“Nichteinmischung”: Ein schmutziges Wort

Von Uri Avnery

Uri Avnery

Donnerstagabend (gemeint ist der 17.03.2011, Anmerkung Guardian of the Blind) konnte ich an nichts anderes als an Libyen denken. Zuerst hörte ich die bluttriefende Rede von Muammar Gaddafi, in der er versprach, innerhalb weniger Stunden Benghasi zu besetzen und ein Blutbad  unter den Rebellen anzurichten. Ich war äußerst besorgt und sehr wütend auf die internationale Gemeinschaft, besonders auf die USA, die tage- und wochenlang kostbare Zeit mit leeren Phrasen vergeudeten, während der Diktator Libyen Stück um Stück zurückeroberte.

Dann war da das fast unglaubliche Bild des UN-Sicherheitsrates, der innerhalb einer Stunde einberufen war, auf Reden verzichtete und  die Resolution ohne Opposition annahm, die zu einer militärischen Intervention aufrief. Die Szene, die auf Benghasis Hauptplatz folgte und über Al-Jazeera live ausgestrahlt wurde, erinnerte mich an den Mugrabi-Platz in Tel Aviv am 29. November 1947, kurz nachdem die UN-Vollversammlung die Resolution über die Teilung Palästinas zwischen einem jüdischen und arabischen Staat angenommen hatte. Die Freude und die Erleichterung waren vollkommen.

Das Zögern der USA und anderer Länder, militärisch in Libyen zu intervenieren, war skandalös. Mehr als das – es war ungeheuerlich. Mein Herz ist mit dem libyschen Volk (tatsächlich bedeutet „libi“ auf hebräisch „mein Herz“.)

Für mich ist „Nichteinmischung“ (”non-intervention”) ein schmutziges Wort. Es erinnert mich an den Spanischen Bürgerkrieg, der stattfand, als ich noch sehr jung war. 1936 wurde die spanische Republik und das spanische Volk brutal von einem spanischen General, Francisco Franco, mit aus Marokko importierten Söldnern angegriffen. Es war ein sehr blutiger Krieg mit unsäglichen Grausamkeiten. Franco wurde  entscheidend von Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien geholfen. Die deutsche Luftwaffe terrorisierte spanische Städte. Das Bombardement der Stadt Guernica wurde durch ein Gemälde von Pablo Picasso verewigt. (Man erzählt sich die Geschichte, dass, als die Nazis ein paar Jahre später Paris besetzten,  sie wütend über das Gemälde waren  und  Picasso anschrieen: „Hast du das getan?“ „Nein!“ antwortete er ruhig, „Das wart ihr!“)

Die westlichen Demokratien weigerten sich  hartnäckig, der Republik zu helfen, und prägten den Terminus „Nichteinmischung“. Nichteinmischung bedeutete praktisch, dass Großbritannien und Frankreich nicht intervenierten, während Deutschland und Italien es taten, und sie taten ihr Schlimmstes. Die einzige ausländische Macht, die den belagerten Demokraten half, war die Sowjetunion. Wie wir viel später erfuhren, nutzten Stalins Agenten die Situation aus, um ihre Mitkämpfer zu eliminieren – Sozialisten, Syndikalisten , Liberale und andere. Damals sah es wie ein klarer Kampf zwischen dem Guten und dem absolut Bösen aus. Idealisten aus aller Welt schlossen sich den Internationalen Brigaden der Republik an. Wenn ich nur ein paar Jahre  älter gewesen wäre, hätte ich mich zweifellos auch freiwillig gemeldet. 1948 sangen wir in unserm eigenen Krieg  mit Begeisterung die Lieder der internationalen Brigaden.

