Kann man moderne Erscheinungen auf Grundlage einer marxistischen Theorie, v.a. der Marxschen Werttheorie, deuten? Mal ein Gedankenspiel: wie würden Karl Marx und Friedrich Engels z.B. den Wandel des Kapitalismus hin zu einer neoliberalen Variante erklären? Was würden sie, um etwas noch Aktuelleres zu nehmen, zur Agenda 2010 und zu Hartz IV sagen?
Beispiel 1: Neoliberalismus
Marx und Engels beklagten das Denken in Tauschverhältnissen. In den kapitalistischen Systemen herrscht aufgrund der die gesellschaftlichen Beziehungen dominierenden Wertstrukturen eine Tauschrationalität, der nur Gleichwertiges gilt, die von konkreten Eigenschaften abstrahiert.
Heute werden immer mehr gesellschaftliche Bereiche unter Marktmechanismen (als Kapitalverwertungsprozesse) unterworfen; der Ökonomisierungsprozess, den bereits Marx prognostiziert hat, nimmt immer weitere Ausmaße an. Der Spätkapitalismus hat sich vom Wohlfahrtsstaat und organisierten Kapitalismus gewandelt und mehr Züge eines liberalen, finanzmarktgesteuerten, marktbasierten Kapitalismus angenommen. Es gibt kaum einen Bereich mehr, in dem nicht die Kategorien des Marktes und der Konkurrenz gelten. Die Beschäftigten sind nicht mehr nur für den Gebrauchswert-, sondern auch für den Verwertungsapekt ihrer Arbeit zuständig. Die Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ist eher noch stärker geworden. Wie Arbeit (und zwar für Kapitalisten wie Arbeiter) immer öfter nur noch Mittel zur Produktion von mehr Geld – als mehr Tauschwert – ist, so werden auch die Beziehungen der Menschen immer mehr von einer Tauschrationalität erfasst. Die Marktbeziehungen und ihre Rationalität weiten sich auf immer mehr gesellschaftliche eaus. Die Grundstrukturen des Kapitalismus sind nicht auf Produktion und Distribution beschränkt.
„Zweckrationales“, manipulatives Denken, Atomisierung und Egoismus kennzeichnen die Industriegesellschaften nach der geistig-moralischen Wende zum Neoliberalismus, die sich als alternativlose darstellen wollen. Angesichts dieser Entwicklungen bieten sich an die Marxsche Analyse der Wertform anlehnenden Konzepte (etwa der Kritischen Theorie) wertvolle Hilfen zur Deutung dieser Vorgänge, auch wenn die Gegenmittel, die sie bieten kann, aufgrund ihrer Radikalität immer schwieriger durchsetzungsfähig erscheinen.
Beispiel 2: Agenda 2010 und Hartz IV
Nach der neoklassischen Wirthschaftslehre, der die Konstrukteure und Befürworter von Maßnahmen wie der Agenda 2010 und Hartz IV folgen, entsteht Arbeitslosigkeit, wenn die Lohnhöhe über der Grenzproduktiität der Arbeit liegt. Durch Hartz IV wurde gezielt das Lohnniveau gedrückt, im Niedriglohnbereich auf eben das gesunkene Niveau der Sozialleistungen, aber auch in den anderen Bereichen kam es oft zu Reallohnsenkungen. Der Niedriglohnsektor ist massiv expandiert. Und selbst auf einem Niveau, das kaum über dem von Hartz IV liegt, werden die Menschen nun gezwungen, jede Arbeit anzunehmen. Und da nun die Löhne, wie beabsichtigt, so stark gesenkt wurden, dass sie oft auf Hartz IV-Niveau liegen, sollen wiederum die Sozialleistungen gesenkt werden. Begründet wird dies dann mit dem “Lohnabstandsgebot”. Doch gerade so ein Vorgehen wurde auch mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe plus der Senkung verfolgt. “Arbeit muss sich wieder lohnen”. Doch wenn die Löhne fallen, ist die Folge für die marktradikalen Agitatoren und die Mietmäuler der Arbeitgeber-Lobbys nicht eine (wie auch immer zu erreichende) Erhöhung der Löhne, sondern wiederum eine nochmalige Senkung der Sozialleistungen. Ein Teufelskreis in den Abgrund.
Die Politik folgte bei Hartz IV altbekannten Mustern des Kapitalismus, zumal seiner neoliberalen, marktradikalen Ausprägung. Marx hatte erkannt, dass der Arbeitsmarkt ein besonderer Markt ist, da die Arbeiter, da nicht im Besitz von Produktionsmitteln, nur ihre Arbeit zu verkaufen hätten:
Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner
Arbeitskraft nötigen Sachen.
(Das Kapital Band I, Erstes Buch, Viertes Kapitel)
Marx sagte, dass das Kapital dazu tendieren wird, der Arbeit nur das zu bezahlen, was sie zu ihrer Erhaltung und Reproduktion (sprich: zum Überleben und sich Vermehren) benötigt (den übrigen Wert, den die Arbeiter schaffen, eignen sich die Kapitalisten als Mehrwert an und schaffen dadurch Kapital). In Zeiten, in denen das Reserveheer der Arbeitslosen im Millionenbereich liegt, tritt selbst dieser Minimalaspekt in den Hintergrund. Der Wert, den das Kapital der Arbeit zu zahlen bereit ist, hat laut Marx immer ein historisches und moralisches Element. In den letzten Jahrzehnten sind in Deutschland trotz kontinuierlichem Wirtschaftswachstums die Löhne real gesunken (von 2000 bis 2007 etwa als dem einzigen EU-Land), hat die Lohnquote massiv abgenommen. Das Kapital hat es geschafft, seine Gewinneinkünfte massiv zu steigern. Diese Gewinne aber werden zu einem sogar abnehmenden Teil für Investitionen verwendet, sondern gehen immer mehr in Spareinkommen und suchen sich Betätigungfelder auf den Finanzmärkten. Auf diesen nun ist der Tauschwert (das Geld) vollkommen vom Gebrauchswert (der Nützlichkeit der Verwendung von Gütern) entkoppelt, der Fetischismus des Geldes zur höchsten Stufe erklommen.
Auch die Bezahlung der Arbeit ist von ihrem Gebauchswert, von ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit entkoppelt. Der Arbeitslohn resultiert aus Knappheit, dass ist richtig. Doch alle Knappheit ist nebensächlich, wenn die daher hochbezahlte Arbeit tatsächlich gesellschaftlich nicht nützlich, sogar schädlich ist, und die ganze Irrationalität dieser kapitalistischen Struktur zeigt sich, wenn Studien beweisen, dass niedrig bezahlte Tätigkeiten wie KRankenschwester oder Müllmann deutlich wertvoller für die Gemeinschaft sind, als etwa Steuerberater oder Börsenmakler (die nicht nur keine Gebrauchswerte, keine nützlichen Dinge schaffen, sondern sogar insgesamt Geld, also Tauschwerte, vernichten. Die größten Vertreter des Kapitalismus zerstören gesamtgesellschaftlich also das, worauf der Kapitalismus aufbaut – es wäre ja lustig, wenn die Folgen nicht die Gemeinschaft zu tragen hätte).
Die Flexibilierung des Arbeitsmarktes, die Erleichterung der Leiharbeit, die Senkungen der Sozialleistungen und die anderen Maßnahmen der Agenda 2010 verstärkten den Arbeitsmarkt als einen “nicht perfekten Markt”. Man hat nicht mehr die Möglichkeit, über die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit frei zu entscheiden, wenn man andernfalls mit Sanktionen bedroht ist. Die Subsumtion der Arbeit unter das Kapital wurde nur vertieft.
Aufgabe einer progressiven Politik und Aufgabe der “Arbeit” (also all derjenigen, die nicht im Besitz der Produktionsmittel sind) ist der Kampf um die Steigerung der Entlohnung der Arbeit, um die gesellschaftliche Aneignung des Mehrwerts. Das Mittel dazu ist in diesem Fall klar: eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze. Und auch Mindestlöhne können ein Weg sein. Der historische und moralische Kampf um ein menschenwürdiges Existenzminimum wurde vor Gericht nicht entschieden – er ist also um so mehr ein Kampf gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Man muss mit Karl Marx, auch als Linker, sicher nicht in allen Punkten übereinstimmen. V.a. nicht in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Marxsche Gesellschaftslehre hat in vielen Punkten keine gute Prognosefähigkeit gezeigt. Die Voraussagen, dass der Sozialismus dem Kapitalismus folgen müsse, dass in diesem Klassenkämpfe unausweichlich würden, haben sich nicht bewahrheitet. Trotz dieser Schwächen kann die marxistische Theorie als eine philosophische, politische und gesellschaftskritische Deutungsweise kapitalistischer Gesellschaften wertvolle Einsichten und Interpretationsansätze, auch für die heutigen Formen des Kapitalismus, bieten.
Außerhalb der orthodoxen Betrachtungsweisen der Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels, außerhalb des Marxismus-Leninismus in seinen verschiedenen Varianten, existieren daher neuere marxistische Ansätze, die sich stärker auf diese Aspekte des Marxismus beziehen als dieser Vulgärmarxismus. Als ein wichtiger Punkt kann hier wohl die Lehre des Wertes gelten, die zentrale Bedeutung der Wertform/ der Wertstruktur als Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaften. Hinsichtlich der Betrachtung der grundlegenden Strukturen des Kapitalismus auf der Grundlage seiner Werttheorie kann Marx durchaus ein paar nachdenkenswerte Anhaltspunkte bieten.
Grundlagen der Marxschen Werttheorie
Der Wert gilt bei Karl Marx als die elementare Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft, die unter den „Phänomenen der Oberfläche“ liegt und deren Erscheinungen und Bewegungen vorgibt. Der Wert herrscht im Kapitalismus, da in ihm die Warenwirtschaft dominiert. Waren sind bei Marx die Produkte selbstständiger, voneinander unabhängiger Privatarbeiten, die einander gegenüber treten.
Marx stellt am Anfang des ersten Bandes des Kapitals die fundamentalen Unterscheidungen auf zwischen Gebrauchs- und Tauschwert (Nützlichkeit eines Dinges in ihrem Gebrauch im Unterschied zu ihrem immanenten Tauschwert) einer Ware sowie analog die Unterscheidung nützlicher, konkreter Arbeit und abstrakter Arbeit (konkrete Arbeit als eine bestimmte, nützliche Tätigkeit, abstrakte Arbeit als allgemeine, gleiche, gesellschaftlich notwendige einfache Durchschnittsarbeit, menschliche Arbeit „schlechthin“, „überhaupt“ , die nur quantitativ gilt, qualitätslos ist), der der „Springpunkt ist, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht“.
