Zum Wahlausgang in Großbritannien

Die Wahl in Großbritannien ist also wie erwartet ausgegangen. Die Conservative Party errang zwar eine Mehrheit, diese ist aber nicht groß genug, um alleine die Regierung bilden zu können. Ob Labour oder Conservative Party, wer auch immer den Regierungschef stellen wird, wird nun auf die Unterstützung der Liberal Democrats angewiesen sein. Dies ist zu begrüßen – für Großbritannien und für Europa.

Die britischen Parteien

Dabei müssen wir beachten, dass das britische Parteiensystem kaum mit dem deutschen vergleichbar ist.

Die Labour Party etwa als Sozialdemokraten oder gar als Linke zu bezeichnen ist kaum zutreffend und höchstens irreführend. Seit Ende der 90er Jahre unter Tony Blair und den Konzepten von Anthony Giddens kann man Labour meiner Meinung nach nicht mehr als Sozialdemokraten bezeichnen. Von dem gemeinsamen Charakteristikum und der Tradition sozialdemokratischer und demokratisch-sozialistischer Parteien weltweit haben sie sich explizit verabschiedet, der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit) – sie wollen nur noch “Chancengerechtigkeit”. Umverteilung steht nicht mehr auf dem Programm. Die neoliberale Politik der Thatcher-Ära haben sie in der Grundtendenz fortgeführt, mit nur kleinen Verbesserungen. Umfangreiche Privatisierungen, tendenzieller Abbau der Sozialleistungen, keine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft, Förderung des Finanzmarktkapitalismus. Einzig auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik (trotz all der Klischees über das britische Gesundheitswesen) und in der Bildungspolitik (auch wenn man dort nicht einmal so weit ging, die Studiengebühren abzuschaffen – das wäre wohl zuviel Chancengleichheit) gab es weitreichende Verbesserungen. Und unter Gordon Brown gab es durchaus eine leichte Wende nach links in der Sozialpolitik. Noch drastischer allerdings war die Politik von Labour auf dem gesellschaftspolitischen Feld – in Großbritannien haben sie den wohl technisch fortgeschrittensten Überwachungsstaat der Menschheitsgeschichte aufgebaut. Die Einschränkungen der Bürgerrechte und der Freiheiten sind kaum aufzählbar.

So kam es, dass die Conservative Party paradoxerweise fast schon als eine sogar etwas liberalere Alternative auf diesem Gebiet schien. Allerdings unterscheiden sich die Positionen der beiden Parteien dort nicht sehr stark. Und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik würden die Tories durchaus einen großen Rückschritt hin in die Thatcher-Ära bedeuten, auch wenn dies Cameron immer wieder zu bestreiten versuchte. Die Pläne zur Wirtschaftspolitik, zur weiteren Einschränkung des Sozialstaats, zur Schulpolitik oder zum öffentlichen Dienst wären durchaus fatal. Zudem sind die meisten Mitglieder der Conservative Party in vielen Feldern nicht so fortgeschritten wie ihr Vorsitzender.

Die Liberal Democrats sind in der Tat eine Partei mit in vielen Fällen grundsätzlich anderen Positionen als Tories und Labour. Ich würde sie als klassisch liberale Partei bezeichnen, mit dem Schwerpunkt auf gesellschaftspolitischen Gebieten. Sie treten als einzige gegen den ausufernden Überwachungswahnsinn ein, waren als einzige gegen den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg. Wirtschaftspolitisch würde ich sie in der Nähe von Labour einordnen – also nicht marktradikal wie andere sich “liberal” nennende Parteien, aber auch nicht links. Dennoch traten auch nur sie für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte ein.

Die Green Party hat zwar den Einzug ins Parlament geschafft – aber nur mit einer Stimme. Die anderen dort vertretenen kleineren Parteien sind vor allem solche mit regionalen bis hin zu nationalistischen Interessen.

Das britische Wahlsystem

Zudem fordern die Liberal Democrats eine Reformierung des britischen Wahlsystems, und die ist dringend geboten. Denn das Mehrheitswahlrecht führt nicht nur dazu, dass kleinere Parteien systematisch benachteiligt werden (nur die, die einen Wahlkreis gewinnen können, erhalten ja einen Parlamentssitz), es sorgt für eine extreme Verzerrung der Stimmen (z.B. diesmal: Liberal Democrats: 22,9% der Stimmen, 8,8% der Sitze. Es gibt aber noch viel drastischere Fälle).

