Heute vor 10 Jahren verkündete Gerhard Schröder im Bundestag die Grundzüge der „Agenda 2010“ und leitete damit eine radikale Wende in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland ein. Parteifunktionäre, Wirtschaftsbosse und Arbeitgeberlobbyisten mögen in diesen Tagen mit Sekt und Champagner anstoßen. Den Menschen, die Opfer dieser Politik wurden, wird nicht zum Feiern zumute sein – und im Hartz-IV-Regelsatz ist ohnehin nur Mineralwasser vorgesehen.
Beschäftigungsbilanz der Agenda 2010
Auch wenn sich die Medienlandschaft in den vergangenen Jahren ein wenig gewandelt haben mag und nun auch vereinzelt in den Mainstream-Medien Kritik an der Agenda-Politik vernommen werden kann, ist immer wieder – und zwar nicht nur von entschiedenen Befürwortern der Agenda 2010 – zu hören, es sei „immerhin unbestreitbar“, dass durch die Agenda-Politik “im Vergleich zu anderen Ländern Deutschland so gut durch die Finanzmarktkrise” gekommen sei. Hinterfragt wird dies nicht – neoliberale Meinungsmache setzt nicht auf argumentative Beweisführung, sondern auf die selben immer und immer wieder wiederholten apodiktischen Slogans. Ein objektivierterer Blick auf die Bilanz der Agenda 2010 findet heute woanders statt, etwa in Blogs wie auch in nicht wirtschaftsliberal dominierten Teilen der Wissenschaft.
So hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung Beschäftigungseffekte der Agenda 2010 untersucht. Dabei ist festzustellen: Die Erwerbstätigenzahl ist in den vergangenen Jahren zweifelsohne stark gestiegen (eines der stärksten Argumente der Agenda-Befürworter). Jedoch hat dabei das Arbeitsvolumen, die Zahl der geleistet Arbeitsstunden, stagniert (dieser Befund wurde auch von der Bundesregierung bestätigt). Es gibt mehr Beschäftigte, aber auch weniger regulär Beschäftigte, mehr Teilzeitstellen und Minijobs. Im Wirtschaftsaufschwung nach der Agenda-Politik wurden zwar mehr Arbeitsplätze geschaffen als in dem vor der Agenda – jedoch nur, weil dieser auch länger dauerte. Die Beschäftigungsintensität (der Beschäftigungszuwachs pro Wirtschaftswachstum) war vor der Agenda sogar etwas höher. Vor allem die gute Konjunktur führte also zur Zunahme der Beschäftigung. Hauptverantwortlich für die heutige Beschäftigtenzahl ist aber – ausgerechnet – die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009; denn in dieser nahm die Beschäftigung, im Gegensatz zu fast allen anderen betroffenen Ländern, sogar leicht zu. Woran lag das? An der Stabilisierungspolitik, Konjunkturprogrammen, Kurzarbeit sowie an Arbeitszeitkonten in Unternehmen, die eine hohe Flexibilität ermöglichten und Entlassungen vermieden. Zusammenfassendes Ergebnis der Studie: “Hartz & Co. haben weder das Wachstum noch die Beschäftigung erkennbar beeinflusst.” (more…)
Nachdem der Regelsatz beim ALG II zum 1.1.2011 um ganze fünf Euro angehoben wurde und er damit nach Ansicht vieler Kritiker weiterhin deutlich zu niedrig liegt, legt Lutz Hausstein nun, wie bereits im letzten Jahr, eine neue, ausführliche Bedarfsermittlung vor. Wie auch andere Berechnungen, beispielsweise die des Bündnisses für einen 500-Euro-Eckregelsatz, kommt Hausstein zu dem Ergebnis, daß der aktuelle Regelsatz nicht den tatsächlichen Bedarf deckt und somit den verfassungsmäßigen Vorgaben nicht entspricht. Die Weiterverbreitung unter CC 3.0 de (BY-NC) ist vom Autor ausdrücklich erwünscht und die Untersuchung steht hier auch als PDF-Datei zum Download zur Verfügung.
