Eine Schlappe für die Bundesregierung – aber auch für rot-rot-grüne Optionen

Christian Wulff ist im dritten Wahlgang zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden. Doch so schön die “Klatsche” für die Regierung durch die Nichtwahl im ersten und zweiten Wahlgang sein mag: in Wirklichkeit hat die Opposition kaum etwas gewonnen. Die Ereignisse um die Wahl werden schon bald wieder in Vergessenheit geraten. Dafür aber haben die rechten Flügel von SPD und Grünen die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Opposition von links schwerer gemacht, wenn nicht unmöglich – und das durchaus gezielt. Die Partei Die Linke hat (zumindest in den Augen der Öffentlichkeit) die Chance versäumt, Wulff als Bundespräsidenten zu verhindern und sich klar von der DDR zu distanzieren. Die Vorgänge um die Bundespräsidentenwahl bedeuten also 1. den Sieg der Parteitaktierer und 2. einen Erfolg der wirtschaftsliberalen Kräfte bei SPD und Grünen gegen diejenigen, die für eine soziale Politik eintreten.

Von den Unions- und FDP-Abgeordneten stimmten durhaus überraschend viele Delegierte nicht für Christian Wulff. Diese “Abweichler” sind aber wohl nur zu einem geringen Teil der klägliche Rest von Politikern, die Überzeugungen vor Parteitaktik stellen. Der größere Teil werden solche gewesen sein, die mit der Bundesregierung aus den unterschiedlichsten Gründen unzufrieden waren und ihr einen Denkzettel verpassen wollten. Dieser sollte aber nicht so weit gehen, ihr wirklichen Schaden zuzufügen, und so haben sie sich dann anscheinend doch recht bereitwillig “disziplinieren” lassen und die Zahl der Stimmen für Wulff kontinuierlich zugenommen. Die Parteipolitik hat wieder einmal gesiegt.

Gesiegt haben ebenso die rechten, d.h. vor allem konserativen und wirtschaftsliberalen Politiker bei SPD und Grünen. Diese haben ihr Hauptziel, das ihnen noch wichtiger war als die Destabilisierung der Regierungskoalition, erreicht: die Diffamierung der Partei Die Linke und die Schmälerung der Chancen auf Rot-Rot-Grün. Ihnen ist es gelungen, denen, für die sie Politik machen, zu signalisieren, dass sie an “Bürgerlichkeit” der Union und der FDP in nichts nachstehen und dass sie v.a. nicht gewillt sind, einen fundamentalen Politikwechsel vorzunehmen. Der Wegweiser ist derselbe, und er zeigt klar in Richtung Wirtschaftsliberalismus, Deregulierung und Sozialabbau. Eine linke Politik soll mit allen Mitteln verhindert werden, und dafür wird sogar die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten verwendet. Und sie haben es sogar geschafft, dass andere Teile ihrer Parteien in der Öffentlichkeit mitziehen. Denn wenn SPD und Grüne nun pauschal der Linken die Schuld an Gaucks Nichtwahl zuweisen, ist der nur allzu offensichtliche Plan der Konservativen und Neoliberalen außerhalb von Union und FDP aufgegangen. Ein wirklich linker Politikwechsel wäre nur mit rot-rot-grün möglich gewesen, und das ist nun zumindest für die absehbare Zeit kaum durchführbar. Diese Chance wurde gezielt verbaut.

Können sich freuen: eine linke Politik ist in der nächsten Zeit kaum möglich.

Dabei wurden von ihnen gezielt Gruppendynamik und Parteikadavergehorsam instrumentalisiert: Denn die selben Parteipolitiker, die Gauck in den letzten Wochen so hochjubelten, hätten ihn als Kandidaten von Schwarz-Gelb natürlich ebenso entschieden abgelehnt. Die gespielte emotionale Empörung angesichts dessen, dass ihn die Partei Die Linke nicht wählte, ist nicht sehr überzeugend. Gauck war nie ein politisch linker Kandidat und seine Äußerungen zur Linken nach seiner Nominierung erweckten nicht den Eindruck, dass man die Stimmen dieser Partei auch nur irgendwie haben wollte. Im Gegenteil: SPD und Grüne hätten wohl kaum einen Kandidaten finden können, der weniger für eine linke Politik steht und den die Partei Die Linke eher angelehnt hätte.

Das Verhalten der Partei Die Linke ist also teilweise durchaus nachvollziehbar, wenn auch nicht taktisch das Klügste. Man hätte hier die Chance gehabt, alles Stasi-Gerede der Mainstream-Journaille Lügen zu strafen und Schwarz-Gelb empfindlicher zu treffen, als es jetzt der Fall ist. Den ganzen Wahltag über waren folglich, und es wird die nächsten Tage sicher zunehmen, die vorhersagbaren und sicher gut eingeübten Statements zu hören, die die Presse natürlich nur um so lieber verstärkt: Die Linke ist nicht in der Demokratie angekommen, sie ist nicht regierungsfähig. Dieser Eindruck wird sich natürlich durch die mediale Indoktrination auch auf die Bevölkerung ausbreiten und die Zustimmung zu der Linken als auch zu rot-rot-grünen Koalitionen senken – auch wenn inhaltlich immer noch viele Ziele von einer Mehrheit geteilt werden mögen.

Und daran ist die Linke auch nicht ganz unschuldig, das muss man wohl festhalten. Zumindest im letzten Wahlgang wäre Gauck sicher das “geringere Übel” als Wulff gewesen: Wulff verkörpert die CDU an sich: er ist konservativ, erz-christlich, neoliberal. Gauck ist das sicher auch alles – aber in einer deutlich gemäßigteren Ausprägung, z.B. ist er ein Schröder-Anhänger. Zudem ist Gauck unabhängig, Wulff ist ein reiner Parteipolitiker, und er tritt entschieden für gesellschaftliche Freiheit und Bürgerrechte ein, was Wulff nicht tut (siehe bspw. Uwe Schünemann). Dies hätte alles dafür gesprochen, Gauck im dritten Wahlgang zu wählen.

Andererseits hätten, sieht man sich den zweiten Wahlgang an, die Stimmen für Gauck auch nicht einmal gereicht, wenn SPD, Grüne und Linke alle Gauck gewählt hätten und die Gauck-Wähler von Union und FDP bei ihrer Stimme geblieben wären. Der Vorwurf, Wulff an die Macht geholfen zu haben, ist also nicht tragbar. Außerdem hätten damit viele Linke ihre Überzeugung verraten und sich unglaubwürdig gemacht.

So oder so: durch eine recht geschickt durchgeführte Taktik der anti-linken (und damit ist nicht die Partei gemeint) Kräfte in SPD, Grünen und Medien konnte die Partei Die Linke nur verlieren, so wie es auch Anhänger von rot-rot-grünen Kooperationen nur konnten. Bei den Seeheimern werden somit nun sicherlich die Korken knallen, trotz der Wiederwahl von Wulff. Die Politik in Deutschland wird weiter in eine neoliberale Richtung gehen, dafür ist nun gesorgt.

Nachtrag:

Am Mittwoch Abend bei Hart sagte Hans-Ulrich Jörges, er hätte aus der Linken gehört, dass diese Gauck gewählt hätte,  wenn ihre Stimmen gereicht hätten, durch diese Wulff zu verhindern. Spon berichtet am Donnerstag über Reaktionen aus der Linken und der SPD, u.a.:

Obwohl sich die SPD in der Öffentlichkeit lautstark über das Verhalten der Linken beschwert, sind hinter vorgehaltener Hand auch andere Kommentare zu hören: Viele Sozialdemokraten verbuchen es als taktischen Erfolg, dass sie mit dem Kandidaten Gauck nicht nur Unfrieden in der Koalition geschürt, sondern auch die Linkspartei gezwungen haben, sich von SPD und Grünen zu distanzieren.