Die Wahl hat nicht nur die Grenzen des Mehrheitswahlrechts aufgezeigt, sondern dieses als ein Wahlsystem ohne auch nur einen einzigen positiven Aspekt dastehen lassen. Als vermeintlich positiver Punkt der Mehrheitswahl wird eigentlich nur aufgeführt, dass dieses zu “stabilen Mehrheiten” für eine Regierungspartei führe – das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wobei dieser Punkt für mich nie positiv war, da bei der Mehrheitswahl ja die Stimmenverteilung nicht der Sitzverteilung entspicht, nicht jede Stimme gleich viel zählt. Dies aber ist eine Grundforderung an eine demokratischen Wahl.

Welche Möglichkeiten bieten sich?

Welche Optionen stehen nun für eine Regierungsbildung offen und wie sind diese zu bewerten? Eine Neuwahl wäre ein Armutszeugnis. Auch wenn man sozusagen kaum Erfahrung mit Koalitionsregierungen hat, hat der Wähler so entschieden. Ob eine Neuwahl andere Ergebnisse bringen würde, wäre außerdem zweifelhaft. Eine Minderheitsregierung der Tories würde wohl kaum lange überleben.

Eine “Große Koalition” halte ich ebenfalls für schwer vorstellbar. Höchst wahrscheinlich werden die Liberal Democrats der entscheidende Faktor sein. Es wäre auf jeden Fall positiv zu bewerten, wenn diese in einer Regierung vertreten sind, vor allem, da die Bürgerrechte in Großbritannien endlich wieder auf das Niveau eines freiheitlichen Rechtsstaates gebracht werden müssen. Eine Einführung (oder wenigstens eine neue Entscheidung darüber) des Verhältniswahlrechtes wäre außerdem eine Bedingung der Liberal Democrats, ohne die eine Koalition mit ihnen schwer vorstellbar wäre. Als wahrscheinlichste Koalitionen gelten also (möglicherweise unter Einbeziehung anderer kleinerer Parteien – dies soll hier ausgelassen werden):

Conservative Party und Liberal Democrats: Für die Bürgerrechte wäre diese Koalition wohl wünschenswert. Hier wären die Konservativen wohl auch bereit, Zugeständnisse zu machen. Allerdings leidet Großbritannien neben der Unterdrückung der Rechte und Freiheiten auch immer noch unter den Folgen des Marktextremismus der letzten Tory-Ära. Das Sozialsystem, die öffentliche Daseinsfürsorge, das Gesundheitssystem dürfen keineswegs noch weiter eingeschränkt werden. Dies wäre aber unter den Konservativen zweifelsohne zu erwarten, schon im Wahlkampf wurden genug Sozialabbau-Maßnahmen angekündigt, und Cameron hat auch angekündigt, dass sich dort wenig Verhandlungsmöglichkeiten ergeben.

Labour und Liberal Democrats: Solle Labour in der Lage sein, mit den Liberal Democrats eine Koalition zustande zu bekommen, und würden sie umfangreiche Zugeständnisse an diese in gesellschaftspolitischen Feld machen, kann das für alle nur von Nutzen sein, und Labour könnte sich vielleicht eher wieder auf seine alten, durchaus ehrhaften Wurzeln besinnen. Auch auf wirtschafts- und sozialpolitischem Feld wären Verbesserungen im Vergleich zur Alleinregierung von Labour zu erwarten, insbesondere bei der Regulierung der Finanzmärkte. Bisher ist Großbritannien zusammen mit Deutschland bei dieser Frage ein hartnäckiger Blockierer und ein Hemmnis für welt- oder wenigstens europaweites Vorgehen. Auch in der EU würde eine eher sozialliberale britische Regierung vielleicht (eventuell zusammen mit der eher gemäßigt-konservativen französischen Regierung) eine Gegenmacht bilden können zum marktradikalen Hardliner-Vorpreschen der deutschen Regierung. Und auch bei der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten ist die EU ja ganz vorne mit dabei, bisher unter einem großen Einfluss der britischen Regierung.

Sicher wäre dies insgesamt keine wirklich gute Regierungskonstellation, aber wohl die bestmögliche. Wir sollten also für Großbritannien und auch für Europa hoffen, dass nicht wieder eine liberale Partei zur Umfallerpartei und zum Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen wird.

[Auch erschienen beim binsenbrenner.de.]

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