein des Menschen ist bei ihnen von vornherein gesellschaftliches Produkt. Ideologien sind falsches Bewusstsein im Sinne gesellschaftlich notwendigen Scheins, können nicht bewusst inszeniert werden und sind – da gesellschaftlich erzeugt -notwendiger Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse.

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Position, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp, aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung der Produktivkräfte (…) Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera Obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“. (Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie – Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 1845-1846.)

Entfemdung, Verdinglichung und Warenfetischismus

Entfremdung ist eine für den Produzenten von Waren, den Arbeiter, als unterjochende Herrschaft der Waren, seiner vergegenständlichten Arbeit, fühl- und erfahrbare Erscheinung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und -bedingungen. Durch industrielle Produktion und Arbeitsteilung habe die Arbeit für den Proletarier jeden selbstständigen Charakter verloren, er werde „Zubehör der Maschine“, „Arbeitsinstrument“ und produziere eine ihm fremde, ihn aber beherrschende Macht.

Warenfetischismus als wesentliches Element der Entfremdung bedeutet eine Verzerrung von Subjekt und Objekt, die Herrschaft der Produkte über den Produzenten: gesellschaftliche Phänomene verselbstständigen sich von ihren Entstehungsbedingungen („Verdinglichung“, „Versachlichung“). Diese erscheinen als allgemeingültig. Die Produkte der menschlichen Arbeit werden nur noch im Tauschwert (der sich im Preis ausdrückt), nicht mehr im Gebrauchswert (der Nützlichkeit) der Dinge erfahren, und dies hat Auswirkungen auf das Bewusstsein. Arbeitsprodukte, Dinge erhalten als Waren eine gesellschaftliche Beschaffenheit. Die Ware spiegelt den Menschen die gesellschaftlichen Eigenschaften ihrer eigenen Arbeit als Eigenschaften des Arbeitsprodukts selber, als natürliche Eigenschaften dieser wider.

Ideologie als falsches Bewusstsein

Sozusagen Gegenstück zu der ökonomischen Entfremdung (als totales Fremdsein von sich selbst, Mitmenschen, Arbeit, Natur, Gesellschaft und Transzendenz) sind „ideologische Nebelbildungen“ scheinbar ewiger Ideen (die auch zu selbstständigen Mächten verdinglicht werden) und Prinzipien. Produkte des menschlichen Geistes scheinen mit eigenem Leben ausgestattete selbstständige Gestalten. Wirklichkeit wurde und wird bei  Marx und Engels (unbewusst) verzerrt widergespiegelt. Die Basis des Kapitalismus reproduziert sich, die Bewusstseinsprozesse überwinden den Rahmen der Gesellschaft nicht und werden bürgerliches Bewusstsein. Ideologie ist mit Lage und Interessen der herrschenden Klassen verknüpft, sie stützt deren Macht und lähmt die politische Kraft derer, die sie über ihre Lebensverhältnisse täuscht.

Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker Vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. (Aus einem Brief von Friedrich Engels an Frank Mehring.)

Während in den Frühschriften von Marx Ideologien von aller Realität losgelöste metaphysische Gedanken sind, sind sie in den ökonomischen Schriften mit falschem, der (ökonomischen) Wirklichkeit nicht entsprechendem Bewusstsein identisch  (idealistisch-spekulatives als Grundzug bürgerlichen Denkens sei Ideologie). Im Historischen Materialismus hat ideologisches Bewusstsein eine Tendenz, gegenüber dem materiellen Unterbau selbstständig zu werden und durch einen Rückkopplungsprozess das gesellschaftliche Sein wiederum zu bestimmen.

… es kommt aber darauf an, sie zu verändern

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. (Karl Marx: Thesen über Feuerbach., 1845, MEW 3, S. 7.)

Die (ideologischen) Philosophen der Vergangenheit hatten die materiale Basis ihrer Ideologie nicht erkannt. Es soll dagegen bei der  Ideologiekritik von Marx und Engels nicht nur bei Erkenntnis des falschen Bewusstseins bleiben – die gesellschaftlichen Ursachen sollen angetastet werden. Ideologiekritik und Basis-Überbau-Konstruktion sind in ein politisches Programm eingebunden.