Links zum Thema:

Viele Verlierer (Der Freitag)

Die Bundespräsidentenwahl – Ein Lehrstück (Oeffinger Freidenker)

Erosion einer Regierung (binsenbrenner.de)

Bundespräsidentenwahl ohne Gewinner (blogsgesang)

Die Meta-Politik-Show (NachDenkSeiten)

Bildquellen:

Picasa (Angelia2041) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/

Wikimedia (Gabriel, Kahrs,  beide unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/; Scheel, unter http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en)

Flickr (Sebastian Hillig) / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

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Dieses Blog feiert Geburtstag: 1 Jahr Guardian of the Blind

Dieses Blog hat heute Geburtstag! Vor genau einem Jahr erschien der erste Artikel auf Guardian of the Blind. Damals war das Blog noch unter der Adresse guardianoftheblind.wordpress.com zu erreichen. Am 5. April 2010 erschien dann der erste Artikel unter der neuen Adresse guardianoftheblind.de. Für die allzeitige technische Unterstützung möchte ich hier noch einmal Steffen danken!

In dieser Zeit hat sich einiges verändert. Besonders schön finde ich, dass wir in der politischen Blogosphäre nicht mehr nur als Einzelkämpfer dastehen. Besonderen Dank an dieser Stelle an Frank, Matthias, Stefan und Marc! Sei einiger Zeit erscheinen Artikel bzw. Gastbeiträge von mir auch auf binsenbrenner.de, beim Oeffinger Freidenker und bei lowestfrequency und Artikel von ihnen bei mir.

Und natürlich ein Dank an alle Blogs, die Artikel von Guardian of the Blind verlinkt haben (diese wurden in dieser Zeit auch auf größeren Blogs verlinkt wie den NachDenkSeiten, Carta, Duckhome oder der Nightline vom Hessischen Rundfunk und von zwei Zeitungen erwähnt).


Und da ich ein Fan von Statistiken bin, noch mal, wie bereits vor einem halben Jahr, ein kleiner Rückblick:

Artikel: 237

Kommentare: 618

Seitenaufrufe laut WordPress-Stats: 44.345 (Mist, die 44.444 knapp nicht erreicht. 😉 Andere Statistiken weichen davon ziemlich ab, z.B. liegt Statcounter oft ein Viertel darüber, Bloggerei darunter … Naja, so ungefähr halt.)

Meistgelesene Artikel:

1. Kampagne gegen Rot-Rot-Grün in NRW, Tag 1

2. Warum die Globalisierung auch Chancen für die Entwicklungsländer bietet

3. Der neue Wahlomat – schlecht gemacht und tendenziös

4. Dirk Niebel – der schlechteste Bundesminister aller Zeiten?

5. Kampagne gegen Rot-Rot-Grün in NRW, Tag 3-7

6. Kampagne gegen Rot-Rot-Grün in NRW, Tag 2

7. Das Sein bestimmt das Bewusstsein: die Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels

8. Die Philosophie der Stoa – Ethik für das Leben statt Theorie für die Bücher

9. Der Bildungsstreik 2009 und das deutsche Bildungssystem

10. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule: Marx für heute

11. Der Rücktritt Köhlers: eine erste Analyse

Top-Referrer: NachDenkSeiten, Twitter, Oeffinger Freidenker

Top-Suchbegriffe: dirk niebel, globalisierung entwicklungsländer, entwicklungsländer globalisierung

Häufigste Kategorien: Politik, Wissenschaft, Medien

Häufigste Schlagworte (Tags): Politik, Gesellschaft, Medien

Und das wichtigste zum Schluss: Vielen Dank an alle Leser und Kommentatoren! Ohne euch wäre das hier alles nichts! Noch als kleines Quasi-Geburtstagsgeschenk an die Leser ein neues Feature: falls ihr den Feed dieses Blogs lieber über FeedBurner lesen oder ein E-Mail-Abonnement der Beiträge darüber haben möchtet ist dies jetzt möglich, in der rechten Seitenleiste unten. Und vielleicht gibt es nachher noch was Kleines … Falls ihr irgendwelche Anregungen, Vorschläge oder Kritik habt: nur immer raus damit!


Und schließlich noch ein kleines Ständchen:

http://www.youtube.com/watch?v=8nGR9sIgEWE

Guardian of the Blind

Markus Weber

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Dirk Niebel holt uns den WM-Pokal!

Hat er das zweite Gesicht? (Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dirk_Niebel_4.jpg / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Wir sind gerettet! Deutschland muss sich heute abend – na gut – nachmittag im WM-Achtelfinale gegen England keine Sorgen machen – der Sieg ist sowieso sicher. Genauso wie die gesamte Weltmeisterschaft. Deutschland kann gar nicht anders, als sie gewinnen.

Sagt Dirk Niebel. Denn Dirk Niebel kann nicht nur Vetternwirtschaft betreiben, die Entwicklungshilfe senken und selbst seine engsten Freunde brüskieren. Nein, er kann auch in die Zukunft sehen! Deutschland werde Fußball-Weltmeister, prophezeit der hanseatische Spötenkieker mit der coolen vollverspiegelten Sonnenbrille.

Ok, Niebel hat fast sämtliche fähigen Beamten in seine Ministerium durch persönliche Vertraute ohne die geringste Fachkompetenz ersetzt, ja. Ok, Deutschland zahlt dieses Jahr unter Niebel weniger Entwicklungshilfe als vorher zugesagt und das Milleniumsziel der Halbierung der weltweiten Armut ist ihm egal. Sei’s drum! Dafür konzentriert er sich halt auf die wirklich wichtigen Dinge.

Aber warum wird Deutschland nun Weltmeister? Wegen der Mannschaft, die einen ziemlich guten (meist auch Offensiv-) Fußball spielt? Wegen des starken Mittelfeldes und des Torhüters? Weil auch formschwache Stürmer wieder treffen? Wegen der vielen Alternativen, die die Mannschaft in der Hinterhand hat? Oder vielleicht wegen der Fans? Weil in Südafrika jeder von UNS auf dem Platz steht, weil wir jetzt alle Schland sind?

Endlich klare Worte statt hohler Phrasen.

Nö, nicht doch! Is’ viel einfacher: Natürlich wegen der FDP!!! Logisch, warum auch sonst? Schließlich, so Niebel, war immer, wenn Deutschland Weltmeister wurde, die FDP mit an der Bundesregierung beteiligt. Und deshalb muss im Umkehrschluss auch immer, ist doch logisch, wenn die FDP in der Regierung ist, Deutschland Weltmeister werden! Schließlich sind auch alle Menschen Könige, oder wie war das? Na egal, passt schon! Ok, die WM wird jetzt etwas weniger spannend, aber egal. Trotzdem töfte! Jedenfalls haben wir ja nichts mehr zu befürchten! WIR werden ganz sicher Weltmeister! Und dann wird alles gut. Und gerade dieser Bundesregierung können wir ganz sicher vertrauen, dass sie im Soge des Siegestaumels keine unpopulären Gesetze durchbringen wird. Niemals würde sie so was tun!

Und was haben wir nicht sonst noch alles einer FDP-Regierungsbeteiligung zu verdanken? Siege in Wimbledon, Siege beim Grand Prix und blühende Landschaften. Und was gab’s ohne die FDP? Sportliche Misserfolge, Guildo Horn und Terroranschläge. Na toll!