Die Bundesregierung plant, die Zuschüsse für die sogenannten „Ein-Euro-Jobs“ zu kürzen und strengere Richtlinien für diese aufzustellen. Dadurch wird deren Zahl zukünftig stark eingeschränkt werden. Dieses Vorhaben ist ein richtiger Schritt, da in der Vergangenheit dieses arbeitsmarktpolitische Instrument sehr oft nicht in seinem eigentlichen Sinne benutzt wurde und Erfolge nahezu komplett ausblieben. Zudem stellt sich aber nun um sehr mehr auch die Frage, ob die Ein-Euro-Jobs und die hinter ihnen stehenden Ideen überhaupt sinnvoll sind – oder nicht gleich ganz abgeschafft gehören.
Konzept und Ziele der Ein-Euro-Jobs
Die im offiziellen Neusprech “Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung” genannten Ein-Euro-Jobs wurden in Deutschland seit 2005 im Zuge der Hartz-Gesetze stark ausgebaut. Dabei handelt es sich um Arbeitsmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger, die für drei bis zwölf Monate für 15 bis 30 Stunden die Woche bestimmte Tätigkeiten, die „im öffentlichen Interesse liegen“, ausführen. Sie erhalten dafür zusätzlich zu den Hartz-IV-Bezügen einen Stundenlohn von meist zwischen 1 und 1 Euro 50. Es kann sich dabei beispielsweise um Tätigkeiten wie Park- oder Landschaftspflege, Hausmeistertätigkeiten oder Hilfe in Pflegeeinrichtungen handeln. Die Beschäftigungsträger der Ein-Euro-Jobber, bei denen es sich meist um Kommunen, Verbände, öffentliche Unternehmen oder (auch private) Wohlfahrtskonzerne handelt, erhalten für die “sozialpädagogische Betreuung” der Teilnehmer zudem bis zu 500 Euro im Monat. Als Grund wird angeführt, dass vor allem solche Personen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben, durch diese Maßnahmen, wie man sich ausdrückt, “gefördert” werden sollen.
Diese “Förderung” ist jedoch nicht freiwillig: Bei Ablehnung droht eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II für drei Monate um mindestens 30%. Solche Sanktionen kommen keineswegs selten vor. So wurden im letzten Jahr 102.631 Sanktionen ausgesprochen, weil die Betroffenen sich weigerten, eine als zumutbar eingestufte Arbeit, Ausbildung oder einen Ein-Euro-Job anzunehmen. Der Begriff “Zwangsarbeit” wäre also für Ein-Euro-Jobs zumindest nicht immer unangebracht. Als Ziel der Ein-Euro-Jobs wird angegeben, vor allem Langzeitarbeitslose an den Arbeitsalltag und einen Tagesrhythmus zu gewöhnen, die Arbeitsdisziplin zu stärken und ähnliches. Jede Art von Arbeit für Arbeitslose steigere deren Beschäftigungsfähigkeit und ihre sozialen Fähigkeiten, so eine der Ansichten dieses im Gedankengebäude des Workfare entwickelten Konzepts. Zudem könne ein zusätzlicher Nutzen durch Arbeiten für die Gesellschaft entstehen, für die keine Nachfrage in der Privatwirtschaft gegeben ist. Sie werden zudem statistisch nicht als Arbeitslose gezählt – was ein weiterer Grund sein dürfte.
Mit pro Jahr 600.000 bis 700.000 teilnehmenden Personen sind Ein-Euro-Jobs das am häufigsten eingesetzte Aktivierungsinstrument im Rechtskreis des SGB II. Im März 2011 lag laut Bundesagentur für Arbeit die Zahl der Ein-Euro-Stellen bei 172.400. Dies ist schon deutlich weniger als in den letzten Jahren, in Spitzenzeiten gab es bis zu 300.000 Teilnehmer. Die Gesamtkosten sind dadurch trotz der äußerst niedrigen Verdienstmöglichkeiten recht hoch: Im Jahr 2010 wurden für Ein-Euro-Jobs insgesamt 1,7 Milliarden Euro ausgegeben. Bei derartigen Ausgaben stellt sich die Frage, wie die Realität der Ein-Euro-Jobs aussieht und ob sie effektiv sind. (more…)
Die Einführung eines allgemeinen, flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland würde viele Vorteile bringen.