Über Stärken und Schwächen dieses politischen Programms zu sprechen, ist ein anderes Thema. Fest steht, dass  Karl Marx und Friedrich Engels mit dem historischen Materialismus und seiner Aussage, dass das Sein das Bewusstsein bestimt, die Philosophie revolutioniert haben. Um das zuzugestehen, muss man kein orthodoxer Marxist sein.

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Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: nichts als ein paar Beruhigungspillen

Die Bildungsminister der Bundesländer haben gestern mit den deutschen Hochschulrektoren als Reaktion auf die seit Wochen unter dem Begriff “Bildungsstreik” laufenden Studentenproteste einige wenige kleine Verbesserungen an den Bachelor-Studiengängen zugesagt, die restlichen Forderung nach Aufhebung der vielen Defizite im deutschen Bildungssystem aber unangetastet gelassen.

Dauer des Bachelor-Studiums: Ein Bachelor-Studium darf zukünftig anstatt höchstens sechs  nun bis zu acht Semester dauern. Eigentlich eine gute Sache. Der Witz an dieser Sache aber, der diese mindestens als eine Mogelpackung offenbart (in anderen Bereichen würde man wohl von arglistiger Täuschung sprechen) ist aber, dass Bachelor und Master weiterhin auf eine Dauer von höchstens zehn Semestern beschränkt bleiben. Der Master müsste also bei einem achtsemestrigen Bachelor in zwei Semestern gemacht werden, womit alle Vorteile, die man sich auf den ersten Blick erhofft hat, schnell verpufft sind und sich ins Gegenteil verkehrt haben. So viel Dreistigkeit muss man erstmal haben, dies als Erfolg zu verkaufen. Aber die haben sich unsere für die Bildungspolitik zuständigen Politiker ja in jahrelangen Parteikarrieren antrainiert.

Weiterhin Beschränkung des Masters: Der Zugang zum Masterstudium soll auch weiterhin nicht für alle Bachelor-Absolventen möglich sein. Den einzelnen Hochschulen bleibt es  selbst überlassen, ob sie dort Hürden konstruieren. Denn der Bologna-Prozess wird in seinem Wesen nicht angetastet, und Ziel des Bologna-Prozesses ist nun einmal, viele billige Schmalspustudiumsabsolventen mit einem auf die Verwertbarkeit für die Privatwirtschaft zugeschnittenen Studium einerseits und einige wenige “Eliten” andererseits zu produzieren.

Reduzierung der Arbeitsbelastung und der Prüfungslast: Die Arbeitsbelastungen des Studiums, die in den Bachelor-Master-Studiengängen penibel zugeteilt ist (die “Leistungsgesellschaft” duldet nun mal keine “Bummelstudenten”) soll von derzeit 40 Wochenstunden und 46 Wochen pro Jahr auf 32-39 Wochenstunden in 46 Wochen pro Jahr reduziert werden. Diese Arbeitsbelastung, die durchschnittlich berechnet und mit zweifelhaften Methoden geschätzt wird, sei “als Richtschnur” nun “vertretbar”. Zu großzügig! Und nicht mehr wie bisher nach jeder einzelnen Veranstaltung wird nun zwingend eine Prüfung geschrieben (an alle, die noch in den Genuss eines Magister- oder Diplom-Studiums kamen oder kommen: das ist kein Scherz!), sondern “nur noch” nach jedem Modul (in disen sind oft 2 oder 3 Veranstaltungen zusammengefasst). “Überzählige Prüfungen” sollen so abgeschafft werden. Ja, richtig gehört, es brauchte wirklich erst Proteste, um überflüssige, also unnötige und nur mehr Arbeitsaufwand für Studierende wie Lehrende produzierende Prüfungen abzuschaffen.

Leichtere Anerkennbarkeit von Leistungen: Der einzige wirkliche Fortschritt ist wohl, dass bei einem Hochschulwechsel (an andere Unis, in andere Bundesländer und ins Ausland) die Püfungsleistungen endlich leichter anerkannt werden. Diese größere Internationalisierbarkeit des Studiums war der vorgeschobene Grund für den Bologna-Prozess, und nicht einmal unsere Bildungspolitiker wären so unklug, nicht wenigstens diese Fassade vor den wahren Interessen hinter diesem Prozess nicht zerfallen zu lassen.