Also, lasst uns alle für Dirk Niebel und die FDP als Zeichen unserer Dankbarkeit und Ehrerbietung mal kräftig in die Vuvuzelas pusten! Danke Dirk! Und lasst uns hoffen, dass die FDP 2014 immer noch an der Macht ist! Meine Stimme haben sie nun jedenfalls!!!!111

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Totale Kontrolle bei Hartz IV?

Von Frank Benedikt

Eines der größten Probleme bei erwerbsfähigen ALG-II-Empfängern ist, neben ihrem für Untätige zu hohen Kalorienverbrauch und ihrem Hang zum Warmduschen, das der Mobilität. Einerseits sind sie nicht mobil genug, um mal eben 600 Kilometer entfernt einen Job anzutreten, andererseits sind sie sehr mobil, wenn es darum geht, Arbeitsgelegenheiten und Terminen auszuweichen. Obwohl ihnen ein mehrtägiges Verlassen der Stadt oder ein Krankenhausaufenthalt ohne Benachrichtigung der zuständigen ARGE untersagt sind,  kommt dies doch immer wieder vor und die Fallmanager klagen darüber, dass sie ihren Kunden hinterherlaufen müssten. Damit dürfte in Kürze Schluss sein.

Wie aus gutunterrichteten Kreisen zu hören ist, haben die Bundesagentur für Arbeit und Apple Inc. in einem bisher einmaligen Beispiel für Private Public Partnership eine revolutionäre Lösung für dieses Problem gefunden – das sogenannte “iHartz”. Dabei handelt es sich um ein tragbares Sende- und Empfangsgerät, das es ermöglicht, per Satellit alle Hartz-Empfänger notfalls auch global zu orten und sie via Backchannel direkt von ihrer jeweiligen ARGE aus anzusprechen. So können sie beispielsweise bei Schneefall direkt zum Schneeschippen in ihrer näheren Umgebung eingesetzt werden. Mag das Ganze auch die zu erwartenden Kritiker, also vor allem Bürger- und Menschenrechtler sowie Datenschützer, zunächst an die “elektronische Fußfessel” erinnern, so dürften auch sie bald die unbestreitbaren Vorteile dieses Systems erkennen; das zuständige Projektteam der Bundesagentur verspricht sich jedenfalls viel davon.

Das Gerät selbst dürfte – nach iPod, iPhone und iPad – ein weiterer Megaerfolg für die findigen Tüftler aus Cupertino werden und ist wie zu erwarten handlich und von schlichtem, ultrastylischem Retrodesign (s. Abb. 1). Apple Inc. rechnet nach Markteinführung in Deutschland mit einem Absatz von rund fünf Millionen Einheiten allein im ersten Jahr. Sollte der VertragsabschluSS zustande kommen, dürften die Apple-Aktien an den Börsen ein weiteres Kursfeuerwerk erleben.

Das “iHartz” wird, abzüglich einer Selbstbeteiligung von 10 Euro, für Bezugsberechtigte in allen ARGE-Shops und -Outlets kostenfrei erhältlich sein. Darüber hinaus soll es als Gratis-Bonus-Package dieses chice Tragetäschchen (s. Abb. 2) geben, genannt “iSack”. Wer sich nun verapplet fühlt, na ja …

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Elitenförderung statt Bildungsrepublik

Freitag letzter Woche hat der Bundestag einige Änderungen am Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und die Einführung eines neuen Stipendienmodells beschlossen. Nicht nur bei der Opposition, auch bei den meisten bildungspolitischen Akteuren stoßen diese Maßnahmen jedoch mindestens auf starke Skepsis, bis hin zu klarer Ablehnung – und dies selbst bei bspw. Stipendiantenguppen. Das deutsche Bildungssystem braucht in Wahrheit ganz andere Veränderungen als die von Union und FDP beschlossenen.


BAföG-Erhöhung: nicht einmal die Inflation ausgeglichen

Ab 1. Oktober sollen die BAföG-Sätze um 2%, die Elternfreibeträge um 3% steigen. Außerdem erfolgen eine Verschiebung der Altershöchstgrenze von 30 auf 35 Jahre und ein paar andere Änderungen (die durchaus zu begrüßen sind). Laut Bildungsministerin Schavan sollen so zukünftig 50.000 bis 60.000 mehr Studierende BAföG erhalten. Der Höchstsatz  steigt auf 670 Euro (einschließlich Krankenversicherungszuschuss). Dies wird insgesamt im Durchschnitt 13 Euro im Monat mehr pro BAföG-Empfänger bedeuten.

Nun ist es immer recht populär, Sätze wie “solche Beträge bewirken ja gar nichts!” zu gebrauchen.  Gerne wird dies natürlich von denen getan, denen 13 Euro pro Monat in der Tat egal sein können – kommt man aber gerade so über die Runden, sind 13 Euro mehr im Monat nun einmal 13 Euro mehr. Und natürlich bedeutet der Gesamtbetrag durchaus einen Fortschritt, wie klein er auch sein mag, und insgesamt sind auch positive wirtschaftliche Aspekte wie die Steigerung der Binnenachfrage (da der Großteil direkt wieder in den Konsum gehen wird) zu erwarten.

Alles gut also? Durchaus nicht. Die BAföG-Erhöhungen erfolgten bisher in einem so niedrigen Bereich, dass die deutschen Studenten in den letzten Jahren in Wahrheit immer weniger Kaufkraft besaßen (vgl. auch den BAföG-Bericht der Bundesregierung, z.B. S. 44) – und diesmal ist es nicht anders, denn man muss die Erhöhung natürlich im Rahmen der Inflation sehen. Tut man dies, merkt man, dass sich die angebliche Erhöhung schnell als Täuschung entpuppt. Schon bei der letzten, längst überfälligen Steigerung des BAföGs 2008 (davor 2001!) wurde noch nicht einmal die Inflation ausgeglichen – und es hatte durch die “kalte Progression” auch noch ein zunehmender Anteil von Studierenden den BAföG-Anspruch verloren (siehe DIW).  Auch die jetzt geplante Erhöhung kann nicht einmal mit der Inflationsrate mithalten . Real gab es also sogar eine Senkung der BAföG-Beträge – nur jetzt wieder etwas weniger stark.

Die GEW hält eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge um zehn Prozent für notwendig, um gestiegene Lebenshaltungskosten auszugleichen und den Anteil der BAföG-Empfänger zu steigern. Dass die tatsächliche Erhöhung aber deutlich niedriger ausfällt kann aber nur bedeuten, dass die Bundesregierung dieses Ziel nicht teilt.

(1)

Dies zeigt wieder einmal, dass eine Kopplung des BAföGs  an die Preissteigerung (Verbraucherpreise) unbedingt notwendig wäre. Zudem verharren die Bildungsausgaben insgesamt immer noch auf einem international sehr niedrigem Niveau. Zu Recht mahnt etwa die OECD immer wieder an, dass Deutschland seine Mittel für diesen Bereich dringend drastisch erhöhen müsse, allein schon, um den Anteil der Abiturienten und Studenten auf das durchschnittliche Niveau der Industriestaaten zu heben.


Stipendien für Reiche statt Bildung für alle?

Außerdem wurde letzten Freitag die Einführung eines nationalen Stipendiensystems beschlossen. Bis zu 160.000 der “leistungsstärksten Studenten” sollen dabei gefördert werden. So will die Bundesregierung eine Erhöhung der Zahl der Studierenden mit Stipendien um 8%  (von 2% auf 10%) erreichen. Besonders diese Maßnahme ist heftig umstritten.