Zunächst einmal dient er natürlich ganz unmittelbar der Verhinderung von Armutslöhnen. Das Argument der Neoliberalen, dass Arbeitnehmer, die von ihren Löhnen allein nicht leben können, “eben zu unproduktiv sein”, ist einfach nur zynisch. (Die Neoliberalen verfallen hier nebenbei dem klassischen Marxschen Warenfetischismus. Der Wert der Arbeit zeigt sich im Kapitalismus nur im Tauschwert und nicht in geschaffenen Gebrauchswerten.) Auch wenn die Neoklassiker davon ausgehen, dass es sich beim Arbeitsmarkt um einen perfekten Markt handelt, liegen sie falsch. Und wer sagt, dass jemand mit einer solchen Einstellung nicht eines Tages dafür plädiert, die Lohnzuschüsse für die “unproduktiven” einfach einzustellen? Jeder ist doch ausschließlich für sich selbst verantwortlich in dieser Gesellschaft.
Der Neoliberalismus setzt derzeit auf Kombilöhne. Diese Methode der staatlichen Bezuschussung von Niedriglöhnen (“Aufstocken”), die für über 1 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland gezahlt werden, setzen falsche Anreize, führen zu einer Plünderung des Staates durch Unternehmen, die reguläre Beschäftigung durch Niedriglöhner ersetzen, und vergrößern den Niedriglohnsektor in Deutschland weiter (ausführlicher in Kombilöhne: sinnvoll oder nicht?). Gegen diese Entwicklungen hilft ein Mindestlohn. Auch die Forderung “Arbeit muss sich lohnen” und die nach einem Abstand zwischen Löhnen und Transfereinkommen werden statt durch immer weiteres Senken der Sozialleistungen bis unter das Existenzminimum viel besser durch einen Mindestlohn gewährleistet.
Schließlich führt ein Mindestlohn zu einer Steigerung der Nachfrage und des Binnenkonsums, die in Deutschland dringend gegeben ist. In keinem anderen Industrieland sind die Löhne (in den letzten Jahrzehnten wie auch in den unmittelbar letzten Jahren) so wenig gewachsen wie in Deutschland; die Lohnquote fällt dramatisch. Durch seine enorme Exportabhängigkeit, die mit Lohndumping erkauft wurde, gefährdet Deutschland enorm die Stabilität der Eurozone, mehr als die Defizit”sünder”. (more…)
Die Einigung zu Hartz IV: Nur geringe Verbesserungen
Man hat sich also geeinigt bei den neuen Hartz-IV-Sätzen: Fünk Euro mehr gibt es dieses Jahr (rückwirkend zum 1. Januar), noch mal drei Euro nächstes Jahr. Diese Erhöhung liegt jedoch nur im Rahmen der Lohn- und Preisentwicklung – an Verbesserungen wurde hier also im Endeffekt gar nicht erreicht. Die Regelsätze für Kinder bleiben unverändert.
Auch die anderen Veränderungen am Gesetz sind von durchaus überschaubarer Reichweite. 400 Millionen Euro sollen zur Umsetzung des Bildungspaketes zur Verfügung gestellt werden, vor allem die Kommunen bekommen hierfür nun mehr Geld zugesprochen. Der Empfängerkreis des Bildungspaketes wurde ein wenig ausgeweitet; die Höhe der Sätze für die Kinder und Jugendlichen bleibt aber.