Für jemanden, der in der Zeit des Holocaust lebte, besonders  für einen Juden, kann es keinen Zweifel geben. Als dieser vorüber war und das entsetzliche Ausmaß des Genozids bekannt wurde, gab es einen Aufschrei, der noch kein Ende gefunden hat. “Wo war die Welt? Warum haben die Alliierten nicht die Bahnstrecken nach Auschwitz bombardiert? Warum zerstörten sie nicht die Gaskammern und Krematorien in den Todeslagern aus der Luft?” Diese Fragen sind bis zum heutigen Tag nicht befriedigend beantwortet worden. Wir wissen, dass Anthony Eden, der britische Außenminister, Präsident Franklin D. Roosevelt fragte: „Was sollen wir mit den Juden tun [, denen die Flucht gelingt]?“ Wir wissen auch, dass die Alliierten große Angst hatten, als diejenigen angesehen zu werden, die „für die Juden“ den Krieg führten, wie die Nazipropaganda von morgens bis abends behauptete. Tatsächlich warfen die Deutschen Flugblätter über amerikanischen Stellungen  in Italien ab mit dem Bild  eines ekligen  Juden mit krummer Nase, der mit einer blonden Amerikanerin bummelte. Die Überschrift lautete: „Während du dein Leben riskierst, verführt der Jude zu Hause deine Frau!“

Wenn militärische Macht angewandt worden wäre, um die Nazis daran zu hindern, deutsche Juden – und Roma – zu töten, wäre dies definitiv eine Einmischung in innere Angelegenheiten Deutschlands gewesen. Man hätte gut behaupten können, dass es nicht  die Sache eines anderen Staates wäre,  sicher nicht eine ihrer Armeen. Hätte es nun gemacht werden sollen oder nicht? Und wenn die Antwort Ja lautet, warum gilt es für Hitler und nicht für diesen kleinen Führer in Tripolis?

Dies führt uns natürlich direkt zu Kosovo. Dort kam dieselbe Frage auf. Slobodan Milosevic beging einen Genozid – vertrieb ein ganzes Volk, beging  unterwegs unsägliche Grausamkeiten. Kosovo war ein Teil von Serbien und Milosevic behauptete, dass es sich um eine interne serbische  Angelegenheit handele. Als es dann einen weltweiten Aufschrei gab, entschied Bill Clinton, Einrichtungen in Serbien zu bombardieren, um Milosevic dahin zu bringen, aufzugeben. Dem Papier nach war es eine NATO-Aktion. Sie erreichte, was sie wollte, die Kosovaren kehrten in ihre Heimat zurück, und heute haben wir eine unabhängige Republik Kosovo.

Damals applaudierte ich öffentlich – zur Bestürzung vieler meiner linken Freunde zu Hause und überall in der Welt. Sie bestanden darauf, dass das Bombardement ein Verbrechen war, besonders weil es von der Nato durchgeführt wurde, die für sie ein Instrument des Teufels ist. Meine Antwort war, dass  ich, um einen Genozid zu verhindern, bereit sei, sogar einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.

Dies gilt auch für heute. Es ist mir gleichgültig, wer Gaddafis mörderischem Krieg gegen sein eigenes Volk und besonders den Bombenangriffen seiner Luftwaffe ein Ende setzt. Die UN, die NATO oder die USA allein –  wer es auch tut, dem  sei gedankt.

Vor ein paar Tagen, an einem Tag, an dem Gaddafis Piloten wie üblich Libyer töteten, las ich einen Artikel einer amerikanischen Journalistin, die ich sehr mag und schätze. Heftig griff sie die Idee an, dass die USA eine Flugverbotszone über Libyen erzwingen wollen, besonders, da der abscheuliche Paul Wolfowitz dies befürwortete. Es sieht so aus, als sei dies eine interne amerikanische Angelegenheit geworden. Während die extreme Rechte (aus irgendwelchen Gründen „konservativ“ genannt)  – Teapartyer, Neo-Cons und ähnliche –  die Flugverbotszone befürworten, sind politisch korrekte „Liberale“ (noch so eine seltsame Bezeichnung) dagegen. Menschen werden von einem unbarmherzigen, halbverrückten Diktator getötet, ein ganzes Land geht den Bach hinunter – was  zur Hölle hat das mit interner amerikanischer Politik zu tun?  Und warum sind  meine Freunde  in die falsche Ecke manövriert worden?