Denn die Stipendien sollen einkommensunabängig vergeben werden – auch Kinder von Millionären oder Milliardären werden also künftig von der Gesellschaft 300 Euro monatlich erhalten. Nicht umsonst stehen solche Programme bei Bildungswissenschaftler in keinem guten Ruf. Sie schaffen die soziale Selektivität des deutschen Hochschulsystems nicht ab, nein, sie verstärken sie sogar eher. Das Geld der Steuerzahler wird wenig sinnvoll verwendet und kommt nicht dort an, wo es den meisten Nutzen stiften könnte.

Eine derartige “Elitenförderung”  ist außerdem nicht das, was Deutschland brauche – breite Bildungschancen für alle, eine deutlich höhere Akademikerquote sind vielmehr notwendig. In keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg derart stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses ab.  Das sozial äußerst selektive deutsche Schulsystem führt dazu, dass kaum Kinder aus Arbeiterfamilien die Universität besuchen. Wer erfolgreich aus diesem Schulsystem hervorgeht und damit für ein Stipendium in Frage kommt, stammt meist aus gesellschaftlichen Schichten, die keine weitere finanzielle Förderung mehr benötigen.

Wir brauchen nicht mehr Elite-Studenten und nicht größere Unterschiede der Qualifikationen, wir brauchen mehr Studierende, und dabei vor allem mehr aus sozial weniger privilegierten Schichten. Diese müssen viel stärker als bisher gefördert werden, will Deutschland nicht endgültig im Bildungsbereich zur Zwei-Klassen-Gesellschaft werden. Selbst Bundesbildungsministerin Schavan gesteht zu, dass der Anteil von Studenten aus einkommensschwachen Familien zu gering sei. Mit diesem Stipediensystem wird dies jedoch kaum verändert werden. Die herrschenden gesellschaftlichen Schichten, die sich gerne als Elite betrachten, bleiben unter sich und nehmen die 300 Euro mehr pro Monat auch gerne noch an – benötigt würde das Geld an ganz anderen Stellen.

Selbst bei Stipendianten-Gruppen stößt dieses Modell auf massive Kritik und führte gar zu Demonstrationen vor dem Bundestag. Das Geld wäre besser für eine weitere BAföG-Erhöhung verwendet worden, hieß es von dieser Seie, da es dort auch bei den Studenten, die es wirklich brauchen, ankäme.


Bildung: staatliche Aufgabe oder durch der Privatunternehmen Gnaden?

Die Stipendien sollen zudem zwar von den Hochschulen vergeben, aber zu gleichen Teilen mit öffentlichen und privaten Mitteln finanziert werden. Die Hauptlast der Ausgaben werden aber freilich die Universitäten tragen, wenn man die Verwaltungsausgaben mit einbezieht. Zudem wird befürchtet, dass so gerade kleinere und mittelgroße Universitäten Nachteile haben werden, die sich kaum extra Personal leisten können.

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Das Hauptproblem ist aber, dass dadurch die Privatwirtschaft noch mehr Einfluss auf die Universitäten, auch auf Lehrpersonal und -inhalte ,haben wird, als sie jetzt schon besitzt. Die Verwertungsaspekte werden noch mehr in den Vordergrund rücken, Bildung wird noch mehr zur Ware werden. Vor allem werden natürlich solche Fächer gefördert werden, die unmittelbar den Gewinninteressen privater Konzerne zu Gute kommen. Die Universitäten werden sich weiter der Privatwirtschaft anbiedern, der Erwerb kritischen Wissens wird erschwert werden und soziale Fragen werden in den Hintergrund gedrängt. Man wird überall bedacht sein, nicht allzu kritisch mit den milden Gönnern umzugehen – und vor allem die Dominanz des Kapitals und die herrschende Gesellschaft nicht in Frage zu stellen. Man beißt schließlich nicht die Hand, die einen füttert.

Dem von einem Privatunternehmen geförderten Studierenden wird die Antwort auf die Frage nicht schwer fallen, ob er eine unabhängige Wissenschaft oder das Geschäft seines Mäzen betreibt. Das Humboldtsche Bildungsideal erscheint ihm so nur noch als bemittleidenswerte Anekdote aus früheren Tagen. Schon die Umstellung auf Bachelor/ Master war ein Ausdruck der gesellschaftlichen Dominanz neoliberaler und neokonservativer Gruppen. Mit dieser Maßnahme will die Bundesregierung  und der Freiheit von Forschung und Lehre nun offenbar den Todesstoß versetzen.


Verantwortungsloser Bundesrat – Sparen an der falschen Stelle

Im Bundesrat stehen die beschlossenen Gesetze derweil unter starkem Finanzierungsvorbehalt und sind daher heftig umstritten. Man befürchtet, allein für die BAföG-Erhöhung 530 Millionen Euro bezahlen zu müssen. Der Finanzausschusses des Bundesrats hat nun beschossen, den Vermittlungsausschuss anzurufen.

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Hier zeigen sich die Defizite des fatalen deutschen Bildungsföderalismus. Die Bildungsausgaben werden hier zum Spielball des Geschachers von karriereversessenen Machtpolitikern. Vor allem die Unions-Ministerpräsidenten, allen voran Koch, wollen den von weltweit führenden Ökonomen scharf kritisierten Sparkurs Deutschlands selbst noch auf dem Gebiet fahren, wo er am meisten Schaden anrichten kann – bei der Bildung. Ein solches Verhalten ist selten verantwortungslos.

Der Vorschlag,vorerst die Stipendien-Programm auf Eis zu legen (diese sind wohl auch der – durchaus nachzuvollziehende – Grund, weshalb sich auch bei der SPD eine Ablehnung abzeichnet), wäre dabei durchaus eher zu verschmerzen. Die Kopplung beider Maßnahmen durch die Bundesregierung mag zwar taktisch geschickt sein, doch wäre es auch kein gutes Zeichen, auf eine BAföG-Erhöhung verzichten zu müssen, weil sie auf ihren Elitenförderungswünschen beharrt. Zudem wird die Union unter ihrer Anhängerschaft durch diese wohl auch wenig an Zustimmung erwarten können – nicht mehr Geld für Bildung bereit stellen zu wollen, kommt jedoch in allen Lagern wenig an.


Die Bildungspolitik von Schwarz-Gelb: Ein paar Nebelkerzen und viel Dogmatismus

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Die beschlossenen Maßnahmen lassen das Gerede der Bundeskanzlerin von der Bildungsrepublik wieder einmal als bloße Show und billiges Blendwerk erscheinen, mit dem man sich ein paar nette Schlagzeilen in der Haus- und Hofpresse verschaffen kann, ohne viel dafür tun zu müssen. Das Thema ist sowieso schnell aus der Aufmerksamkeitsspanne der Medien verschwunden, und selbst eine BAföG-Erhöhung unterhalb der Inflationsrate wird von den Jubelpersern der Bundesregierung als Erfolg dieser verkauft.

Am Ende bleiben nur Phrasen wie “Bildung ist unsere Zukunft” oder “Wir haben doch nichts außer der Bildung”  – und sie verhallen schnell in überfüllten Hörsälen und zerbröckelnden Klassenzimmern. Studierenden, die nicht in ein Seminar kommen und deshalb die erbarmungslosen Vorgaben ihres Bachelor-Studienganges nicht einhalten können, werden die 300 Euro für eine kleine Gruppe Privilegierter im Jura- oder BWLer-Trakt nicht viel nutzen.