Für das Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie die Weiterbildungsbranche soll es künftig über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz Mindestlöhne geben, für Zeitarbeiter über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Die Branchen hatten diese jedoch bereits vereinbart. Außerdem muss man anmerken, dass selbst die Union und die Arbeitgeberverbände für Leiharbeiter ohnehin Mindestlöhne beschließen wollten. Eine gleiche Entlohnung von Stammbeschäftigten und Leiharbeitern gibt es weiterhin nicht. Die Hartz-IV-Reform soll am Freitag im Bundesrat beschlossen werden. (more…)
Nach noch nicht einmal einem Jahr Regierungszeit denkt man, die schwarz-gelbe Bundesregierung habe bereits fast alle Klientelinteressen bedient. Doch sie hat noch viele Vettern, deren Taschen gefüllt werden wollen. Jetzt ist die Versicherungswirtschaft dran: Schwarz-Gelb ist im Augenblick dabei, die Renten-, Kranken- und Lebensversicherung auf private Kapitaldeckung umzustellen und den privaten Versicherungen Gelder zuzuschanzen.
Die Bundesregierung plant, die Lebensversicherer in Deutschland steuerlich zu entlasten. Diese können ihren Kunden zur Zeit weniger Zinsen zahlen als versprochen. Dies ist natürlich ein Offenbarungseid, dass die seit Jahren laufende, von vielen Medien unterstützte Kampagne gegen die gesetzliche Rente und für private Zusatzversorgung von Anfang an ein zum Scheitern verurteiltes Projekt war. Es diente nie der besseren Versorgung im Alter, sondern nur dem kurzfristigen Verdienen von extrem hohen Geldsummen im privaten Versicherungssektor. Nun, da die wirtschaftlichen Realitäten diesen einholen, werden wieder öffentliche Gelder investiert, um der Finanzwirtschaft weiterhin Gewinne zu ermöglichen.
Auf den Weg weg von der staatlichen hin zur privaten Vorsorge will die Regierung auch andere Versicherungen bringen: So soll die Pflegeversicherung auf private Kapitaldeckung umgestellt werden. Zur Zeit wird sie paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt, künftig will man gesetzlich die Bildung eines Kapitalstocks zur Absicherung künftiger Pflegerisiken einführen. Dies bedeutet nicht nur steigende Beiträge, sondern eine Art Kopfpauschale bei der Pflegeversicherung. Wie gut man im Falle eines Falle gepflegt werden wird, wird so vom vorherigen Einkommen abhängen. (more…)
Einige Indizien weisen darauf hin, dass die Bundesregierung bei der Ermittlung der neuen Hartz-IV-Regelsätze getrickst hat, um auf eine von vornherein feststehende Summe (für alleinstehende Erwachsene 364 Euro) zu kommen. Die Vorwürfe besagen im Kern, dass es sich dabei viel mehr um eine politisch gewollte statt einer objektiv ermittelten Größe handelt und die Regelsätze künstlich heruntergerechnet wurden, um die Ausgaben so gering zu halten.
Träfe das zu, hätte die Bundesregierung grob die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes missachtet und ihnen sogar gezielt zuwidergehandelt. Eine Sammlung der bisher bekanntgewordenen Indizien, die diesen Verdacht erwecken können:
1. Bereits am 27. Oktober 2008 war in einem Bericht der Bundesregierung für 2010 ein Existenzminimum von eben genau 364 Euro vorgesehen. Wirklich nur ”ein reiner Zufall, ein Kuriosum”, wie die Regierung sagt? Und ist es ebenso ein “Zufall”, dass die Erhöhung erstaunlich genau in dem von Regierungspolitikern vorher geforderten Rahmen blieb?
2. Die Rohdaten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, auf deren Grundlage die Berechnung des Existenzminimums erfolgte, werden von der unter Verschluss gehalten und nicht einmal dem Bundestag zugänglich gemacht. Handelt man so, wenn man nichts zu verbergen hat?