Der Tauschwert erscheint im Austauschverhältnis der Waren als etwas vom ihrem Gebrauchswert unabhängiges, der Wert ist das gemeinsame, das sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Waren darstellt: wenn man vo ihrem Gebrauchswert abstrahiert, ist der (Waren-)Wert einer Ware abhängig von der Menge der auf die Produktion dieser Ware verwendeten gesellschaftlichen, abstrakten Arbeitszeit. Der Tauschwert (und später Geld und Kapital) gelten als die Inkarnation menschlicher Arbeit (die allein Wert bilden kann). Werden zwei Waren direkt miteinander ausgetauscht, beziehen sie sich aufeinander, und der Gebrauchswert der einen Ware (als Produkt konkreter Arbeit) wird zur Erscheinungsform des Wertes (der Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit) der anderen. Die Wertform, die Arbeitsprodukte als bestimmte Mengen abstrakter Arbeit darstellt, ist der gesellschaftliche Ausdruck der Warenwelt.
Marx schildert im Kapital weiter, wie die Geldform entsteht, und wie Geld schließlich zu Kapital wird. Waren, Geld und Kapital sind dabei stets eine Verkörperung abstrakter Arbeit. Er beschreibt, wie aus Wert Mehrwert entsteht und dass die Ware Arbeitskraft die Eigenschaft habe, Mehrwert zu bilden.
Gesellschaftstheoretischer Gehalt der Marxschen Werttheorie
Nicht nur eine ökonomische Theorie
In der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels nimmt die Wertform oder Wertstruktur eine sehr große Bedeutung ein. Im orthodoxen Marxismus wurde sie jedoch recht einseitig betrachtet, in einer ökonomischen oder gar naturwissenschaftlichen Hinsicht, als quantifizierbare (und auch real messbare) Wertgröße; dabei spielte in der Werttheorie eher die Wertform oder die Wertstruktur als eine Qualität, als ein Verhältnis, die bedeutendste Rolle (und sie wurde im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung immer bedeutender als Kern einer marxistischen Weltanschauung). Betrachtet man die Werttheorie rein ökonomisch, tun sich in der Tat große Schwierigkeiten auf. In der modernen Nationalökonomie in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen bestimmen Grenznutzenerwägungen den Preis einer Ware (und nicht die in ihr steckende Arbeitskraft). Die Durchschnittspreise von Waren weichen von den Werten auch laut Marx teilweise ab. Er bildet darauf die Theorie von den Produktionspreisen; aber es ergeben sich auch nicht unerhebliche Probleme, wenn man diese auf den Wert zurückführen will, und auch etwa die Gleichsetzung von Profit und Mehrwert ist problematisch. (Der Ausdruck einer Ware im Preis ist die einzige Möglichkeit, wie sich Wertgröße ausdrücken kann, Aber nicht jeder Preis (und jede Preisveränderung) ist notwendigerweise Ausdruck eine Wertgröße.)
Marx beschrieb, dass der Produktionsapparat immer mehr Arbeits- zur Kapitalproduktivität machen würde und es mehr die Quantität und Qualität der Produktionsmittel sein werde, nicht mehr die Arbeitszeit, in denen die wachsende Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit zum Ausdruck komme. Sobald aber die Arbeit aufhöre, hauptsächliche Quelle des Reichtums zu sein, so wird eingewandt, werde die Arbeitszeit nicht mehr Maß des Reichtums sein und der Tauschwert nicht mehr Maß des Gebrauchswerts. Dieser Abschaffung des Tauschwertverhältnisses aber würde eine Abschaffung des Kapitalismus bedeuten (wenn die Schaffung des Tauschwertes Ziel der Produktion sei, müsse die Arbeitszeit Quelle und Maß des Reichtums sein, denn Kapital könne als Wertgröße nichts anderes sein als angeeignete Arbeitszeit). Diese orthodox-marxistische Betrachtungsweise muss aus ökonomischer Sicht jedoch fraglich erscheinen. Die von Marx prognostizierte zunehmende Produktivität des Kapitals/ der Maschinerie kann empirisch festgestellt werden. Die Ansicht, nur Arbeit könne Werte schaffen, ist aber eher fraglich. Der Marxismus sagt, Profit bliebe (auch bei Wandel des Verhältnisses von toter zu lebendiger Arbeit) Mehrwert und damit Mehrarbeit. Eine Verringerung von Arbeit würde eine Verminderung des Mehrwerts bedeuten, wenn die Arbeitsproduktivität nicht schneller stiege, als die Arbeitsmenge weniger wird. Arbeitsproduktivität und nicht Kapitalproduktivität macht danach kapitalistischen Profit aus, er entsteht nur aus der Differenz von bezahlter zu nicht bezahlter Arbeit. Profite aus Kapitalproduktivität (die der orthodoxe Marxismus anzweifelt) würden keine kapitalistischen Profite sein. Sobald die Automation als Produktionsprozess schlechthin die Gesellschaft revolutionieren könnte muss die kapitalistische Wirtschaft diese Entwicklung bremsen und das Wachstum an einem Punkt halten, wo Herrschaft noch rational und erträglich erscheine. Automation diene letztlich nur zur Sicherung des Kapitalismus (durch die Angleichung der sozialen Verhältnisse an die Technik). Ein Ende des auf Ausbeutung beruhenden Kapitalverwertungsprozesses durch vollständige Automation würde (wegen des Mangels an Mehrwert) das Ende des Kapitalismus bedeuten.
Man muss also bei Marx einen Unterschied machen zwischen dem Wert- und dem Preissystem. Doch damit verliert der Wert als unmittelbar ökonomische Größe viel von seiner Nützlichkeit. Aufgrund dieses Unterschiedes und der Schwierigkeit, den Wert als empirische Größe zu fassen, kann es also sinnvoll sein, eher die Wertform (als eine, wie zu zeigen ist, bestimmte gesellschaftliche Struktur) denn die Wertgröße zu betrachten.
Die Gesellschaftstheoretische Dimension
Denn der Wert besitzt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine philosophische und gesellschaftstheoretische Dimension. Der Wert fungiert bei Marx als allgemeine Kategorie, er ist mehr als der Tauschwert oder das Geld. Der wahre Kern der Werttheorie ist nicht die Gleichung Wert = Arbeitsmenge, sondern der besondere gesellschaftliche Charakter der Arbeit (, den sie unter kapitalistischen Bedingungen in ihrer Eigenschaft als Ware gewinnt): der Wert ist zu betrachten als eine besondere Art der Vergesellschaftung im Kapitalismus, denn im Kapitalismus als Warenökonomie gibt es einen allseitig über Geld vermittelten Zusammenhang.
Ware zu sein, ist keine natürliche Eigenschaft von Dingen, sondern eine gesellschaftliche und der Wert ist nicht die konkrete Eigenschaft einer Ware, sondern ihre Eigenschaft, Produkt einer gewissen Menge abstrakter Arbeit zu sein. Der Wert stellt das Verhältnis einer Ware zu der gesamten Warenwelt dar, und genauso bei der Arbeit als abstrakter, wertschöpfender das Verhältnis einer bestimmten Arbeitsmenge zur Gesamtarbeit. Die Ware ist eine gesellschaftlich konstituierte Form, und zugleich ist sie die konstituierende Vermittlungsform in der Gesellschaft, ja sie ist die grundlegendste Vermittlung im Kapitalismus. Der Wert konstruiert einen gesellschaftlichen Zusammenhang, aber er wird erst im Tauschwert einer Ware konkret. Im Kapitalismus ist die Warenform die allgemeine Form der Arbeitsprodukte, das Verhältnis der Menschen als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis. Die Individuen sind durch Arbeit und in Arbeit vergesellschaftet und das Geld als Ausdruck des Tauschwertes normiert die sozialen Beziehungen, es fungiert quasi als Bindemittel zwischen Individuum und Gesellschaft.
Der Wert ist zwar abstrakt, aber er ist auch Träger von Bestimmungen und Funktionen: so ist er der Inbegriff des gesellschaftlichen Reichtums. Der Doppelstruktur der Arbeit als konkreter und abstrakter Arbeit entspricht aber auch die Doppelstruktur von Wirtschaft und Gesellschaft (gesellschaftlicher Reichtum und Macht des Kapitals über die Arbeit). Dieser Doppelcharakter der Arbeit gilt manchen Autoren als der Kern des Kapitalismus (Und nicht z.B. Markt oder Privateigentum). Der Arbeitsprozess ist als Wertschöpfungsprozess von den Wertverhältnissen (über-)determiniert, er dient zur Produktion von Tauschwerten. Wird die Arbeit unter der Wertstruktur subsumiert, wird er zum Verwertungsprozess, unabhängige Produktion und Klassenverhältnisse werden dadurch durch den Wert vermittelt. Die Wertstruktur ist der Ausdruck der widersprüchlichen gesellschaftlichen Beziehungen der gesellschaftlichen Produktion einerseits und der privaten Aneignung andererseits.
Die Werttheorie von Marx muss außerdem als monetäre Werttheorie gesehen werden: die Geldform ist dabei die dem Wert angemessene Wertform. Kapital gilt in ihr als sich verwertender Wert, und diese Verwertung des Werts statt einer Bedürfnisbefriedigung (die Schaffung eines Gebrauchswertes) ist das Ziel kapitalistischer Warenproduktion; sie ist maßlos und sie ist endlos. Das Verhältnis der Arbeit zum Kapital ist ein Wertverhältnis. Die Produktionsmittel stellen auch Kapitalwerte dar, und die Arbeitskraft ist die (bei Marx die einzige) Quelle von Wert und Mehrwert.
Verdinglichung, Entfremdung und Warenfetischismus
Die Wertform wird laut Marx aber nicht einfach so von den Menschen erkannt, sondern erst durch die Tätigkeit der Wissenschaft. Sie tendiert dagegen zu einer Verselbstständigung.