Wie schon in Folge des Bildungsstreiks und nach den sogenannten Bildungsgipfeln versucht die schwarz-gelbe Bundesregierung, ein paar Beruhigungspillen (wie jetzt die BAföG-Erhöhung) zu verteilen, anstatt die wirklichen Defizite im deutschen Bildungssystem anzugehen. Und sie lenken davon ab, dass in der deutschen Schulpolitik wie der Hochschulpolitik auf eine elitäre, unsolidarische und schädliche Politik gesetzt wird, die auf eine Ausgrenzung der Masse der Gesellschaft von Bildungschancen setzt und die sozialen Unterschiede veschärft, statt Bildung als ein öffentliches Gut, das für alle gleichermaßen zugänglich sein muss, zu etablieren. Die jetzigen Maßnahmen zu den Stipendiensystemen zeigen so wieder einmal, wie sehr in der Bundesregierung eine dominierende neoliberale Ideologie sachgerechte Lösungen unmöglich macht.

Bilder:

(1) Flickr (Björn  Rohles) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/deed.de

(2) Flickr (Björn Kietzmann) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

(3) Flickr (chris 9773) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/deed.de

(4) Flickr (Merkelizer) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

Update:

Am Freitag Nachmittag haben zwei Ausschüsse des Bundesrates gegen das Stipendien-Programm gestimmt. Der Bundesrat insgesamt muss aber noch abstimmen. Und dann steht noch der Vermittlungsausschuss offen. Vor diesen kommt eventuell auch die BAföG-Erhöhung.

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Ein paar Gedanken zur WM

Wenn mehrere Sport-Berichterstatter Politik-Talkshows moderieren, kann man auch, wenn man sich sonst eher den politischen Themen zuwendet, mal ein paar Betrachtungen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika anstellen. Und wie erstere, um komplizierte politische und wirtschaftliche Zusammenhänge für das Publikum (und sich selbst) verständlich zu machen und die aufgetragene Botschaft rüberzubringen, oft Vereinfachungen aus der Welt des Sport benutzen (“Wir brauchen wieder einen Führungsspieler”, “Hauptsache wir gewinnen, egal wie!”), so werden auch hier neben den fußballerischen Betrachtungen einige politische und gesellschaftliche Zusammenhänge Erwähnung finden.

Nervige Tröten, nervige Übertragung, nervige Schiedsrichter

(1)

Die WM ist bisher eine überwiegende Enttäuschung. Natürlich, man kann es nicht oft genug wiederholen, trägt die Hauptschuld der unerträgliche laute und monotone allgegenwertige Vuvuzela-Pegel. Völlig egal ob das “dort” nun mal dazugehört – so macht Fußballkucken, und, wie fast alle Mannschaften beklagen, auch Fußballspielen keinen Spaß. Blasmusik ist auch Kultur und muss dennoch nicht von allen geliebt werden – und wenigstens besteht sie aus mehr als nur einem einzigen Ton! Ja, dieser eine einzige Ton, 90 Minuten lang, ohne jegliche Variation!!! Es gibt keine Stimmung, keinen Jubel, Gesänge gehen sowieso unter, nichts. Jedes Spiel, jede Spielsituation ist akustisch genau die gleiche.

(2)

Die Kommentatoren wollen diese nervige Geräuschkulisse noch überbieten. Neben Platitüden treten oft Vorurteile und andere fragwürdige Botschaften (näheres siehe unten). Die Analyse-Teams schwanken in ihrer Qualität. Sind Jauch/Klopp und Netzer/Delling wenigstens noch relativ unterhaltsam und liefert Scholl (mit Beckmann) noch etwas fußballerischen Sachverstand, gibt Kahn bei Müller-Hohenstein meist nur Binsenweisheiten von sich. Die anderen Teams sind so farblos, dass sie einem kaum einfallen mögen.

Dier übertragenen Bilder sind grausig. Man sieht kaum Bilder aus den Stadien. Eine WM ohne Fans ist aber nur eine halbe. Während die Regie bei der letzten WM meist die richtige Balance fand zwischen dem Spiel, Wiederholung von wichtigen Momenten und Bildern des Publikums und von der Trainerbank (und es dabei manchmal eher bei den beiden letzteren übertrieb), sind jetzt pro Spiel höchstens mal zwei kurze Einblendungen von den Zuschauern im Stadion zu sehen. Dazu kommen ständige extreme Zeitlupen, aber ausgerechnet wichtige Situationen werden dann nicht wiederholt. Die Werbung kommt natürlich nirgends zu knapp (wenigstens im RTL-Livestream sieht man stattdessen Trailer und ein bisschen Werbung für Seiten mit Videoclips).

Die Schiedsrichter machen bei dieser WM viele Spiele kaputt. Der Maßstab, wie Karten vergeben werden, ist völlig verrutscht, wenn jede Berührung zu jeder Karte führen kann. Oft werden die Mannschaften doppelt oder dreifach bestraft, wenn ein Spieler wegen einer geringfügigen Aktion im Strafraum vom Platz gestellt wird, die Mannschaft also einen Spieler weniger hat, einen Elfmeter gegen sich erhält und, wenn es der Torwart war, der Ersatztorwart eingewechselt werden muss. Hier müssen unbedingt andere Regeln her, soll der Fußball nicht zu reinen Glücksspiel verkommen.

Schöner Fußball? Da ist man meist fehl am Platz

Ohne die ganzen Fehlentscheidungen der Schiedsrichter, Handspiele im 16er und Torwartfehler hätte diese WM aber andererseits ihren Tornegativrekord noch einmal drastisch unterboten. Die kleinen Mannschaften scheinen aber auch deshalb diesmal erfolgreicher, weil sie sich auf die Defensivarbeit konzentrieren.

Viele Favoriten haben bisher enttäuscht. Wenn doch mal einer ganz gut spielt, wie Brasilien oder die Niederlande, sind die Kommentatoren aber dennoch die meiste Zeit damit beschäftigt, zu erzählen, wie schlecht der Favorit eigentlich spiele. Das wäre natürlich zu verkraften, wenn die anderen Mannschaften schönen Fußball bieten würden. Aber meist sieht man den “erfolgsorientierten Ergebnisfußball”, den die deutschen Kommentatoren energisch uunterstützen. “Es kommt nicht darauf an, ob man schön spielt, sondern darauf, dass man gewinnt!” Für das einzelne Spiel mag das ja wahr sein – aber der Fußball lebt nun mal ganz allein von den Zuschauern, und wenn die weg bleiben, brechen auch die Einnahmen weg.

Natürlich kann man diese Ansicht auch als eine Parallele oder Verstärkung derer ansehen, die die herrschenden Kräfte in der Gesellschaft durchsetzen wollen: Hauptsache, man setzt sich gegen den anderen durch, egal wie man das erreicht. Jedes Mittel ist recht für den Erfolg, wie im Fußball, so im Leben. Und das ist nicht die einzige auch gesellschaftliche zu verstehende Botschaft, die die Medien rund um den Fußball zu transportieren versuchen.

Nationalismus, rassistische Vorurteile, Führersehnsucht – muss das sein?

WIR haben ein Tor geschossen, die Nationalspieler haben ein Gegentor kassiert. WIR haben gut verteidigt, der Sturm war schwach. WIR kriegen einen Elfmeter zugesprochen, Podolski verschießt ihn. Wenn die deutsche Nationalmannschaft gewinnt, hat Deutschland gewonnen, haben WIR gewonnen. Verliert sie, haben die Spieler auf dem Platz das Spiel verloren.