3. Probleme und Verdachtsmomente treten auch schon bei der Berechnungsgrundlage auf: Bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wurden nicht, wie bei vorherigen Berechnungen, die ärmsten 20% bei den Einpersonenhaushalten, sondern diesmal die ärmsten 15% zugrunde gelegt (was einem Einkommen vom 901 statt 990 Euro entspricht). Außerdem werden verdeckt arme Familien herausgerechnet, Personen, die neben einer Arbeit Hartz IV beziehen, jedoch ohne jeden ersichtlichen Grund hereingerechnet. Es werden also Transferbezieher hinzugezogen, obwohl dies natürlich zu statistischen Zirkelschlüssen führt und überhaupt nicht im Sinn der Sache ist. All dies führt jeweils zu niedrigeren Beträgen als in einer nachvollziehbareren Berechnung. NACHTRAG (Danke, Katrin!): Noch einmal genauer: Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich geschrieben, dass in der Referenzgruppe keine Transferleistungsempfänger selbst sein dürfen, und dass deren Einkommen “statistisch zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle” liegen soll. Beides ist grob missachtet worden.
UPDATE (12.10.2010): Nun hat die Bundesregierung offiziell bestätigt, bei den Referenzgruppen getrickst zu haben. Menschen ohne Arbeit und Transferleistungsempfänger wurden dort miteinberechnet, Geringverdiener machen nur einen kleinen Teil aus. In der Referenzgruppe sind lediglich 19.6% sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, 4% sind Selbstständige. Es ist also noch nicht mal ein Viertel erwärbsttätig. 37 Prozent sind Kleinrentner und -pensionäre. Und Arbeitslose sind durchaus vertreten: 20 % sind entweder ALG-I-Bezieher oder “Aufstocker”, 18% sonstige Nichtserwerbstätige. (more…)
Nun ist also bekannt, wie die Bundesregierung die ALG-II-Regelsätze künftig regeln will. Es wird eine geringfügige Erhöhung geben – für einen alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger um fünf Euro. Dies bedeutet dann 364 statt bisher 359 Euro. Grundlage ist dabei die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 des Statistischen Bundesamtes – diese jedoch nun mit zahlreichen Kürzungen. Alkohol und Tabak werden künftig nicht mehr mit einberechnet – jedoch auch Tierfutter, Blumen oder Handys werden nun nicht mehr zugestanden. Die nur fünf Euro Erhöhung erscheinen so viel eher politisch (willkürlich) gewollt als mit Argumenten begründet.
Erinnern wir uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar dieses Jahres entschieden, dass die bisherige Berechnung der Hartz-IV-Sätze grundgesetzwidrig sei. Jedem Bürger stehe ein menschenwürdiges Existenzminum zu. Das bedeutet:
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Das Urteil besagte nicht, mit welcher Methode die Regelsätze künftig ermittelt werden sollten. Die Bundesregierung entschied sich nun, weiterhin einen statistischen Warenkorb zugrunde zu legen. Doch hier gibt es schon eine erste Abweichung – und die zeigt, dass es eine politische Entscheidung war, dass die Erhöhung nicht zu stark ausfallen sollte: statt der ärmsten 20% der Haushalte werden nun bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die ärmsten 15% zugrunde gelegt – was die Beträge natürlich sinken lässt.
Was aber noch wichtiger ist: das Existenzminimum wird weiterhin nicht (absolut) definiert, es bleibt abhängig vom Lohnniveau – und damit auch vom wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland. Sinken die Einkommen und damit die Ausgaben der ärmsten Haushalte in Deutschland, sinkt so auch das durch Hartz IV zu gewährleistende Existenzminimum. Und so könnte es natürlich auch schon jetzt der Fall sein, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum, wie es das Verfassungsgericht definiert, auch jetzt nicht gewährleistet ist. (more…)
Als das Bundesverfassungsgericht am 09. Februar 2010 sein Urteil zur Höhe der Hartz-IV-Regelsätze fällte, stellte es in seiner Begründung unter anderem folgendes fest:
„Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen.“
„Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.“
„Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen.“
„Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres von 207 Euro genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, weil es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro abgeleitet ist.“
„Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“
Diese Aussagen des BVerfG sind selbst für juristische Laien verständlich und können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes für Erwachsene ist nicht verfassungsgemäß ermittelt worden.