Die Gesetze des Warentauschs erscheinen als selbstverständige Naturnotwendigkeit, doch in Wirklichkeit sind sie menschliches Verhalten, eine historische Erscheinungsform in einer bestimmten historischen Epoche, im Kapitalismus. Die Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses bei unabhängiger Produktion (von Tauschwerten), die Vermittlung durch den Warenaustausch, die Klassenverhältnisse, das alles sind gesellschaftliche Verhältnisse – aber der gesellschaftlicher Charakter von Arbeit und ihren Produkten erscheint fremd, erscheint sachlich. Warenfetischismus bedeutet, dass die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen als gesellschaftliche Beziehungen der Dinge erscheinen (Beziehungen der Tauschenden als Wertbeziehung der Waren); die gesellschaftlichen Beziehungen haben scheinbar sachliche Eigenschaften. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit wird als gegenständlicher Charakter der Arbeitsprodukte, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge, das gesellschaftliche Verhältnis der Arbeiter zur Gesamtarbeit als ein gesellschaftliches Verhältnis von Dingen widergespiegelt. Die Dinge erhalten als Waren eine gesellschaftliche Beschaffenheit. Es entsteht eine von einzelnem nicht zu kontrollierende Gesellschaftlichkeit. Herrschaftsverhältnisse erscheinen sachlich und Sachzwänge scheinen überall zu wandeln, fremde, undurchsichtige Mächte überall zu herrschen. Die Produkte der menschlichen Arbeit werden nur noch im Tauschwert der Dinge erfahren. Subjekt und Objekt werden verzerrt, die Produkte herrschen über den Produzenten, die gesellschaftlichen Phänomene verselbstständigen sich von ihren Entstehungsbedingungen.
Mit den Einzug von Technik und Maschinerie in die industrielle Produktion geht Entfremdung noch weiter: Die unmittelbaren Produzenten, die Arbeiter, empfinden eine unterjochende Herrschaft der vergegenständlichten Arbeit. Der selbstständige Charakter der Arbeit geht immer mehr verloren.
Aber, auch darauf wurde in der Literatur hingewiesen: es handelt sich hier um mehr als falsches Bewusstsein: die Produzenten beziehen sich bei der Warenproduktion tatsächlich erst im Austausch gesellschaftlich zueinander – es ist daher keine Täuschung, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen als Beziehungen von Dingen darstellen. Dass Sachen gesellschaftliche Eigenschaften haben, gilt jedoch nicht in jeder Gesellschaft, sondern nur in der bürgerlichen.
Kommen wir noch zu einem wichtigen Punkt zum Verständnis von Marx: Ob die abstrakte Arbeit auch gleichzeitig als entfremdete Arbeit gedeutet werden kann, und Marx mit der Werttheorie sagen wollte, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu menschenunwürdiger Arbeit und Unterdrückung der Arbeiter durch das Kapital führt, darüber besteht in der Literatur Uneinigkeit. Als Gegenargument zu dieser Auffassung wurde eingewandt, dass abstrakte Arbeit bei Marx eben keine besondere Arbeit, auch nicht etwa Fließband (etwa gegenüber dem Handwerk als konkreter Arbeit) ist, sondern, dass sie nur der Durchschnitt der Arbeit ist, die gesellschaftlich, als Wert bildend gilt. Meiner Ansicht nach sprechen die Formulierungen von Marx hier deutlich für die letztere Betrachtungsweise. Abstrakte Arbeit ist eher eine analytische Kategorie, ein künstlich geschaffener Durchschnitt, und keine bestimmte Tätigkeit, auch keine entfremdete, monotone Arbeit o.ä.
Rationalität, Wissenschaft und Technologie
Der Wert bringt eine bestimmte Rationalität hervor: die Individuen müssen der gesellschaftlichen Struktur folgen. Ausbeutung etwa ist nicht (zumindest nicht nur) unmoralisches Verhalten, sie ist gerade die Befolgung der Gesetze des Warentausches. Die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit macht Wissenschaft und Technik zu Instrumenten von Ausbeutung und Klassenherrschaft. Technologie und Wissenschaft sind bei Marx zwar grundsätzlich neutral, sie können beliebigen Zwecken unterworfen werden. Doch ist sie dadurch auch abhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Technologie beruhe im Kapitalismus auf Wertverhältnissen.
Alex Demirović (ein Vertreter der Kritischen Theorie) und Paulina Bader verdeutlichen im Freitag, was das Extremismus-Schema für den Kampf für die Demokratie und gegen den Rechtsextremismus bedeutet. Sie zeigen, wie diese Theorie demokratiefeindiche Maßnahmen oder Rassismus beschönigt, wenn diese aus der “Mitte” kommen und wie der Staat teilweise gegen diejenigen vorgeht, die die Demokratie gegen den Rechtsextremismus verteidigen wollen (wie aktuell etwa Kristina Köhler mit Hilfe der Medien Anti-Rechts-Initiativen unter den Generalverdacht des “Linksextremismus” stellt oder wie der Protest gegen den Naziaufmarsch in Dresden kriminalisiert wird).
Das Extremismus-Schema, das die Demokratie schützen soll, erweist sich als demokratiegefährdend. Diejenigen, welche die gegenwärtige Form der Demokratie für unzureichend halten, werden als Extremisten mit den Rechten gleichgesetzt und von den braven Demokraten geschieden. Diese werden erleichtert zur Kenntnis nehmen, dass sie sich besser nicht für die Demokratie einsetzen. Leicht angeekelt können sie aus der Distanz auf das Schauspiel der „Extremisten“ schauen. Demgegenüber wird denjenigen, die für Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Mitteln des offenen und öffentlichen Protests und des zivilen Ungehorsams eintreten, das Fürchten gelehrt und mit den Mitteln hoheitlicher Gewalt beigebracht, dass nicht die Bürger, sondern der Staat entscheidet, was Demokratie und wer ein guter Demokrat ist. So muss man sich fragen, was wir in unserer Gesellschaft gerade treiben, wenn diejenigen, die bereit sind, mit Leib und Leben, mit ihren häufig knappen Ressourcen für das demokratische Gemeinwohl einzutreten, damit rechnen müssen, beschimpft und beleidigt, von der Staatsanwaltschaft verfolgt, von der Polizei im Namen der Demokratie zusammengeschlagen, schließlich mit denjenigen auf eine Stufe gestellt zu werden, die den rassistischen Massenmord und den Expansionskrieg, den der deutsche Staat vor nur wenigen Jahrzehnten organisiert hat, verteidigen und verherrlichen – anstatt dass ihnen von öffentlicher Seite alle moralische und materielle Unterstützung gewährt wird.
Darum, eine alternative Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus aufzubauen. Das Zentrum unter Federführung des BdV soll die Sicht der deutschen Rechten manifestieren. (…)
Die Deutschen in der Opferrolle?
Ja, es ist ja die Leistung Erika Steinbachs, den Diskurs der deutschen Rechten an die internationale Menschenrechtsdebatte angeglichen zu haben: Man redet nicht mehr von Polacken, von asiatischen Horden, vom Vernichtungskrieg gegen Deutschland – die Vertriebenen sind jetzt Opfer der Weltgeschichte, von unmenschlichen Regimes, von einer seit Jahrtausenden stattfindenden Politik der Vertreibung. Der Zweite Weltkrieg verliert seinen historischen Ort; er wird zu einem Ereignis unter vielen in einer Kette von weltgeschichtlichen Verhängnissen. Der Massenmord an den Juden versinkt im Meer der Geschichte. (…)
Es war auffällig, was in den Ausstellungen unter den Tisch fiel: Die Rolle der deutschen Minderheiten für die nationalsozialistische Expansionspolitik, die Beteiligung der ostdeutschen Volksgemeinschaft an der Shoa, das Leid der Sowjetunion. Die Deutschen erscheinen hier als Opfer der Nazis und der Alliierten; die Ostgebiete sind dargestellt als friedliche Idyllen, in die ein barbarischer Feind einbricht
Und wie sieht es aktuell aus? Laut vorläufigen Erkenntnissen der Polizei (die in den vergangenen Jahren später stets massiv nach oben korrigiert wurden – der BKA-Präsident erwartet etwa 20.000) haben Rechtsextreme im vergangenen Jahr mehr als 16.133 Straftaten begangen, darunter 678 Gewalttaten, 658 Menschen wurden verletzt. Die Polizei ermittelte 8269 Verdächtige. 278 wurden vorläufig festgenommen. Haftbefehle ergingen gegen 19.
Ein kurzer Hinweis für die Leute aus Trier, die hier lesen (und für die, die vielleicht mal kommen wollen 😉 ):
Morgen (Dienstag, 19. Januar) kommt Elmar Altvater an die Universität Trier. Er hält um 18 Uhr im Hörsaal 9 (E-Gebäude) einen Vortrag zum Thema “Ein ‘grüner New Deal’ – das Gelbe vom Ei oder eine schwarze Utopie?” im Rahmen der Vortragsreihe “Zur politischen Kritik der Ökonomie”.
Ich denke, über Altvater muss man nicht viel sagen, er ist derzeit vielleicht DER Kapitalismus- und Globalisierungskritiker in Deutschland. Ich kenne zwar bisher “nur” Aufsätze und einige Bücher von ihm und habe ihn noch nie direkt “live” gesehen, aber ich denke man kann ganz fest davon ausgehen, dass es sich lohnen wird, diese Veranstaltung zu besuchen.
Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 268.)
Herbert Marcuse lieferte mit “Der eindimsionale Mensch” eine umfassende Beschreibung der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, die jegliche Opposition ersticken – und dies schon im Denken der Menschen. Doch Opposition ist notwendig – eine neue, eine bessere Gesellschaft muss gewünscht, gedacht werden und es muss versucht werden, sie umzusetzen. Eine Gesellschaft, wie sie Marcuse sich vorstellt, kennt keine Herrschaft mehr, keine Klassen, keine Verschwendung und Irrationalität, keine Kriege, sie befriedigt die menschlichen Bedürfnisse bei einem Minimu an harter Arbeit. Die Möglichkeiten dafür sieht er bereits in der bestehenden Gesellschaft, die Analyse dieser mache aber nur allzu klar, dass dafür eine Umwälzung notwendig sei.
Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten des freien Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten Aktionen des Protests und der Weigerung. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 253.)