(3)

WIR, die Deutschen an sich, sind natürlich diszipliniert, ordentlich und fleißige Arbeiter, auch auf dem Fußballplatz. Die Engländer schlagen die Bälle nach vorne und das Land kann keine guten Torhüter gebären. Die Südamerikaner können nun einmal Fußball spielen, das haben sie “im Blut”. Das kann dabei auch beliebig ausgeweitet werden, Hauptsache im Süden. Da können sie halt schönen Fußball, wenn auch sonst wenig. Auch die in Deutschland aufgewachsenen Mesut Özil und Sami Khedira haben wegen ihrer südländischen Herkunft technische Fähigkeiten, kriegt man dann tatsächlich zu hören. Allerdings neigt der Südländer auch zu Nickligkeiten und versteckten fiesen Fouls, während der Südosteuropäer einfach hart rumbolzt und foult. Dem Afrikaner wird man niemals beibringen können, finanzielle Angelegenheiten nicht kurz vor dem Spiel regeln zu wollen, das geht einfach nicht. Keine Chance! “Der Neger” kann nun mal nicht anders!

Hier wird Alltagsrassismus nicht nur wiedergegeben, hier wird er verstärkt und oft auch erzeugt. Und wenn ein Spieler ein ganz tolles Gefühl haben muss, fällt einem dazu kein anderer Vergleich mit einer anderen ganz tollen Situation ein als mit einem – Reichsparteitag??? Doch nein, Deutschland ist ja gar nicht rassistisch, es schiebt zwar Flüchtlinge ab, bürgert aber die guten Ausländer ein, wenn man sie gebrauchen kann, z.B. im Fußball. Alles in Ordnung also.

Und das ZDF heute journal “berichtet” tatsächlich, dass mit dem Aus der französischen Nationalmannschaft dort auch das “Multi-Kulti”-Modell  (dass weiße und schwarze Spieler in der Mannschaft spielen) gescheitert sei. Gerade das ZDF scheint wirklich unaufhaltsam auf dem Weg nach rechts außen.

Und immer wieder, immer wieder hört man die Botschaft, man brauche wieder Führerungsspieler. Philipp Lahm wird in einem Interview mit fünf Fragen dreimal befragt zum Thema Führungsspieler, Führungsaufgaben, Führungsstil und reagiert eher irritiert. Ist er der richtige Mann dafür, bringt er die richtigen Führungsqualitäten mit oder ist nicht eher ein anderer der Chef auf dem Platz, fragen demzufolge auch die Kommentatoren immer wieder, wenn Deutschland spielt. Nahtlos geht dies dann natürlich weiter in den Politik-Talkshow-Simulationen, wo man sich endlich ein Machtwort der Kanzlerin wünscht, starke Führungskräfte für das Land braucht und die deutsche Jugend nicht genug Disziplin zeigt.

Die deutsche Mannschaft und ihr Trainer

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Bei den Spielern muss zuallererst Disziplin herrschen, die Autorität des Trainers darf in keiner Weise in Frage gestellt werden, seinen Befehlen ist Folge zu leisten. Tut man das nicht, kann man auch als vielleicht bester Stürmer der Saison zu Hause bleiben müssen. Und auch wenn im defensiven Mittelfeld, wenn Schweinsteiger und/oder Khedira ausfallen sollten, nur noch Spieler da sind, die dort höchstens äußerst selten gespielt haben (am ehesten noch Boateng oder Aogo), wird Thorsten Frings auch nach einer überragenden Saison nicht nominiert, weil er sich mal beschwert hat, dass er bei einem Spiel nicht dabei war.

Ist man dagegen Spieler des FC Bayern, muss man sich wie Holger Badstuber auch nach einer äußerst schwachen Partie keine Sorgen machen, auch wenn mit Jansen und Aogo (oder auch Boateng, dann wäre auch Lahm auf links möglich) durchaus gute Alternativen bereitstünden. Natürlich sollte man gerade junge Spieler nicht allzu schnell herunterputzen. Allerdings kann man auch anderen jungen Spielern Chancen vesperren,  was es auch nicht besser macht. Und Miroslav Klose zehrt immer noch von vergangenem Ruhm und einzeln aufblitzenden guten Momenten. Apropos Sturm: Gegen Serbien kriegte es Löw tatsächlich fertig, 30 Minuten ohne Sturmspitze spielen zu lassen. Anstatt z.B. Podolski in den Sturm zu stellen und Özil über links kommen zu lassen, und natürlich am besten in der Halbzeit Cacau einzuwecheln, lässt er Özil als vordersten Spieler allein, auch wenn er auf dieser Position deutlich schlechter spielt.

Löw scheint sowieso eine geradezu pathologische Angst vor Positionswecheln zu haben. Nicht mal wenn der einzige Stürmer ausfällt, stellt er um. Andere Besipiele: Nachdem er Badstuber rausnimmt, verteidigt Friedrich in der Dreier-Kette auf links, was er noch nie getan hat, anstatt ihn nach rechts und Lahm nach links zu stellen. Und es gibt noch viele solcher Beispiele. Am krassesten war wohl aber die Aufstellung im Testspiel gegen Ungarn, als er Jansen einwechselte und nicht etwa Jansen als linken Verteidiger (wo er sehr oft spielt und wohl auch in der Nationalmannschaft Chancen hat, auch wenn er im linken Mittelfeld stärker sein mag), Podolski im linkem Mittelfeld (wo er in der Nationalmannschaft inzwischen meist spielt) und Westermann im defensiven Mittelfeld (wo er gelegentlich spielt) spielen lässt, sondern Jansen als linken Mittelfeldspieler einsetzt (so weit so gut), Westermann als linken Verteidiger (was er selten spielt) und Podolski tatsächlich ins linke defensive Mittelfeld stellt, wo dieser noch nie gespielt hat, weil dort seine Fähigkeiten überhaupt nicht zur Geltung kommen – und er auch ziemlich untergeht.

Und noch etwas ist merkwürdig bei Löws Spielerauswahl: man kann noch in einem Spiel Stammspieler sein, wird man einmal für ein Testspiel nicht nominiert, kann man sicher sein, dass man nie wieder spielen wird, egal, wie gut man auch ist (einige Beispiele: Frings, Metzelder, Ernst, zukünftig vielleicht ja auch Hitzlsperger). All diese Entscheidungen des Trainers sind schwer nachvollziehbar, sind eher unrationale Entscheidungen, die aber nicht kritisiert werden (dürfen), da der Trainer nicht kitisiert wird (werden darf). Anders natürlich der Franzose, so die deutsche Presse, der streikt ja auch beim Fußball. Auch wenn das angesichts dieses Trainers durchaus nachvollziehbar erscheinen kann (auch wenn man ihn ja nicht gleich so übel beleidigen muss wie Anelka).

Dennoch hat die deutsche Nationalmannschaft ihre zahlreichen Ausfälle gut kompensiert und bisher mit den attaktivsten Fußball gespielt. Mal sehen, was sie und die WM insgesamt noch bringen werden.