Da die Höhe des Regelsatzes für Kinder (wie auch für Paare in den sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“) direkt aus der Regelsatzhöhe für Erwachsene abgeleitet wird, ist diese ebenfalls nicht verfassungsgemäß.
Für die Ermittlung des Hartz-IV-Eckregelsatzes ist bis zum 31.12.2010 ein Verfahren festzulegen, welches den realen Bedarf des physischen Existenzminimums sowie einer angemessenen sozio-kulturellen Teilhabe abdeckt sowie auf transparente und nachvollziehbare Weise ermittelt und veröffentlicht wird.
Dem BVerfG ist es unmöglich, die Höhe des aktuell angewandten Regelsatzes zu bewerten. Es kann diesen weder als „ausreichend“ noch als „nicht ausreichend“ quantifizieren, da die Methoden zu dessen Ermittlung nicht nachvollziehbar sind.
Vor einer Woche hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Berechnung der Hartz IV-Regelsätze gegen das Grundgesetz verstößt und bis zum 1. Januar 2011 neu geregelt werden muss. Was besagt das Urteil genau und was können mögliche Konsequenzen sein?
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Das Bundesverfassungsgerich hat nun endgültig klargestellt, dass jeder Bürger einen unbedingten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Es hat dabei in seinem Urteil auch erstmals genau ausgeführt, was dieses beinhaltet:
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Der Anspruch müsse den “gesamten existenznotwendigen Bedarf” des Menschen decken. Es ist zweifellos ein Erfolg, war aber indes überfällig, dass dies endlich juristisch festgestellt wurde. Über die konkrete Höhe der Leistungen, die ein sozio-kulturelles Eistenzminimum darstellen, hat das BVerfG indes nicht geurteilt; zu den derzeitigen jedoch hat es gesagt, sie seien nicht offensichtlich unzureichend. Gerade dies hat (in seiner Unkonkretheit) manche Erwartungen, die vielleicht in das Urteil gesetzt wurden, enttäuscht.
Das Abstellen des menschenwürdigen Existenzminimums auf „gesellschaftliche Anschauungen“ und auf „wirtschaftliche Gegebenheiten“ lässt das Pathos über die zu wahrende „Würde“ des Menschen bei der Begründung des Leistungsanspruchs angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit und des Lohndumpings der letzten Jahre als ziemlich hohl erscheinen. Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut (NachDenkSeiten)
Für das BVerfG sind die Hartz IV-Sätze also nicht zwangsläufig wegen ihrer Höhe verfassungswidrig. Allerdings haben die verschiedenen Bundesregierungen nun seit nunmehr fünf Jahren gegen das Grundgesetz verstoßen (es werden am Ende sechs Jahre sein, da die Regierung und speziell das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis Anfang 2011 Zeit haben werden, die Leistungen grundgesetzkonform zu regeln).
Ende der Willkür
Laut BVerfG sei das Verfahren nur wegen der Intransparenz und fehlenden Sachgerechtigkeit der Berechnung der Regelsätze, bei der oft nur “ins Blaue hinein” geschätzt worden sei, nicht verfassungsgemäß . Dass die Ermittlung der Regelsätze methodisch höchst unsauber und wenig fundiert war, willkürliche Kürzungen vorgenommen wurden und die Höhe nach den politisch vorgegebenen Leitlinien angepasst wurde, war lange bekannt (und auch neoliberale Ökonomen mussten dies als Schandfleck am von ihnen so geliebten ALG II zugestehen). Besonders abstrus waren die Methoden natürlich bei den Sätzen für die Kinder, wo laut dem Urteil allein schon Alltagserfahrungen einen besonderen Bedarf nahelegten, jegliche Ermittlungsversuche des tatsächlichen Bedarfs von Kindern seitens des Gesetzgebers aber ausblieben.