Die Akteure, die eine Veränderung möglich machen würden, sieht Marcuse sehr beschränkt, und im Eindimensionalen Menschen kommt er erst auf den letzten zwei Seiten auf sie zu sprechen . “Das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen”: ihre Opposition sei revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein. Würden sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel der bestehenden Gesellschaft mitzuspielen, schließlich sich zu Protest aufraffen, könnten sie “den Beginn des Endes einer Periode” makieren. Diese Chance bestünde, wenn sie als “ausgebeutetste Kraft” der Menschheit mit ihrem “fortgeschrittensten Bewußtsein” aufeinandertreffen würden. Im Zuge von 1968 sah er dieses Bewusstsein teilweise in den Studenten. Marcuse hatte großen Einfluss auf diese gehabt, gerade “Der eindimensionale Mensch” stellte mit seiner Analyse des repressiven Charakters der bestehenden Gesellschaft die Notwendigkeit ihrer Veränderung klar heraus.
Es hat sich wohl gezeigt, dass Herbert Marcuses früherer Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Änderung berechtigter war als sein späterer Optimismus, mit Sicht auf die Studentenproteste und die „68er“ Bewegung, in denen er, mehr als andere Vertreter der kritischen Theorie wie Adorno, Kräfte sah, die einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen konnten. Zwar gab es in der Tat Änderung hin zu größeren gesellschaftlichen Freiheiten, jedoch blieben großes sozialen Änderungen oder gar solche am „System“ aus. Der reaktionär-konservative Spießer-Muff, de die Bundesrepublik Deutschland 1968 in den weitesten Teilen beherrschte, wurde gebändigt. Dass das Ideal einer offenen, toleranten Gesellschaft stärker Fuß fassen konnte, haben wir ohne Zweifel den Protesten von 1968 zu verdanken. Das wirtschaftliche Syste blieb währenddessen nicht nur unangetastet. Nach einer Phase einer umfassenderen Sozialpolitik, einer keynsianischen Wirtschaftssteuerung und einer Ausweitung von Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechten unter den Regierungen mit SPD-Beteiligung glitt Deutschland 1982 vollends in den Neoliberalismus nach dem Vorbild Reagans und Thatchers mit den gesitigen Vätern Hayek, Friedman und speziell für Deutschland Hayek ab. Rot-grün (nach einer 6-monatigen Verschnaufpause) und die große Koalition setzten die Politik des Sozialabbaus und des Marktradikalismus fort – und dies auch unter maßgebliche Beteilgung früherer “68er” und ehemaliger Linker. Und jetzt haben wir mit schwarz-gelber Kopfpauschale, Stufensteuer und Klientelgeschenken eine neue Stufe der Entsolidarisierung.
Dass eine eindimensionale Ideologie, die die Möglichkeiten einer Veränderung und Verbesserung des bestehenden negiert und als unrealistisch oder utopisch brandmarkt, die Ideologie der gegebenen Tatsachen, immer noch vorherrschend ist, sieht man z.B. in den politischen Argumentationen im Hinblick auf „Reformen, zu denen es keine Alternative gibt“ und ähnlichen immer wiederkehrenden Phrasen und Floskeln. Irrationalität, die nicht als solche wahrgenommen wird, besteht weiterhin. Indem man sich immer mehr von der sozialen Seite der Sozialen Marktwirtschaft entfernt und immer mehr Menschen die Nachteile erfahren, könnte sich vielleicht irgendwann Widerstand regen. Doch auch dies bleibt nich mehr als eine Möglichkeit.
Die freie Wahl des Herrn beseitigt nicht die Unterscheidung zwischen Herrn und Sklaven. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“)
Die ursprünglichen und grundlegenden Vorstellungen und Ideale marxistischer Theorie, die auf Abschaffung von Arbeit und Herrschaft gerichtet sind, sollten nicht vergessen werden. Die Gesellschaft, die wir heute haben, ist vielleicht eine der fortgeschrittensten, die historisch je erreicht wurde. Doch das heißt nicht, dass nicht auch hier positive Veränderungen möglich sind. „Das bessere ist der Feind des Guten“, sagte schon Voltaire.
Stellenwert der Ideologiekritik und Verständnis von Ideologie in der Kritischen Theorie
Das Ideologieverständnis der Kritischen Theorie steht zwar in der Marxschen Tradition. Aber, so ihre Vertreter, die Totalität des Spätkapitalismus (oder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft) besetze das Bewusstsein der Individuen so stark, dass die Differenz und Trennung von Basis/ gesellschaftlicher Realität und ideologischem Überbau (sowie von Individuum und Gesellschaft) des klassischen Marxismus zunehmend relativiert werde. Deshalb werde die Kritik des Überbaus in der Gesellschaftskritik wichtiger, der geistige Bereich müsse von der drohenden Absorbierung durch die materielle Wirklichkeit gerettet werden und bisherige Kategorien des Marxismusreichten nicht mehr aus.
Ziel ist für die Kritische Theorie eine Gesellschaft, in der Sein und Bewusstsein nicht mehr getrennt sind. In dieser Gesellschaft gibt es außerdem eine „Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des ‘Kampfs ums Dasein'” (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 263). Gegensatz dazu ist ideologisches, „positives“ Denken – solches Denken, das Tatsachen einfach als gegeben akzeptiert und die Möglichkeit oder Notwendigkeit ihrer Veränderung nicht in Betracht zieht.
Eindimensionalität als Ideologie der Industriegesellschaften
Das Verhältnis zwischen Ideologie und Realität ist bei Marcuse eine historische Relation und also veränderbar. Dasein ist für ihn in seinen Frühwerken stets schon material und geistig, ökonomisch und ideologisch zugleich, ideales Sein, auf materialem fundiert (Überbau-Basis).
Der marxistische Bergriff des ideologischen als falschen Bewusstseins nun schiene, so Marcuse, auf die hoch entwickelte Industriegesellschaft nicht mehr anwendbar: diese habe ihre Ideologie in die Realität politischer Institutionen umgesetzt. Man könne nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, das Bewusstsein werde vom gesellschaftlichen System absorbiert. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft kann (dank Überflusses durch die Technologie) Konflikte dadurch vermeiden, dass sie all die assimiliert, die in früheren Gesellschaftsformen Kräfte des Nonkonformismus darstellten. Freiheit von Mangel wird zur Stütze der Herstellung von Abhängigkeit und der Verewigung von Herrschaft, der Konsum befriedigt materielle Bedürfnisse und stellt Identifikation mit dem bestehenden System her.
Unter dem Einfluß des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, der Größe und der Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates und des steigenden Lebensstandards zerbricht die politische Opposition gegen die fundamentalen Institutionen der alten Gesellschaft und wird zur Opposition innerhalb der akzeptierten Bedingungen (…) Errungenschaften (…) und die Integration der Gegensätze (…) fördern die materielle und geistige Stabilisierung (…) Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimese: eine unmittelbare Identifizierung des einzelnen mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als Ganzem“. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“, S. 321, 323, 334)
So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. (…) Der heutige Kampf gegen diese geschichtliche Alternative findet eine feste Massenbasis in der unterworfenen Bevölkerung und seine Ideologie in der strengen Orientierung von Denken und Verhalten am gegebenen Universum von Tatsachen. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, S. 32, 36)
(…) in den fortgeschrittensten Bereichen der Industriegesellschaft ist heute sogar bei den ,Benachteiligten’ eine ,innere’ Identifizierung mit dem System vorhanden, ein positives Denken und Handeln (Marcuse: Ideologieproblem, S. 326)
Widersprucht erscheint dabei irrational und Widerstand unmöglich (vgl.: Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 29). Sowohl materiell als auch ideologisch seien die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten, in das System integriert, weshalb das Proletariat sich nicht mehr qualitativ von anderen Klassen unterscheide und keine qualitativ andere Gesellschaft schaffen könne. Jedoch existierten immer noch Menschen, deren Opposition, wenn auch nicht ihr Bewusstsein, revolutionär sei. Denn ein von äußeren Umständen unterschiedliches individuelles Bewusstsein, schrumpfe, und der Verlust dieser inneren Dimension sei das ideologische Gegenstück zum materiellen Vorgang, in welchem die Industriegesellschaft Opposition eindämme. Ideologie, Herrschaft, Verwaltung, Wirtschaft, Technologie und Produktionsprozess sind miteinander verflochten und als verdinglichtes System Instrumente zur Beherrschung von Natur und Menschen. Die heutige Realität eines angeblichen Pluralismus sei ideologisch, da die herrschenden Mächte das gemeinsame Interesse der Bekämpfung historischer Alternativen (zu dieser heute bestehenden Gesellschaft) hätten.
Technologische Rationalität als Herrschaftsrationalität
Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit zu beseitigen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 14)
Die Ideologie der hoch entwickelten Industriekultur (die ideologischer als ihre Vorgänger sei) sei im Produktionsprozess selbst zu finden. Für Marcuse sind im Gegensatz zu Marx die Produktionsverhältnisse nicht die das gesellschaftliche Leben bestimmende Basis. War bei Marx die Kritik der Ideologie Kritik der Abhebung der Philosophie von der sozioökonomischen Realität, sieht Marcuse die Ideologie des herrschenden Bewusstseins im Denken in technologischer Rationalität und seiner Beschränkung auf die bestehende Welt.
Von Marx Unterscheidung der konketen und abstrakten Arbeit kommend, sagt Marcuse, wie in der abstrakte Arbeit Menschen nach quantifizierbaren Qualitäten verbunden werden (als Einheiten abstrakter Arbeitskraft), so hätten sich diese abstrakten Kategorien in wissenschaftliches und technisches Denken übertragen: Abstraktion von Konkretem, Quantifizierung der Qualitäten. Die heutige positivistische Wissenschaft befreie die Natur von allen Zwecken, die Materie von allen Qualitäten. Im Vordergrund stehen Operationalisierbarkeit, praktische Verwertbarkeit. Diese „wissenschaftliche Rationalität“ ist wertfrei, sie setzt keine Zwecke fest, ist ihnen gegenüber neutral. Die technologische Rationalität sieht Natur und Menschen nur noch als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation, als Mittel an sich und hat einen zutiefst instrumentalischen Charakter (“technologisches Apriori”). Die Beherrschung der Natur sei mit Beherrschung des Menschen verbunden; Mensch und Natur werden zu ersetzbaren Objekten. (Marcuse setzt hier eine Analogie zur formalen Rationalität Max Webers: Rationalität der angewendeten Mittel für beliebige Zwecke. Die technologische Rationalität sei zweckrationales Handeln.) Marcuse kritisiert, dass diese Art von Wissenschaft die Realität nicht mehr „transzendiere“: qualitativ andere Sichtweisen, neue Beziehungen Mensch-Mensch und Mensch-Natur werden nicht ins Auge gefasst, es herrscht eine Beschränkung der technologischen Rationalität auf Bestehendes.