Barack Obama tat wieder das, was er am besten kann,  all die richtigen Dinge sagen und die falschen tun – oder gar nichts tun. Er sagte zu Gaddafi, er solle gehen, und  sah dann passiv zu, wie der Tyrann, anstatt zu gehen, sein Volk terrorisierte. Sein Verteidigungsminister erzählte jedem, was  für eine unglaublich schwierige Operation eine Flugverbotszone sein würde, seine Generäle warnten vor noch einem Krieg, den sie nicht führen könnten. Die allmächtigen USA sehen aus wie eine vergangene Großmacht, die nicht in der Lage ist, auch nur die kleinste Militäroperation gegen die unbedeutende Luftwaffe eines mickrigen Diktators zu unternehmen. Jeder israelische Luftwaffenkommandeur würde den Job bis zum Mittagessen erledigt  haben.

Wir sind nicht die Polizisten der Welt, behaupteten amerikanische Politiker. Aber genau das ist es, was eine Supermacht ausmacht – Macht bringt Verantwortung. Der erbärmliche Anblick der Obama-Regierung in dieser Krise zeigt, dass die USA nicht länger eine Supermacht sind, sondern nur eine Großmacht, die ängstlich ihre Ölvorräte absichern möchte mit Hilfe von sortierten Königen und Emiren. Nach ihrer kläglichen Kapitulation gegenüber der israelischen rechten Lobby und ihrem Veto gegen die Resolution des UN-Sicherheitsrats  gegen die Vergrößerung der Siedlungen ist der Beschluss wirklich traurig. Zyniker werden sagen, dass die Amerikaner Gaddafi wirklich halten wollten, damit er weiter Öl liefern kann. Genau so unterstützen sie die Autokraten von Saudi Arabien und Bahrein, die ihre Völker unterdrücken und fortfahren, das Öl wie ihren privaten Besitz zu behandeln.

„Nichteinmischung“ lieferte das spanische Volk in die zarte Barmherzigkeit Francos aus und half Hitler im sensibelsten Stadium seiner Kriegsvorbereitungen. Direkte Einmischung dagegen schickte Milosevic ins Kriegsverbrechergefängnis.

Ich möchte meine Position dazu ganz klar machen. Die Doktrin der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder ist, wenn es sich um Genozid und Massentötungen handelt, tot und sollte beerdigt werden, bevor die Leiche zum Himmel stinkt. An diesem Punkt der Geschichte ist es die Pflicht aller Nationen, systematische Grausamkeiten, die von kriminellen Regierungen gegen die eigenen Bürger ausgeführt werden, zu verhindern. Dazu wären internationale Institutionen wie die UN verpflichtet – aber wenn diese, wie so oft, versagen, sind andere Staaten oder Gruppen von Staaten dazu verpflichtet. Man muss der Arabischen Liga, zu der 22 arabische Nationen gehören, zugutehalten, dass sie unmissverständlich für eine militärische Einmischung gegen Gaddafi ist – wenn auch nicht gegen alle arabischen Tyrannen, von denen einige  für die Resolution stimmten.

Vor Jahrhunderten wurde akzeptiert, dass jede Nation für das Fangen und Verurteilen von Piraten verantwortlich war – ganz egal, wo und gegen wen  deren Verbrechen begangen wurde. Dieses Prinzip sollte jetzt bei Verbrechen angewandt werden, die Regime gegen ihr eigenes Volk begehen. Muammar Gaddafi sollte gefangen und vor Gericht gestellt werden.

Menschlichkeit bewegt sich auf eine zivilisierte Weltordnung hin.  Nichteinmischung ist das genaue Gegenteil. Die eilige Resolution des  UN-Sicherheitsrats am Donnerstag war ein historischer Schritt in diese Richtung. In meiner Phantasie sah ich Minuten, nachdem die Stimmen abgezählt waren, französische Flugzeuge auf den Startbahnen rollen. Das ist nicht geschehen. Aber Libyen ist gerettet und Gaddafis Schicksal ist besiegelt.

Im internationalen Sprachgebrauch ist Nichteinmischung in der Tat ein schmutziges Wort geworden.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs (Bearbeitung: Markus Weber)
Der englische Text ist hier zu finden: A Dirty Word

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