Wie genau die Sätze neu berechnet werden soll, ist in dem Urteil nicht gesagt. Methodisch gibt es da sicher einige sinnvolle Ansätze – und so gut wie alle Ansätze sind besser als das bisherige Vorgehen. Das bisherige Statistikverfahren, bei dem die Leistungen anhand der Ausgaben der ärmsten 20% der Bevölkerung minus Abschläge berechnet werden, bleibt ausdrücklich möglich. Dies kann jedoch auch bedeuten, dass bei sinkenden Löhnen im Niedriglohnsektor auch die Sozialleistungen immer weiter sinken werden. Ein Warenkorb-Modell (welches vor Hartz IV für die Berechnung der Höhe der Sozialhilfe herangezogen wurde), das um sozio-kulturelle Ausgaben erweitertert wäre, wäre deutlich sinnvoller, da es den tatsächlichen Bedarf ermittel und absolute Bedarfszahlen liefert und nicht nur relative und nur monetäre Größen.
Aber zumindest ist die von einer unerträglichen Überheblichkeit und Abgehobenheit charakterisierte Willkür nun vorbei, in der es die politsch Machthabenden noch nicht einmal für nötig hieleten, für gerade die Allerärmsten un -schwächsten der Gesellschaft festzustellen, ob für sie überhaupt ein menschenwürdiges Leben gewährleistet ist, ob wenigstens ihr Existenzminimum tatsächlich gesichert ist.
Keine Grundsatzentscheidung gegen Hartz IV
Ich wäre froh, wenn die Entscheidung, wie es manche – wie ich denke in überschwinglicher Freude – eingeschätzt haben, ein Urteil gegen Hartz IV insgesamt dastellen würde. Aber das ist es nicht. Das Grundprinzip von Hartz IV wurde nicht in Frage gestellt, auch nicht das grundsätzliche Berechnungsverfahren, eben nur die Umsetzung.
Allerdings spielen bei solchen Entscheidungen immer politische und ethische Gesichtspunkte mit hinein, die man in der Tat nicht bloß rechtlich regeln kann. Da laut dem Urteil aber auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet werden muss, hätte man vielleicht doch die Festsetzung ein paar gewisser Mindeststandards erwarten können. Denn nur durch die Konkretisierung der Vorgaben der Verfassung, auch möglicherweise hinsichtlich gewisser Messwerte, überschreitet das BVerfG ja nicht seinen Aufgabenbereich oder seine Kompetenzen.
Wie geht es also weiter mit Hartz IV? Vielleicht gibt es ein Reset und vielleicht sogar einen schicken neuen Namen, wie es sich Zensursula vorstellt. Einen tatsächlichen anderen Charakter wird dieses aber dann kaum haben, geschweige denn, dass es viele Vorteile bringen wird, das wage ich hier einmal vorausszusagen.
Was können wir für die Höhe der Leistungen erwarten?
Die Entscheidung wird voraussichtlich dafür sorgen, dass die derzeitigen Leistungen nicht noch weiter gesenkt werden können. Eine spürbare Erhöhung der Sätze, außer denen für Kinder (wo das Gericht sehr deutlich geworden ist, so dass man folgern kann, dass die jetzigen Leistungen offensichtlich nicht genügen und v. a. gröbst willkürlich sind), die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen dringend nötig wäre, kann man aus dem Urteil aber nicht ohne weiteres zu erwarten haben. Wie sorgfältig die Politik bei den neuen Regelungen vorgehen wird, ist auch nicht klar. Zumindest wird sie mit allen Mittel bemüht sein, dass der das dann “ermittelte” Existenzminimum im Bereich des jetzigen Quasi-Zufalls-Wertes liegt.