Dadurch, dass die Technologie indifferent gegenüber jeglichen (Produktions-) Zwecken ist, wird die gesellschaftliche Produktionsweise bestimmend. Der Logos der Technik wird zum Logos der Herrschaft. Technologie erscheint selbst als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft. Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung stabilisiert das gesellschaftliche System und legitimiert die Herrschaftsbeziehungen. Sie ist statisch und konservativ. Bürokratie und Technologie werden selbst zu Herrschaftsinstanzen, Herrschaft erweitert sich als Technologie. Die Organisation der Gesellschaft erfolgt nun unter den Erfordernissen der Beherrschung. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen und scheinbar objektiven, verdinglichteten System. Sprache, Libido, Wohlfahrt und Arbeit werden zu Instrumenten totaler Herrschaft (über die Natur und über Menschen). Unfreiheit erscheint als Unterwerfung unter technischen Apparat. Und der technologische Apparat legt sozial notwendige Bedürfnisse, Fähigkeiten und Haltungen fest und bilde Formern von sozialer Kontrolle und sozialem Zusammenhalt,. Er zwingt der materiellen und geistigen Kultur seine wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf. Seine Produkte manipulierten, fördern ein falsches Bewusstsein und binden die Konsumenten an die Produzenten.
Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfut am Main 1969, Seite 9.)
Horkheimer und Adorno entwicklen in der “Dialektik der Aufklärung”, einer der wichtigsten Schriften der Kritischen Theorie, eine ganz ähnliche Kritik der Rolle der technologischen Rationalität, einer Zweckrationalität, die keine Qualitäten, keine Zwecke und keine Ziele mehr kennt.
Darin aber, dass nicht erst die kapitalistische Anwendung der Technik Herrschaft, sondern Technik selbst Herrschaft sei, widerspricht die Kritische Theorie klar Marx: Wissenschaft und Technik können für diesen auch für andere als kapitalistische Zwecke verwendet werden, die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit erst lässt diese zu Instrumenten der Ausbeutung und Herrschaft werden, sie seien an sich neutral.
Statt Entfremdung: die Menschen “identifizieren sich mit ihren Produkten”
Der Mechanismus, der das Individuum mit seiner Gesellschaft verbindet, habe sich verändert, da die soziale Kontrolle nun in den neuen Bedürfnissen, die sie hervorgebracht hat, verankert sei. Die Bedürfnisse (die im klassischen Marxismus Maßstab und nicht Gegenstand der Kritik waren) werden manipuliert, politisch-wirtschaftliche Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu individuellen Bedürfnissen, repressive Bedürfnisse dienen der Erhaltung und Ausdehnung des Systems und der Verewigung des Kampfs ums Dasein.
Und der klassische Marxsche Begriff der Entfremdung erschiene fragwürdig, da die Menschen sich nun in ihren Gütern erkennen und mit ihrer Existenz identifizieren. Das entfremdete Subjekt werde von seiner entfremdeten Existenz „verschlungen“, und das Bewusstsein werde zum glücklichen Bewusstsein, dass auch Untaten der Gesellschaft mit dem Glauben an die Vernünftigkeit des Wirklichen hinnimmt – dies sei der produktive Überbau über der Basis der Gesellschaft. Die Subjekt-Objekt-Differenz ist aufgehoben oder irrelevant, die Differenz von gesellschaftlicher Basis und Überbau (im Medium der Machbarkeit) ausgelöscht und die Aussage Marxens, dass das gesellschaftlich-materielle Sein das Bewusstsein bestimmt, ist nicht länger sinnvoll.
Eindimensionalität in Sprache, Kultur und Philosophie
Die kritische Theorie hat sich als „Theorie des Überbaus“ gegen eine Sicht, die in Kultur und Philosophie nur einen passiven Reflex der ökonomisch-technischen Entwicklung, bloße Ideologie, sieht, gewandt. Die „affirmative Kultur“ der bürgerlichen Epoche habe dazu geführt, die geistig-seelische Welt als selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen, die Kultur bejahe und verdecke die neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen; der Wandel sei durch den veränderten Charakter der Klassenverhältnisse verursacht.
In Sprache und Denken würde nur noch die empirische Dimension bestehen. Die transzendentale, über das Bestehendehinausgehende, die oppositionelle, “negative” Dimension wird ausgeblendet. Widerspruch gegen Bestehendes erscheint nun irrational, es entsteht eindimensionales Denken und Verhalten. Bei der „eindimensionale Kultur“, wurden deren transzendente Elemente, die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, geschmälert und sie wurde kommerzialisiert. Es gäbe Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlich-philosophischen und gesellschaftlichen Vorgängen, der soziale Kampf gegen historische Alternativen finde seine Ideologie in der Eindimensionalität, der starren Ausrichtung von Denken und Handeln an gegebenen Tatsachen und Möglichkeiten, der empiristischen Bewegung in den Sozialwissenschaften und dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, die die transzendenten, negativen Elemente der Vernunft verneinen. Sie seien das akademische Gegenstück zum sozial notwendigen Verhalten und hätten ideologischen Charakter. Stärke der Philosophie zeigt sich bei Marcuse im Gegensatz zu Marx in ihrer Loslösung vom Konkreten und unmittelbar gegebenen und der Entgegensetzung des Reiches der Möglichkeit, sie ist also gewissermaßen „Utopie“. Sie wirke auch teilweise ideologisch, da abstrakt, spekulativ und von einer Position außerhalb der Gesellschaft.
Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Marcuse: Der Eindimensionale Mensch, S. 268.)
Zusammenfassung
Marcuse, der sich und die Kritische Theorie in der Marxschen Tradition versteht und diese für seine Zeit anwendbar machen wollte, benutzt viele von Marxens Gedanken und Begriffen, doch er passt sie an seine Zeit an. Daher gibt es Unterschiede zu Marx. Die Trennung von Basis und Überbau von Marx wird zunehmend nebensächlich, man kann nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, da das Bewusstsein vom gesellschaftlichen System absorbiert werde. Marx kritisierte die Abgehobenheit der seinerzeitigen deutschen Philosophie von der Realität, aber aufgrund dieser geänderten Realität sieht Marcuse die Aufgabe der Philosophie, die bestehende Realität zu überschreiten, eine zweite, negative, utopische Dimension zu besetzen und die Eindimensionalität der gegnwärtigen Philosophie, der gegenwärtigen Wissenschaft, der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuheben. Er sieht Eindimensionalität in Denken und Handeln als die Ideologie seiner Zeit.
Die Ideologie erscheint bei Marcuse ungemein totaler und umfassender als bei Marx. Die Menschen werden von einer totalen Technokratie im Interesse der Aufrechterhaltung von Herrschaft manipuliert, Opposition wird in das System integriert (so die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten). Ideologie, Verwaltung, Wirtschaft, Sprache, Technologie sind zusammenhängende Instrumente der Beherrschung. Menschen erkennen sich in ihren Gütern, der Entfremdungsbegriff ist so nicht mehr zeitgemäß. Bedürfnisse können manipuliert und müssen hinterfragt werden, sie können der Herrschaft dienen. Ein großer Unterschied zu Marx ist außerdem, dass Marcuse technologische Rationalität als Logik der Herrschaft sieht und die Ideologie im Produktionsprozess. Marx sah dagegen in den Produktionsverhältnissen die das gesellschaftliche und das geistige Leben bestimmende Basis, und er betonte die Neutralität der Technik.
Marcuses Betrachtung der Industriegesellschaften und ihrer Ideologie wirkt sicher drastisch, verstörend, desillusionierend und seine Beschreibung ist sicherlich auch überzogen, griff jedoch damals existierende und meiner Meinung nach noch existierende Tendenzen auf und veranschaulichte ihre Gefahren. Sein Verdienst ist im Hinblick auf die Ideologiefrage besonders, gezeigt zu haben, wie die heutigen Gesellschaften frühere oppositionelle Kräfte integriert hat, die nun zu glühenden Verfechtern des Systems geworden sind, und wie die heutige Gesellschaft jegliche Kritik des bestehenden Systems und jegliche Konzeption von Alternativen als “unrealistisch”, “utopisch”, gar als “unmöglich” brandmarkt.
*: Marcuse liefert diese v. a. in den folgenden Werken, aus denen auch die Zitate stammen:
Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (hier zitiert nach: Neuwied und Berlin 1967, Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand, September 1970).
“Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft”, aus: Paper: Fifth World Congress of Sociology, Washington D. C. 1962, in: Lenk, Kurt (Hrsg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenssoziologie, herausgegeben und eingeleitet von Kurt Lenk, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 320 – 341.
„Nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.“ (Aristoteles zugeschrieben)
Ist unser Denken wirklich frei? Von wem ist es beeinflusst? Können wir unser Denken und uns selbst befreien? Diese Fragen sind grundlegende Fragen der menschlichen Existenz, doch auch und v. a. der gesellschaftlichen Realität, seit Karl Marx sagte, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein bestimmt. Ist unsere “freiheitliche” Gesellschaft wirklich freiheitlich für alle Menschen? Warum wird eine andere Gesellschaftsform kaum diskutiert, geschweige denn gewünscht?
Dies sind ein paar grundsäzliche Fragen der Ideologiekritik, und ich möchte hier darstellen, was diese bedeutet anhand des Beispiels, wie Karl Marx als der Begründer der Ideologiekritik diese Fragen beantwortet hat.
(In einem folgenden Beitrag möchte ich dann betrachten, wie die Kritische Theorie, die den Marxismus erneuern will, so dass er für die heutigen Gesellschaften anwendbar ist, dies sieht und welche “Aktualisierungen” der klassischen Marxschen Theorie sie hier vorgenommen hat. Als Beispiel soll dann Herbert Marcuse mit seiner Kritik der Eindimensionalität dienen).
Ideologiekritik und Materialismus
Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um: Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten.
In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Oberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, 1859, MEW 13, S. 7-11.)