Bilder

(1) Wikipedia (Berndt Meyer) / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.en

(2) Flickr (Madebyr.de) / http://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/deed.de

(3) Kamelopedia / GNUFDL (basierend auf Wikipedia / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

(4) Wikipedia (Florian K) / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

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Genozid in Kirgisien

Die NachDenkSeiten haben eine Mail aus Kirgisien (oder Kirgisistan, Kirgistan, Kirgisische Republik) von Raushan Aitkozhaev veröffentlicht:

“Wir befinden uns inmitten eines Krieges (Kirgisien, Stadt Osh). Hier passiert gerade etwas Furchtbares, Unvorstellbares!!! Das Erschreckende ist, daß in den Massenmedien nicht einmal ein Zehntel dessen wiedergegeben wird, was hier vor sich geht. Eine “Ethnische Säuberung”, wenn man so will. Ganze Stadtteile mit von Usbeken bewohnten Häusern sind bis aufs Letzte abgebrannt, Menschen werden in ganzen Familien inklusive Frauen und Kinder niedergemetzelt. Draußen sind ganze Berge von Leichen und Verletzten, denen niemand Hilfe leistet. Ganze “Armeen” junger Menschen kirgisischer Herkunft wüten in aufgebrachtem und oft nicht nüchternem Zustand bewaffnet durch die Stadt; sie töten und verbrennen alles, was ihnen in den Weg kommt.

Das ganze wird von der Politik unterstützt. Der innenpolitische Konflikt ist lange gereift, sodaß jemand jetzt auf sehr listige Weise davon Gebrauch machen konnte. Es scheint, als ob gerade deswegen die Staatsoberhäupter stillsitzen und darüber schweigen, was hier passiert. Mein Eindruck ist, daß das Weggucken unserer Regierung irgendwie durchdacht, geplant ist.

Sergey (mein Schwiegervater) ging heute morgen auf hohes Risiko und zu unser aller Schrecken aus dem Haus, um Lebensmittel zu holen. Auf der Straße lag ein verletzter, sterbender alter Mann. Sergey wollte ihm helfen und drehte ihn auf den Rücken um. In dem Augenblick kam eine Gruppe von Jugendlichen angerannt und begann, den Alten mit Füßen zu treten. Einer von ihnen schrie: “Das ist doch ein Kirgise!”; ein anderer entgegnete: “Nein, er ist Usbeke! Komm, wir zünden ihn an!” Als Sergey in Hilflosigkeit wegging, lag der Alte bereits tot und in Flammen auf der Straße.

Von offizieller Seite her wurde gesagt, man solle alle Gewalttaten und Chaos verhindern, aber daran hält sich hier niemand. Das Zugucken geht weiter! Helikopter fliegen herum und Autos fahren mit Blaulicht durch die Gegend, aber das alles passiert nur zum Schein – es gibt keinerlei aktive Hilfe von Seiten der Polizei oder offizieller Organisationen.

Letzte Nacht hat eine Kämpfergruppierung ein Militärgelände, nicht weit von unserem Haus, eingenommen. Dort gibt es Waffen, Helikopter und vieles mehr. Sie haben schon davor eine riesige Menge an Waffen gehabt (wir fragen uns, woher die ganzen “einfachen Leute”, die gegeneinander kämpfen solche Schusswaffen bekommen konnten?), und jetzt werden es immer mehr, und dazu noch schweres Kriegsgerät.

Für uns hier bedeutet das Ganze, daß wir nicht mehr an Lebensmittel kommen, vielen droht schon jetzt reale Hungersnot, denn die Reserven gehen zuende. Es wird uns verkündet, daß es Hilfslieferungen gibt mit Essen, Wasser und Medikamenten, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Brot ist gerade geliefert worden, aber seltsamerweise bekommen die Russen davon nichts ab. Wir wollen kein Brot! Wir wollen Leben!!! Warum wird in den russischen Nachrichten gesagt, daß sich der Zustand hier stabilisiert hat, obwohl hier alles immer schlimmer wird? Es gibt nur eine Antwort – jemand möchte nicht, daß die Welt davon erfährt. Oder sie tun einfach nur so, als würden sie es nicht bemerken.

Mein Ziel ist es, diese Nachricht so weit wie möglich zu verbreiten – daß so viele wie möglich weltweit von der Situation hier erfahren. Wir fürchten, alleine gelassen zu werden mit unserem Leid!!! Die Tatsache, daß der kleine Anteil an hier lebenden Russen bisher verschont wurde, ist wohl nur eine Frage der Zeit. Die wütende Bevölkerung hat Blut gerochen, den Kampf angesagt und gesehen, daß sie ungestraft davon kommen würden. Wir haben hier Todesangst! Jeden Tag wissen wir nicht, ob wir ihn noch überleben werden. Bitte, gebt diese Nachricht an alle Möglichen Seiten weiter, stellt sie in die Nachrichten und Foren!!! Bitte lasst uns nicht alleine!!! Dies ist ein ernsthafter Hilfeschrei!!!”

Der Spiegelfechter versucht, etwas Licht in die äußerst undurchsichtigen Ereingisse zu bringen und liefert beunruhigende Fakten: Genozid in Zentralasien.

Ähnlich wie in Ruanda scheint sich ein Völkermord anzubahnen oder schon stattzufinden, der weitgehend unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit geschieht. Deshalb gilt es umso mehr, mit den Mitteln abseits der Mainstream-Medien die Bevölkerung und die, die die politischen Möglichkeiten zur Einflussnahme haben, auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Jedes Menschenleben ist gleichviel wert, ob in Kirgisien oder anderswo.

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Neu auf Guardian of the Blind: Flattr und Co.

Flattr me!

Ich habe jetzt auch in meinem Blog Flattr eingebunden. Flattr ist ein Dienst, bei dem man einen eingezahlten Betrag (derzeit mindestens 2 Euro/ Monat) auf Blogs oder Artikel, die einem gefallen, verteilen und eigene Seiten anmelden kann, die dann dia anderen Nutzer “flattrn” können. Das Ganze nennt sich social micropayment.

http://www.youtube.com/watch?v=kwvExIWf_Uc

Gegenwärtig geht dies nur in gleichmäßigen Anteilen: wählt ein Benutzer z.B. in einem Monat 10 Blogs aus, bekommt jeder dieser Blogs 1/10 des vom Benutzer eingezahlten Betrages. V.a. eignet sich dies aber bei Blogs auch für einzelne Artikel, die einem besonders gefallen. Es kommen so wohl keine hohen Betäge zusammen, aber es könnte vielleicht eine nette kleine Möglichkeit sein, seine Wertschätzung für bestimmte Beiträge und Seiten auszudrücken.

Zudem ist dieser Dienst recht unaufdringlich, einfach (ist man angemeldet, genügt ein Klick auf den Flattr-Button) und transparent.Und v.a. ist es auch eine gute Möglichkeit abseits von allen paid content-Schwachsinnsideen. Nein, ich bin ganz und gar gegen jegliche Bezahlinhalte; das ganze ist absolut freiwillig, wer es nicht nutzen möchte, muss es nicht. Es gibt durchaus noch Defizite: Geldeinzahlungen sind derzei nur über Paypal oder Moneybookers möglich, und die Probleme dort dürften bekannt sein (u.a. auch die relativ hohen Gebühren, was auch ein Kritikpunkt gegen Flattr an sich wäre).

Aber dennoch: Wenn man vielleicht etwas Geld übrig hat und ein paar gern gelesene Seiten ein wenig unterstützen würde, hatte man bisher wenig Möglichkeiten dazu. Dies wird durch diesen Dienst jetzt doch recht einfach möglich gemacht, und das ist ja schon mal eine gute Sache. Mal sehen, wie sich diese Idee entwickelt: Chancen bietet sie allemal.