Denn das Urteil beinhaltet keine Rückwirkung. Eventuelle Ansprüche auf höhere Leistungen, da die jetzigen laut BVerfG bis 2011 ja verfassungswidrig sind, wird man nicht geltend machen können, auch wenn 2011 höhere (und dann verfassungsgemäße Sätze) beschlossen werden sollten. Sprich (wenn die Leistungen höher sein werden): alle Hartz IV-Empfänger, die sechs Jahre lang zu niedrige Leistungen bekommen haben , haben Pech gehabt. Begründet wird dies vom BVerfG u. a. mit dem Schutz der öffentlichen Haushalt. Fiskalpolitisch vielleicht noch nachzuvollziehen, fällt dies rechtlich da schon schwerer. Nur ein Punkt, an dem wirtschaftliche Erwägungen und juristische aufeinandertreffen. Aber die Folge der fehlenden Rückwirkung kann auch schon abgesehen werden: natürlich besteht jetzt die Gefahr, dass die Bundesregierung, zudem eine moralisch derart unbefleckte wie die jetzige, auch in Zukunft verfassungswidrige Gesetze zunächst erlassen wird. Falls sie dann vom BVerfG einkassiert werden sollten, hat man zumindest mehrere Jahre lang schon mal einiges sparen können.
Das Gericht hat außerdem festgelegt, dass man in Ausnahmefällen einen Rechtsanspruch auf Zusatzleistungen hat, um „besonderen Bedarf zu decken, wenn es im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist“, etwa im Falle von Krankheiten. Es war in der Tat einer der größten Skandale dieser Gesetzgebung, dass dies bisher nicht möglich war – und oft nur zynisch kommentiert wurde, man könne ja sparen oder einen Kredit aufnehmen, um sich etwa Medikamente kaufen zu können. Die ganze menschenverachtende Haltung der Macher dieser Politik tritt hier noch deutlicher als anderswo zu Tage.
Und die Menschenverachtung zeigt sich noch in einem anderen Aspekt: in der Praxis, Menschen mit dem Wegfall des Existenzminmums zu bedrohen und dieses an Arbeitspflicht zu binden. Sogar Kürzungen des Existenzminimums um 100%, also die absolute Streichung der zum Leben notwendigen Mittel, werden zur Zeit vollzogen. Folgt man den Buchstaben des Urteils, so wäre dies eigentlich ab 2011 nicht mehr möglich. Allerdings hat das Gericht nichts Konkretes zu den Sanktionen gesagt. Möglicherweise, so vermuten einige Kommentatoen, wird diese Frage also noch juristisch zu klären sein.
Welche politischen Chancen bieten sich?
Wer geglaubt hat, dass in einem umfassenden System wie der derzeitigen Ausgestaltung des Kapitalismus eine Instanz, die Teil dieses Systems ist, einen grundlegenden Richtungswechsel vorgeben wird, der hat dessen gesellschaftliche Totalität unterschätzt. Eine andere, eine gerechtere, sozialere und menschenwürdigere Gesellschaftsform muss meist erstritten werden gegen die Bewahrer des Status Quo.
Letzlich ist es eine Frage politischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, ob in einem Land mit einem so großen Reichtum wie dem unsrigen allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden soll – oder ob es für viele Menschen, wie die rechtskonservativen und neoliberalen Workfare-Vertreter wollen, so hart, so unangenehm, so unmenschlich wie möglich sein soll. Die harschen Reaktionen auf das Urteil dieser Seite zeigen, dass sie sich bereits angegriffen fühlt und sich nicht anders weiterzuhelfen weiß als mit wüsten Beschimpfungen und Diffamierungen, ja dass sie gar die allmählich die Fassung zu verlieren droht, und sich dadurch auch bei ihren Anhängern immer mehr diskreditiert.
Wenn einmal die Gelegenheit da ist, erfolgversprechend alternative Konzepte zum Neoliberalismus in den öffentlichen Diskurs einzubringen, wenn erstmals seit Jahren Hartz IV als ein wesentlicher Bestandteil der Umsetzung dieses Konzeptes in Deutschland sich einer grundlegenden Kritik unterziehen muss, und wenn gar die Möglichkeit bestehen sollte, einen grundlegenden gesellschaftlichen Stimmungswandel zu erreichen, dann sollte man diese nicht ungenutzt lassen. Und wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür, ob gewollt oder nicht, Ankünpfungspunkte bietet, dann sollte man diese wahrnehmen.