Die Kritik des Bestehenden begann bei Karl Marx und Friedrich Engels als Kritik des Bewusstseins. Erst Marx und Engels haben „Ideologie“ zu einer politischen Theorie ausgebaut, und diese durchzieht ihr Werk. Die Lehre von der Ideologie ist also auch eines der wichtigsten Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung, die Erkenntnis der Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins der Menschen in ihrem Bewusstsein eine ihrer zentralen Aussagen. Auch wenn die Voraussagen des historischen Materialismus sich als falsch erwiesen haben, kann doch die Ideologiekritik als philosophische Idee durchaus weiter existieren.
Wurzeln des Ideologiebegriffs von Marx und Engels sind Kritik an Hegels Philosophie, v. a. seiner Staatsphilosophie (die Hegelsche Vorstellung von Geschichte als Werk von Ideen ist für Marx Verkehrung im Bewusstsein der deutschen Ideologen als theoretischer Ausdruck der Verselbstständigung der Waren; Menschen sind für Marx der alleinige Träger der historischen Entwicklung), an Feuerbachs Anthropologie und an der klassischen Nationalökonomie (etwa Adam Smith oder David Ricardo). Die Geschichte der Philosophie habe sich laut Engels durch die Erkenntnisse von Marx und ihm weitgehend als Geschichte der Ideologie erwiesen.
Bewusstsein als gesellschaftliches Produkt
Das Bewusstsein des Menschen ist bei ihnen von vornherein gesellschaftliches Produkt. Ideologien sind falsches Bewusstsein im Sinne gesellschaftlich notwendigen Scheins, können nicht bewusst inszeniert werden und sind – da gesellschaftlich erzeugt -notwendiger Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse.
Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Position, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp, aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung der Produktivkräfte (…) Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera Obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“. (Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie – Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 1845-1846.)
Entfemdung, Verdinglichung und Warenfetischismus
Entfremdung ist eine für den Produzenten von Waren, den Arbeiter, als unterjochende Herrschaft der Waren, seiner vergegenständlichten Arbeit, fühl- und erfahrbare Erscheinung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und -bedingungen. Durch industrielle Produktion und Arbeitsteilung habe die Arbeit für den Proletarier jeden selbstständigen Charakter verloren, er werde „Zubehör der Maschine“, „Arbeitsinstrument“ und produziere eine ihm fremde, ihn aber beherrschende Macht.
Warenfetischismus als wesentliches Element der Entfremdung bedeutet eine Verzerrung von Subjekt und Objekt, die Herrschaft der Produkte über den Produzenten: gesellschaftliche Phänomene verselbstständigen sich von ihren Entstehungsbedingungen („Verdinglichung“, „Versachlichung“). Diese erscheinen als allgemeingültig. Die Produkte der menschlichen Arbeit werden nur noch im Tauschwert (der sich im Preis ausdrückt), nicht mehr im Gebrauchswert (der Nützlichkeit) der Dinge erfahren, und dies hat Auswirkungen auf das Bewusstsein. Arbeitsprodukte, Dinge erhalten als Waren eine gesellschaftliche Beschaffenheit. Die Ware spiegelt den Menschen die gesellschaftlichen Eigenschaften ihrer eigenen Arbeit als Eigenschaften des Arbeitsprodukts selber, als natürliche Eigenschaften dieser wider.
Ideologie als falsches Bewusstsein
Sozusagen Gegenstück zu der ökonomischen Entfremdung (als totales Fremdsein von sich selbst, Mitmenschen, Arbeit, Natur, Gesellschaft und Transzendenz) sind „ideologische Nebelbildungen“ scheinbar ewiger Ideen (die auch zu selbstständigen Mächten verdinglicht werden) und Prinzipien. Produkte des menschlichen Geistes scheinen mit eigenem Leben ausgestattete selbstständige Gestalten. Wirklichkeit wurde und wird bei Marx und Engels (unbewusst) verzerrt widergespiegelt. Die Basis des Kapitalismus reproduziert sich, die Bewusstseinsprozesse überwinden den Rahmen der Gesellschaft nicht und werden bürgerliches Bewusstsein. Ideologie ist mit Lage und Interessen der herrschenden Klassen verknüpft, sie stützt deren Macht und lähmt die politische Kraft derer, die sie über ihre Lebensverhältnisse täuscht.
Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker Vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. (Aus einem Brief von Friedrich Engels an Frank Mehring.)
Während in den Frühschriften von Marx Ideologien von aller Realität losgelöste metaphysische Gedanken sind, sind sie in den ökonomischen Schriften mit falschem, der (ökonomischen) Wirklichkeit nicht entsprechendem Bewusstsein identisch (idealistisch-spekulatives als Grundzug bürgerlichen Denkens sei Ideologie). Im Historischen Materialismus hat ideologisches Bewusstsein eine Tendenz, gegenüber dem materiellen Unterbau selbstständig zu werden und durch einen Rückkopplungsprozess das gesellschaftliche Sein wiederum zu bestimmen.
… es kommt aber darauf an, sie zu verändern
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. (Karl Marx: Thesen über Feuerbach., 1845, MEW 3, S. 7.)
Die (ideologischen) Philosophen der Vergangenheit hatten die materiale Basis ihrer Ideologie nicht erkannt. Es soll dagegen bei der Ideologiekritik von Marx und Engels nicht nur bei Erkenntnis des falschen Bewusstseins bleiben – die gesellschaftlichen Ursachen sollen angetastet werden. Ideologiekritik und Basis-Überbau-Konstruktion sind in ein politisches Programm eingebunden.
Über Stärken und Schwächen dieses politischen Programms zu sprechen, ist ein anderes Thema. Fest steht, dass Karl Marx und Friedrich Engels mit dem historischen Materialismus und seiner Aussage, dass das Sein das Bewusstsein bestimt, die Philosophie revolutioniert haben. Um das zuzugestehen, muss man kein orthodoxer Marxist sein.
Der so genannte „real existierende Sozialismus“ machte offensichtlich, dass die Marxsche Theorie nicht wirklich in die Realität umgesetzt wurde, aber auch, dass viele ihrer Annahmen und v. a. ihrer Prognosen falsch waren. Doch muss damit nicht die ganze Theorie falsch und ablehnenswert sein. Aber sie braucht eine Aktualisierung. Die klassische Marxsche Theorie ist nicht für alle Seiten gültig, sie ist geschichtlich eingebettet, was ja ihre Schöpfer auch nie bestritten haben.
Die Kritische Theorie, auch bekannt als Frankfurter Schule – zu ihren bekanntesten Vertretern gehören etwa Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Walter Benjamin, Jürgen Habermas oder Axel Honneth – versteht sich als Marxismus. Der orthodoxe Marxismus aber war für die Vertreter der Kritischen Theorie zu unbeweglich, mechanistisch und überholt. Er sei als „Theorie des 19. Jahrhunderts“ nur in diesem Kontext verständlich – und brauche daher eine geistige Erneuerung für das 20. Jahrhundert. Denn mit den historischen Bedingungen als Grundlagen der Kritik müsse sich auch die Theorie ändern. Durch eine Erneuerung würde Marxismus so nicht auf einem spekulativen oder ideologischem Boden stehen. Die Kritische Theorie versucht also, den Marxismus also auf die heutige Zeit anzupassen, aber auch, Lücken und Schwierigkeiten aufzuheben.
Was sind nun die Wandlungen, die die marxistische Theorie quasi aktualisierungsbedürftig machen? Marx habe die technisch fortgeschrittene Gesellschaft nicht vorausgesehen. Klassengegensätze wurden in dieser sekundär. U.a. der Wohlfahrtsstaat hat Gegensätze vereinigt und klassische marxistische Klassenkampfdoktrinen unbrauchbar gemacht. Die früher evidente Irrationalität der durch die kapitalistische Produktionsweise geprägten Gesellschaft, wie etwa Kinderarbeit, unwürdige Arbeitsbedingungen, Armut, hohe Sterblichkeit und extreme soziale Ungleichheit sei heute nicht mehr offensichtlich. Die Verelendungstheorie hat sich nicht bewahrheitet. Trotzdem gibt es aber noch weiterhin Ausbeutung (eine Aneignung des Mehrwerts der Arbeit durch das Kapital). Aber die klassische Marxsche Annahme, dass nur die Arbeit Mehrwert bilden könne, kann als überholt angesehen werden: Maschinen bestimmen immer mehr die Produktivität. Auch die Marxsche Entfremdungstheorie scheint so nicht mehr zu stimmen – die Menschen erkennen sich immer mehr in ihren Gütern. Insgesat hat die kapitalistische Gesellschaft eine Totalität entwickelt und ist derart in Denken, Sprechen und Handeln dermaßen großer Bevölkerungsteile eingedrungen, die sich mit dem System, dass sie ausbeutet und in Herrschaftsstrukturen gefangen hält, nun vollends identifizieren, wie es Marx und Engels im 19. Jahrhundert kaum vorausgesehen haben. Von dieser Konstellation kann kaum ein Klassenbewusstsein ausgehen, geschweige denn eine Revolution oder eine sonstige Umwälzung der bestehenden Gesellschaft.
Nach Ansicht der Kritischen Theorie müsse marxistische Theorie im Zuge der Veränderungen im kapitalistischen System veraltete Kategorien modernisieren. Marx Gesellschaftskritik war für das 19. Jahrhundert zutreffend und bietet auch heute noch viele gute Ansatzmöglichkeiten. Man kann Marx heutztage etwa nicht mehr als Ratgeber für wirtschaftswissenschaftliche Fragen heranziehen – hier ist ein Scheitern vorprogrammiert. Die Kritische Theorie sagt, es bestünde zwar immer noch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit privatem Aneignungsbedürfnis als Triebfeder, dieses führe aber durch den enormen technischen Fortschritt zu einer Annäherung der Klassengegensätze und -interessen, zur Abnahme unmittelbaren Elends, zu mehr gesellschaftlichem Reichtum, auch für untere Schichten. Außerdem gehe der klassische Kapitalismus teilweise in einen organisierten Monopolkapitalismus über. Da der Proletarier als Klasse verschwunden ist, müsse sich Bewusstseinsbildung zur Emanzipation in der Gesamtgesellschaft bilden.
Außerdem hat die Kritische Theorie auch Ideen und Ansätze von anderen Denkern außerhalb des Marxismus aufgenomen – von Hegel etwa (die Dialektik, die freilich schon Marx übernommen hatte- wenn auch in etwas anderer,Form als Hegel …), von Max Weber, oder von Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse eine bedeutende Rolle spielt.