Ein Flattr-Button befindet sich jetzt hier jeweils am Ende der einzelnen Artikel. Der für das ganze Blog ist in der rechten Sidebar unten (oder siehe auch hier). Ich werde die Klicks und Einnahmen durch Flattr auch transparent darstellen: schließlich soll man auch sehen, was mit seinem Geld geschieht. 😉

WordPress, Layout, Feeds

Das Blog läuft jetzt mit der WordPress 3.0-Version – bisher ohne Probleme. Ich habe außerdem das Blog ein klein wenig im Layout verändert und hoffe, dass es jetzt übersichtlicher geworden ist. Weitere Tipps sind stets willkommen! V.a. die Sidebar habe ich etwas neu gestaltet. Dort befindet sich jetzt auch ein Ticker mit Links zu den jeweils neuesten Artikeln aus ein paar Blogs und News-Seiten. Ich hoffe, dass da immer mal etwas Interessantes für die Leser dabei ist.

Außerdem wollte ich fragen, ob es vielleicht gewünscht wäre, dass ich den Feed des Blogs auf FeedBurner umstelle.

Werbung und Leseempfehlungen

In die Sidebar habe ich ein paar Werbeflächen reingepackt. Wie ich schon mal geschrieben hatte, das Bloggen kostet doch recht viel von der Zeit, die mir mein Studium derzeit noch lässt, und auch finanziell sieht es da nicht so rosig aus. Ich hoffe also, dieser Schritt stößt auf Verständnis.

Google Adsense möchte ich zunächst noch einmal ausprobieren. Andere Anzeigen wären mir jedoch um ehrlich zu sein lieber. Also, falls hier jemand lesen sollte, der Interesse hat: einfach eine Mail an Markus_Fulda (at) yahoo.de !

Außerdem habe ich ein Widget von Amazon integriert mit Büchern, v.a. aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Philosophie, die ich wirklich sehr als Lektüre empfehlen kann.

Veröffentlichungen auf anderen Blogs und Gastbeiträge auf Guardian of the Blind

Artikel von mir werden auch weiterhin gelegentlich beim Oeffinger Freidenker und jetzt auch regelmäßiger auf binsenbrenner.de (der frühere Auto-Anthropophag) veröffentlicht werden. Und auch auf Guardian of the Blind wird es weiter ab und zu Gastbeiträge von anderen Autoren gegben.

Ich finde es gut, dass es allmählich in der politischen Blogosphäre einen stärkeren Austausch und eine größere Zusammenarbeit gibt. Denn, auch wenn wir in vielen Punkten unterschiedlicher Ansicht sein mögen, haben wir doch im Kern die selben Ziele: Wir wollen eine gerechtere Gesellschaft, eine sozialere Politik, einen kritischeren und besseren Journalismus. Und auch wenn unsere Mittel beschränkt sein mögen, so sollten wir sie doch möglichst effizient nutzen – und ich glaube, dass dies auf diesem Weg einer verstärkten Kooperation besser geschehen kann.




Also, ich hoffe, dass die Erneuerungen hier nützlich sind (und dass sie auch angenommen werden 😉 ). Und weiterhin vielen Dank an alle Leser und Kommentatoren!

Guardian of the Blind
Markus Weber

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Ich tue hier nur meinen Job!

“Ich tue hier nur meinen Job!” oder ” Ich tu hier nur meinen verdammten Job!”  Nein, diese Sätze, die immer dann benutzt werden, um eine moralische Verantwortung zu leugnen, um eigene Schuld zu bestreiten, um sich selbst zu einem Werkzeug zu diskreditieren, um Zweckrationalität heilig zu sprechen, nein, diese Sätze bewirken bei mir das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollen. Sie sind keine Legitimation unmoralischen Handelns – sie sind der Ausdruck, wie weit sich ein unmoralisches System durchgesetzt hat bis zum Selbstbetrug des Einzelnen.

“Ich tue nur meinen Job!” Gerade in Ländern, in denen es zwar nicht angenehm, aber eben auch nicht gerade tödlich ist, einen bestimmten Job nicht zu tun, ist dieser Satz eben nicht immer eine Rechtfertigung für jegliche Taten, die “man eben tun muss”.  Besonders absurd natürlich, wenn dieser Satz von denen gesprochen wird, die aufgrund ihrer Qualifikation einen beliebigen anderen Job bekommen könnten. Von skrupellosen Managern, gnadenlosen Offizieren, gewissenlosen Lobbyisten. “Ich hab ja auch meine Hypotheken abzuzahlen!” “Ich bin dafür ja nicht verantwortlich!” Keiner wäre danach verantwortlich. Und alle waren Widerstandskämpfer.

“Ich tue nur meinen Job!” Vom alten “Ich erfülle hier nur meine Pflicht” abgelöst durch die amerikanische “Leitkultur”. Die blinde Autoritätshörigkeit und ein diffuses Gefühl der Pflichterfüllung des deutschen, speziell des preußischen Beamtentums, die an sich schon Instrumente der Unterdrückung und Freiheitsberaubung waren, wurden abgelöst durch eine von aller Verantwortung gelöste neue Moral – die des bloßen Geldverdienens. Das Geldverdienen legitimiert alles. Ethische Werte und Überzeugungen zählen nichts. Der Zwang dazu setzt sich bis ins Innerste des Menschen durch. Die heutige Unterdrückung ist keine äußere, sie ist eine psychologische. Alles, was einer kalten, auf die Vermehrung des persönlichen Reichtums fixierten Zweckrationalität im Wege steht, soll ausgeräumt, alles sensible, alles mitmenschliche und solidarische, alles Schwache soll ausgemerzt werden. Die narzisstische Persönlichkeit ist gefangen zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und der Erfahrung von tatsächlicher relativer Ohnmacht. Dies führt zum Willen zur Verschmelzung mit dem herrschenden System.

“Es ist sein Beruf” Irgendwie kann man daraus noch das Wort “Berufung” ablesen. Eine Aufgabe, mit der man sich identifiziert, die einen Zweck erfüllt, einen Sinn hat und stiftet. Der fortgeschrittene Kapitalismus kennt diese Art von Erfüllung oder wirklicher Selbstverwirklichung durch einen bestimmten Beruf nicht. Selbstverwirklichung soll nur in einem gefüllten Bankkonto bestehen, alles andere steht dem Fortschritt im Wege.

“Es ist sein Job” ist das sprachliche Äquivalent zu einem amoralischen, einzig auf Verwertung ausgelegtem ökonomischen und gesellschaftlichen  System. In diesem muss man flexibel sein, alle, wirklich alle Aufgaben auszuführen, die einem befohlen werden, was nicht nur eine qualifikatorische, sondern bei vielen Aufgaben auch eine moralische Flexibilität verlangt. Wo wäre diese Gesellschaft, wenn sich kein Pressesprecher mehr für Monsanto, kein Lobbyist für die Rüstungsindustrie, kein Mediziner, der sich von der Tabaklobby kaufen ließe, kein Politiker, der den Dienst am Volk dem Dienst an seiner Karriere opfert, finden ließe?

Genug Geld rechtfertigt alle Tätigkeiten. Hauptsache, man wird bezahlt. Hauptsache, man “tut seinen verdammten Job”. Wo käme die Gesellschaft hin, wenn nicht jeder seinen Job täte? Wenn er seine Arbeitsweise oder die Aufgabenstellung hinterfragen würde? Wenn er gar eine moralische Rechtfertigung seines Tuns verlangen würde?

Das System ist mächtig, doch seine Macht beruht auch auf dem Einzelnen, der diese hinnimmt, sich dieser unterwirft. Gibt es wirklich kein richtiges Leben im falschen?

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