Das war alles. Wirklich. Alles. Das. Alle anderen Forderungen der zehntausenden protestierenden und streikenden Schülern und Studierenden, die Forderungen der Lehrenden, die von Gewerkschaften (wie z.B. der GEW) und politischen Gruppierungen wurden mit keinem Deut bedacht.

Weiterhin soziale Selektivität, weiterhin Unterfinanzierung: Die zahlreichen gezielt gesetzten sozialen Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems sollen nach dem Willen der Kultusminister weiterhin Bestand haben. Die Frage der Studiengebühren und der Erhöhung des BAföG-Satzes wurden nicht angesprochen.  Und es  steht keine Aufhebung der Unterfinanzierung des deutschen Bildungssstems  in Aussicht. (Der Anteil der Bildungsausgaben ist im letzten Jahr noch gesunken, und Deutschland steht hier  in der OECD auf dem drittletzten Platz  – ebenso bei der Anzahl von Hochschul-Zugängern, bei den Absolventen steht es auf dem viertletzten.) Das Geld wird ja jetzt für die Hoteliers gebraucht.

Für die Privatwirtschaft, wie die Privatwirtschaft: Die Demokratisierung der Hochschule wird nicht vorangetrieben, im Gegenteil: die an vielen Hochschulen begonnene Umwandlung zu einer autoritären und hierarchischen “Führung” nach dem Vorbild der Privatwirtschaft geht weiter, ebenso die stärkere Orientierung der Hoschulen an den Gewinninteressen der Privatwirtschaft. Der Bologna-Prozess wird bedingungslos befürwortet.

Keine Verbesserung für die Schulen: Die deutschen Schulen verbleiben in der selben Lage wie vorher. Forderungen wie die einer Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems und des Abiturs nach 12 Jahren finden, wie es zu erwarten war, noch nicht einmal eine Erwähnung, geschweige denn eine Unterstützung.

Nur eine Beruhigungspille: Insgesamt muss man sagen, dass das Papier der Kultusminister mit den zugesagten Verbesserungen nicht viel mehr als eine Beruhigungspille, die aus dem Arzneischrank der Kultusminister gezaubert wurde, wie der Freitag schreibt, darstellt. Schaufensterpolitik, Schaumschlägerei, es gibt viele Begriffe dafür. Nur ein paar kleine Verbesserungen auschließlich am Bachelor-Studiengang, die den Bologna-Prozess  insgesamt unangetastet lassen und alle anderen Probleme der Bildungspolitik ausblenden, zeugen mindestens von einer grotesken Kurzsichtigkeit. Man könnte auch unterstellen, dass weitere Veränderungen gar nicht gewollt sind. Wie viel davon und wie schnell das ganze überhaupt umgesetzt wird, bleibt überdies in vielen Fällen unklar. Schließlich, so der baden-württembergische Wissenschaftsminister Frankenberg, funktioniere die Umsetzung solcher Beschlüsse auch “nicht in allen Fällen von heute auf morgen”.

“Jetzt ist doch auch mal gut!”: So kann man der medialen Öffentlichkeit ein angebliches Eingehen auf viele Forderungen der Schüler und Studenten vorgaukeln, ohne in Wahrheit allzu viel zu ändern. “Jetzt muss aber endlich mal Schluss sein mit diesen Protesten!!” ist die Reaktion, die erzeugt werden soll (und ja auch von KMK und HRK geäußert wurde). Mit diesen Maßnahmen wird Deutschland nicht die propagierte Bildungsrepublik, sondern weiterhin den anderen Industriestaaten hinterherhinken. Und ein weiteres Absinken ist wohl vorprogrammiert.

Die Proteste müssen weitergehen: Der Blick der Protestierenden nun muss klar sein, um zu erkennen, was ihnen da verkauft wird – und dass man sich damit, mit nur ein paar Beruhigunspillen, nicht abspeisen lassen kann. Eine echte Veränderung des deutschen Bildungssystems bleibt genauso so notwendig wie sie es vorher war.

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