Den sogenannten “real existierenden Sozialimus” sah die Kritische Theorie übrigens genauso negativ wie den Kapitalismus. Herbert Marcuse etwa sieht Eindimensionalität (in Denken, Sprechen, Verhalten) als das Kennzeichen der Ideologie aller hoch entwickelten Industriegesellschaften, auch der Sowjetunion. In den kommunistisch regierten Ländern werde die Gesellschaft wie im Kapitalismus von einer totalen Technokratie und Verwaltung manipuliert und jede Opposition erstickt oder integriert. Beide Gesellschaftsformen kämpften gegen die Auflösung der Grundlage von Herrschaft. Die Sowjetregierung habe sich die Herrschaftsstrukturen und die Produktions- und Verwaltungsrationalität des Industriezeitalters zu eigen gemacht (Verstaatlichung ist für Marcuse mehr ein Wechsel der Herrschaftsweise, als eine Voraussetzung, die Herrschaft abzuschaffen und das Verschwinden des Staates zu erreichen) mit parallelem Ergebnis zu den westlichen Staaten. Unterwerfung und Unterordnung sowie deren Reproduktion kennzeichneten (alle) Industriegesellschaften.
Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU haben in gewohnt intransparenter Weise hinter verschlossenen Türen die durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen neuen Posten ausgeschachert, mit zwei durchaus überraschenden Besetzungen.
Der belgische Premierminister Hermann Van Rompuy wird der erste Präsident des Europäischen Rates. Der als “tiefgläubiger Christ” beschriebene ehemalige Jesuitenschüler und Absolvent einer katholischen Universität stellt dabei den Vertreter der konservativen Parteien. Aufgrund eines üblichen Proporzes hätte eigentlich ein Vertreter der linken das zweite Amt übernehmen sollen. Doch Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik soll die britische Baroness und Mitglied auf Lebenszeit des House of Lords Catherine Ashton übernehmen. Sie als Mitglied der Labour Party als Sozialistin zu bezeichnen kann aber nur als mäßig gelungener Scherz betrachtet werden. Schließlich hat New Labour mit der konsequenten Fortsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik Thatchers mit Maßnahmen wie grenzenlosen Privatisierungen, einem gnadenlosen Aufbau von Workfare-Politiken oder der Einführung von Studiengebühren eine am treffendsten als neoliberal zu charakterisierende Politik betrieben, die sich schließlich auch im Programm der Partei mit einem Abschied vom Ziel der sozialen Gerechtigkeit und eines umverteilenden Sozialstaates ausdrückte. Und mit dem Aufbau eines umfassenden Überwachungsstaates hat Labour eine Innenpolitik zu verantworten, wie sie etwa eine CSU nie durchführen würde. Nein, die Labour Party hat außer ihrer Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Europas kaum noch Gemeinsamkeiten zu einer sozialdemokratischen oder demokratisch sozialistischen Politik. Ein etablierter Außenpolitiker einer linken Partei wie bspw. Massimo D’Alema war offensichtlich vielen in Europa zu gefährlich.
Konservatismus und Neoliberalismus, Katholizismus und Adel, mit diesen beiden Personen wird nur die Politik fortgesetzt, die auch für die Entstehung des Lissabonvertrages kennzeichnend gewesen ist. Denn dieser Vertrag kann als ein Projekt der konservativen Eliten Europas charakterisiert werden. Er sorgt nicht für eine Beseitigung der demokratischen Defizite der EU (und schafft neue, z.B. dadurch, dass nur die Bürger Irlands über diese umbenannte EU-Verfassung abstimmen durften), er schafft Machtkonzentrationen, schreibt eine marktradikale Wirtschafts- und Sozialpolitik mit weiteren Privatisierungen und Deregulierungen sowie eine Militarisierung und Aufrüstung fest und, schränkt Bürgerrechte ein.
Beide Personen haben aber noch etwas gemeinsam: sie gelten als weitgehend unbekannte und wenig profilierte Gesichter. Ashton hat zudem – auch nach eigener Bekundung – kaum Erfahrung auf dem Gebiet der Außenpolitik. Es kommt also die Frage auf, inwiefern sie sich gegen gestandene und einflussreiche Vertreter der EU-Staaten durchsetzen könnten. Tatsächlich wird es auch offen geäußert, dass die beiden sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner und die Kandidaten waren, die am wenigsten Konflikte zwischen den Regierungschefs auslösten. Man scheint Kandidaten gesucht zu haben, die den Vertretern der Nationalstaaten nicht die Show stehlen.
Jedoch muss dies aber – nun kommt die Überraschung – keinesfalls negativ gesehen werden. Den beiden neu geschaffenen Posten mangelt es an demokratischer politischer Legitimität. Die Bürger Europas haben auf sie und ihre Politik so gut wie keinen Einfluss, und auch die Parlamente haben diesen nicht. Ein einziges Treffen der Regierungschefs soll die Legitimation für deutlich umfassendere Kompetenzen und Machtressourcen als bisher darstellen? Dazu kommt, dass die Kompetenzen deutlich in nationale Politiken eingreifen, wie gesagt ohne dafür genügend demokratisch legitimiert zu sein. Die Ausweitung des Mehrheitsprinzips in der EU wird dazu führen, dass wenige vorwiegend konservative Politiker eine Macht über die Bürger und die demokratischen Institutionen sowohl der EU als auch ihrer Mitgliedsstaaten erhalten werden. Insofern sind zwei schwache Vetreter auf den beiden neu geschaffenen Posten das beste, was man sich wünschen kann. Eine Ausweitung der europäischen Integration auf weitere Politikfelder und eine handlungsfähigere Europäische Union sind durchaus wünschenswert – aber nicht, wenn diese derart undemokratisch und intransparent gestaltet ist wie im Vertrag von Lissabon.
Indem sie Konzepte wie einen Stufensteuertarif und die Kopfpauschale mit dem Attribut “gerecht” versehen, verdeutlichen die Vertreter von Union und FDP wieder, wie unterschiedlich Gerechtigkeitsvorstellungen sein können. Und wenn dabei auch noch “einfach” gegen “gerecht” ausgespielt wird, kann nur einer verlieren: der Sozialstaat.
Einfach, niedrig, gerecht? Ein neues Steuersystem und die Kopfpauschale
Das progressive Steuersystem hatte in Deutschland lange mit dem Konsens aller Bundestagsparteien bestand. Ein System, dass die Steuerlast an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anpasste, entsprach und entspricht noch dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Deutschen. 2005 kostete der “Professor aus Heidelberg” der Union mit seinem Flattax-Konzept fast den Wahlsieg. Seitdem war es ruhig darum, und auch die Unionsparteien und die FDP ließen im Wahlkampf nichts davon hören. Wie also nun die Menschen von einem Konzept überzeugen, dass den Weg in die Richtung einer Flattax ebnen soll (und zudem unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten als keineswegs sinnvoll betrachtet werden kann), den Stufentarif – und ihnen zudem die äußerst unpopuläre und von einer überwältigenden Mehrheit als ungerecht empfundene Kopfpauschale verkaufen? Wie üblich: mit der durch die Massenmedien völlig unreflektiert aufgegriffenen und immer wieder wiederholten Parole “einfach, niedrig und gerecht!”.
Niedrigere Steuern kommen immer gut an. Auch wenn sie in einer Lage der Wirtschaftskrise, einer noch nie dagewesenen Neuverschuldung und der selbst von Wirtschaftsliberalen eingesehenen Notwendigkeit von Konjunkturprogrammen kommen sollen. Die Kopfpauschale dagegen bedeutet mit den geplanten 105 Euro nur für Besserverdiener eine Entlastung – dort aber eine massive (die absoluten Spitzenverdiener hatten diese natürlich auch vorher durch die Beitragsbemessungsgrenze, die festgesetzte absolute Oberhöhe von Zahlungen an die Krankenversicherung – ein Konzept, dass ausschließlich in der Bundesrepublik existierte und ausschließlich dazu diente, die Reichsten der Reichen zu entlasten).
Kommen wir zu “einfach”. Es ist klar, was immer mit diesem “einfacher” beabsichtigt wird: “der Stammtisch” soll überzeugt werden, die zu wählen und die Politiken zu unterstützen, “die er auch versteht”. Eine Flattax ist ja auch viel einfacher zu verstehen als eine progressive Steuer, ein einheitlicher Betrag zur Gesundheitsversicherung einfacher als ein einkommensabhängiger. [He, und wo wir schon bei der Kopfpauschale sind: wie wäre es mit einer Pauschalsteuer, einer Einheitssteuer nicht in der Form eines einheitlichen Prozentsatzes, sondern eines einheitliches Betrags? 1.000 Euro Steuer für jeden, das wäre doch eben ganz einfach. Und für die “Leistungsträger” ist es auch niedrig. Und darum gerecht.] Aber im Ernst: Einfachheit allein kann kein politisches Konzert sein, und dann um so mehr nicht, wenn sie in Konflikt zur Gerechtigkeit steht.
Die Stufensteuer: wirtschaftlich sinnlos UND ungerecht
Kommen wir zu dieser, kommen wir zur Gerechtigkeit. Die FDP hatte gefordert, den Mittelstandsbauch abzubauen. Dieser bedeutet, dass im deutschen Steuersystem zur Zeit Niedrigverdiener und der Mittelstand höher belastet werden als die Spitzenverdiener, da die Progression zunächst steiler verläuft, dann abflacht. Mit einem Stufentarif würden jedoch quasi so viele Bäuche wie Stufen entstehen und das Problem damit noch potentiert. Mehr Gerechtigkeit bedeutet dies also in keinem Fall, egal, von welchem Gerechtigkeitsverständnis wir sprechen (aber dazu kommen wir später). Auch das in letzter Zeit immer wieder gern genannte Argument der “kalten Progression” ließe sich nur bedingt mit einem Stufentarif beseitigen, da eben an der Grenze zu einer höheren Steuerstufe ein großer Sprung stattfindet (statt eines immer gleichmäßigen Anstiegs), also diesmal wirklich ein bedeutenderer Teil eines hinzuverdienten Euros wieder verschwindet. Für bestimmte Gruppen, deren Einkommen an diesen Schwellen liegen, bedeutet dieses System also einen Verlust an “gerechter” Besteuerung und auch eine Art der Willkür. Ein gleichmäßig ansteigendes Steuersystem ist sehr viel rationaler und wohl unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht zu überbieten.
Auch den größtenteils Juristen, die bei den Regierungsparteien für die Wirtschafts- und Steuerpolitik verantwortlich sind, dürften diese Punkte nicht entgangen sein. [Auch wenn ich den Eindruck habe, dass man vielen von deren Anhängern noch mal den Unterschied zwischen Grenz- und Durchschnittssteuersatz erklären sollte (was wenigstens einige von ihren Äußerungen erklären könnte)]. Ein Stufentarif ist nicht viel einfacher als ein progressiver, und er ist nicht gerechter. Und dies trifft noch viel mehr auf die Kopfpauschale zu.
Die Kopfpauschale: warum die Gesundheit eines Menschen nicht das selbe wie ein Auto ist
Der neue Gesundheitsminister Rösler meint, die Kopfpauschale entlaste nicht nur den “Faktor Arbeit”, sondern dürfe ja auch gar nicht als “unfair” bezeichnet werden: über die Gesundheitsversicherung könne sowieo keine Umverteilung erfolgen, diese könne nur über das Steuersystem geschehen. Mal davon abgesehen, dass ich den Wirtschaftsliberalen glaube ich hier kein Unrecht tun, wenn ich festhalte, dass diese sowieso gegen den “Umverteilungsstaat” eintreten, ist die Aussage auch in anderer Hinsicht falsch. Die Gesundheitsversicherung ist in einem breiten politischen Konsens als Versicherung entwickelt worden, in der 1. jeder nach seiner Leistungsfähigkeit einzahlt und 2. jeder bei Bedarfsfall die Leistungen erhält, die er benötigt.
Zum 1.: Das eine einkommensunabhängige Kopfpauschale das Gegenteil dieses Prinzips darstellt, ist offensichtlich und bedarf wohl keiner eingehenderen Erläuterung. Und solche Äußerungen wie “wir zeigen durch eine Kopfpauschale, dass uns die Gesundheit jedes Bürgers gleich viel wert ist”, machen nur Sinn, wenn man die Gesundheitsversicherung sagen wir wie eine KFZ-Haftpflichtversicherung betrachtet, wenn man die Gesundheit zur Ware macht. Jeder zahlt einen gleichen Betrag, oder besser noch: “Risikogruppen” zahlen in der Gesundheit wie Umweltschädlinge bei den Autos höhere Beträge. Hier liegt aber ein gewaltiger Unterschied: die Gesundheit eines Menschen zu bewahren und ihm die Hilfe, die er benötigt, zukommen zu lassen, ist ein Grundpfeiler einer menschlichen Gesellschaftsform. Die Gesundheit ist außerdem nicht etwas, was man sich aussucht, wie etwa ein Auto, und für ihre Beibehaltung und Wiederherstellung sind auch nicht einigermaßen gleiche und vorhersehbare Kosten notwendig, wie bei einem Auto. Und diese Sicht, die Gesundheit nur als Ware zu betrachten, die auf Märkten gehandelt wird, wirkt sich auch auf das 2. Prinzip aus, die 2-Klassen-Medizin, die in Deutschland immer mehr entstanden ist. Die “Reformen”, die im Gesundheitssystem geplant sind, gehen noch mehr in diese Richtung: nur noch eine Basis-Grundversorgung für die Niedrigverdiener, mit “flexibel wählbaren” Erweiterungen. Je mehr Geld, gegen desto mehr Risiken kann man sich absichern, eine desto bessere Behandlung bekommt man. Im Extremfall kann der Geldbeutel über Leben und Tod entscheiden. Und dies tut er schon viel zu häufig.
Wenn der Mensch nur das zählt, was er leisten kann
Und doch kommt diese Haltung nicht von ungefähr. Sie rührt aus der in den letzten 3 Jahrzehnten zur Vorherrschaft gelangten neoliberalen Ideologie, in der der Einzelne nur so viel zählt, wie er wirtschaftlich zu leisten im Stande ist. In dieser ist dann für viele für Altruismus ebenso wenig Platz wie für als “Schwäche” angesehene physische oder psychische Krankheiten. Da gibt es keine Entschuldigung, jeder Mensch muss Leistung bringen – immer! In dieser harten Leistungsgesellschaft setzt sich nur der Starke durch. Eine überaus ekelerregende und pervertierte Erscheinung dieser Denkweise ist es vielleicht auch, wenn (glücklicherweise – noch? – in wenigen Einzelfällen) Ökonomen sich in als Studien getarnten Angriffen auf das humanistische Menschenbild und die Menschenwürde dazu herablassen, das Wert eines Menschenlebens daran zu bemessen, wie viel dieser für seine Gesundheit auszugeben in der Lage und bereit ist und so allen Ernstes zu dem Schluss kommen, man solle nur für die Gesundheit der Menschen in den reichen Ländern sorgen, weil die Menschen dort mehr dafür ausgeben können. Wer kein Geld hat, soll halt sterben. Oder Geld verdienen. Wie gesagt, diese menschenverachtenden Pamphlete sind zum Glück selten, und ich möchte auf keinen Fall sagen, dass solch widerliche Ansichten aus liberalen Überzeugungen folgen müssen. Aber in gewisser Weise treiben sie die Ansicht der Gesundheit als Ware – wie gesagt, pervertiert – auf die Spitze. Eine Entwicklung, die ein Warnsignal sein muss an alle, die daran glauben, dass jedes Menschenleben gleich viel zählt – seien es Liberale, Konservative oder Linke.
Gerechtigkeit und Menschenbild: Wenn der Mensch ausschließlich egoistisch ist
Die Gerechtigkeitsvorstellungen einer politischen oder philosophischen Richtung hängt nicht zuletzt mit deren Menschenbild zusammen. Der Mensch der liberalen und der konservativen Ideologie ist der Mensch, den die Großbürger Hobbes und Locke im England der frühen Neuzeit erfunden haben. Vorher war es kaum möglich gewesen, den Bürger als völlig herausgelöst aus der Gesellschaft zu betrachten. Die früheren Grundsteinleger des Liberalismus (Locke) und des Konservatismus (Hobbes) verstiegen sich nun aber dazu, den Bürger, den sie in der City of London sahen, als den Menschen schlechthin zu konzipieren, den ursprünglichen Menschen des Naturzustandes. Dieser Mensch, so ihre Vorstellung, steht isoliert dar und handelt ausschließlich egoistisch unter einem auf die Verfolgung des eigenen Nutzens beschränkten Rationalitätsbegriff. Gewiss gibt es egoistisch nutzenmaximierend handelnde Menschen. Doch das Menschenbild, das Liberale und Konservative als das einzig mögliche ansehen, ist ebenso ein Ausdruck seiner Zeit wie das des politischen Mensch des antiken Griechenlands. Konkret ist es das Produkt des aufkommenden Kapitalismus in England zur Zeit des 17./ 18. Jahrhunderts.
Doch dieses Menschenbild ist das, was in der liberalen Lehre und in den liberalen Wirtschaftswissenschaften bis heute vorherrscht. Auch wenn soziologische Studien zeigen, dass die Gesellschaft eine viel größere Rolle spielt, dass der Mensch sich erst durch die Gemeinschaft als Individuum entfalten kann, stört das die Vertreter dieses Menschenbildes nicht sehr. Sie können und sie wollen sich nicht vorstellen, das Menschen auch altruistisch handeln können. Und so etwas ist keine Wissenschaft. So etwas ist Ideologie.
Wenn sich eine Ideologie auf dieses Menschenbild gründet, kennt sie höchstes die Konzepte “Leistungsgerechtigkeit” und “Chancengerechtigkeit”. Je mehr man leistet, um so mehr soll man davon haben, und jeder soll die gleichen Startchancen habe. “Soziale Gerechtigkeit” oder “Verteilungsgerechtigkeit” sucht man dort vergebens. Diese sind ur-sozialdemokratische Konzepte (und die “Sozialdemokraten”, die, v.a. in der Schröder-Müntefering-Steinmeier-Ära versucht haben, soziale Gerechtigkeit durch Chancengerechtigkeit zu ersetzen, haben damit nur versucht, den mageren Abklatsch des sozialdemokratischen Originals dort einzuschleusen. Die ehemals sozialdemokratische Labour-Party hat – nicht nur nach meiner, sondern auch nach der Meinung vieler Wissenschaftler – mit der Abkehr von der sozialen und Hinwendung zur Chancengerechtigkeit endgültig den Wandel von der sozialdemokratischen zur wirtschaftsliberalen Partei vollzogen).
Liberal versus Neoliberal
Während die klassischen Liberalen also noch ein paar Gerechtigkeitsbegriffe haben, wollen die härtesten Vertreter des Neoliberalismus davon nichts hören und lehnen auch diese Begriffe ab. Um ein Beispiel zu nennen: der klassische Liberale würde hohe Managergehälter z.B. dadurch rechtfertigen, dass diese viel arbeiten und eine hohe Verantwortung und hohe Risiken zu tragen haben. Eine Argumentation, die man nicht teilen muss, aber immerhin eine nachvollziehbare und in sich schlüssige Argumentation, denke ich. Der Neoliberale Hayek dagegen würde sagen: diese verdienen so viel, weil sie sich auf dem Markt durchgesetzt haben. Weil es so ist. Gerechtigkeit gibt es nicht, es kann sie (und es soll sie) nicht geben. Als “gerecht” könnte man dann höchstens noch die Marktergebnisse bezeichnen, egal wie sie ausfallen, eben: weil sie so ausfallen.Und an den Marktergebnissen etwas zu ändern, sei ein Eingriff in die menschliche Freiheit – allein die Erhebung von Steuern betrachtet er als eine im Prinzip genauso große Freiheitsberaubung und ebenso ein Eingriff in die Menschenwürde (!) wie etwa Gefängnis oder Folter.
Wir sehen also, Vorstellungen von Gerechtigkeit könne sehr verschieden und vielfältig sein – aber kaum so vielfältig wie die verschiedenen politischen Vorschläge, die immerzu reflexhaft als “gerecht” gegen jede Kritik immunisiert werden. Mal sehen, ob Regierung und Medien es schaffen, auch die Kopfpauschale und ein Stufenssteuersystem der Öffentlichkeit als “gerecht” zu verkaufen. Zumindest bei Letzterer sieht es ja ganz gut für sie aus.