Koch geht – das System Koch bleibt

Von Wolf Wetzel

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Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hat gestern seinen Rücktritt erklärt. Bevor man über diese Ankündigung jubelt, sollte man sich die Worte seiner Rücktrittsrede auf der Zunge zergehen lassen: Süffisant zitiert er eingangs aus seiner Geburtstagrede aus dem Jahr 2008, in der er im Gangsterjargon hat verlautbaren lassen, dass er in seiner Arbeit »noch etwas zu erledigen« hätte…. Dann schaut er auf seine »Arbeit« zurück und lässt uns wissen, dass alles »zu meiner vollsten Zufriedenheit geschehen« sei. »Mehr als zwölf Jahre …(und) eine wirklich tolle hessische CDU« liegen bald zurück und ein Wechsel in die Wirtschaft als Belohnung warten auf ihn. Was und wen hat der hessische Ministerpräsident Roland Koch »erledigt«?

Rückblick

Obwohl sich die hessische CDU im Wahlkampf 2008 noch steigerte, ihre rassistische Kampagnen (z.B. die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsangehörigkeit 1999) mit dem Kampf gegen ›ausländische Kriminelle‹ zu krönen wusste, von ›Kuscheljustiz‹ fabulierte und mit ›Warnschussarrest‹ drohte, musste sie massive Verluste (minus 12 Prozent) hinnehmen. Ihr Wahlkampfmotto: »Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen«, eine Mischung aus Deutschtum und Kommunistenphobie ging nicht auf. Selbst mit der FDP zusammen hatte sie keine Regierungsmehrheit mehr. Die SPD hingegen konnte gegen den bundesweiten Abwärtstrend 7,6 Pozent zulegen und hatte sogleich ein Problem: Auch mit den Grünen zusammen wäre sie auf eine Tolerierung durch die Partei DIE LINKE angewiesen gewesen. Genau diese schloss sie jedoch aus – in der Hoffnung, so den Einzug der LINKEN verhindern zu können. Um dennoch rot-grüne Regierungspolitik machen zu können, brach sie ihr Wort und handelte ein Tolerierungsabkommen mit der Partei DIE LINKE aus.

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In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es schon viele Wortbrüche, ohne dass diese den jeweiligen Parteien geschadet hätten. Doch dieses Mal passierte etwas Ungewöhnliches: Eine parteiübergreifende Koalition aus Wirtschafts-, Partei- und Medienunternehmen fand sich zusammen, um den »linken Putsch gegen den Wählerwillen« zu verhindern. Die Initiatoren, Unterstützer und Sponsoren der ›Wortbruch-Kampagne‹ reichten von BILD bis FNP, vom wirtschaftsfreundlichen Flügel der SPD bis zu unternehmensnahen Gewerkschaftsgliederungen. Wenn man also davon ausgeht, dass diese Große Koalition in punkto Wortbruch genug (eigene) Erfahrungen hat, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass es um ein politisches Programm ging, dessen Verwirklichung um jeden Preis verhindert werden musste. Und in der Tat störten einige SPD-Programm-Punkte einflussreiche Wirtschaftsinteressen und milliardenschwere Unternehmen in Hessen derart, dass sie gegen dieses ›wirtschafts- und standortfeindliche‹ Regierungsprogramm mobil machten:

  1. Die geplante Startbahn Nord am Frankfurter Flughafen sollte erst gebaut werden, wenn die Gerichte über die Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses entschieden haben. Auf das Instrumentarium des ›Sofortvollzuges‹ sollte also verzichtet werden.
  2. Am Atomausstieg sollte festgehalten werden, gerade auch im Hinblick auf das älteste Atomkraftwerk in Biblis.
  3. Der Ausbau regenerativer Energien sollte zügig und entschieden vorangetrieben werden.
  4. Diese politischen Vorgaben sollten durch einen neuen Wirtschaftsminister unterstrichen werden: Dr. Herrmann Scheer.

Nachdem alle Parteigliederungen diesen Kurs unterstützt hatten, wählte das Wortbruch-Kartell zuerst die Implosionsstrategie: Durch fast unannehmbare Forderungen an die Partei DIE LINKE sollten die Tolerierungsverhandlungen zum Scheitern gebracht werden. Das Ziel dieser Strategie beschreibt der FAZ-Redakteur Volker Zastrow – im Nachhinein – wahrheitsgemäß: Andrea Ypsilanti sollte aufs Dach gejagt werden, um ihr »dann die Leiter wegzuziehen.« Zur Überraschung aller schluckte DIE LINKE alle Kröten. Daraufhin zog man das letzte Ass aus dem Ärmel: Ein Tag vor der entscheidenden Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin entdeckten vier SPD-Abgeordnete in einer Pressekonferenz im Dorinthotel ihr Last-Minute-Gewissen und verweigerten Ypsilanti ihre Stimme. Der Schaden für die hessische SPD war maximal, eine rot-grüne Minderheitsregierung gescheitert und die Ausbaupläne des Flughafen-Kartells gesichert. Zugleich war der Machtkampf innerhalb der SPD entschieden: Eine SPD-Landespolitik, ein wenig links von ›Agenda 2010‹ und einer ›Boss der Bosse‹ Politik, sollte es nicht geben.

FRAPORT & Co. nehmen die Wahl an

Nach dem Scheitern einer rot-grünen Regierung mit Tolerierung durch DIE LINKE wurden Neuwahlen angesetzt: Der rechte, wirtschaftsfreundliche Flügel innerhalb der hessischen SPD setzte sich durch: Andrea Ypsilanti trat zurück und der blasse, ›flügellose‹, angeblich flügelübergreifende Thorsten Schäfer-Gümbel wurde zum neuen SPD-Ministerpräsidentschafts-kandidaten aufs Schild gehoben. Alle markanten, von der Wirtschaft abgelehnten Positionen verschwanden aus dem Programm. Die Flucht ins Allgemeine wurde nur noch von einem Wahl›kampf‹plakat übertroffen, das furchteinflößender nicht sein konnte: »Die Roten kommen wieder!« Die ›Roten‹ waren drei brave, bärtige Nikoläuse mit Leergut in den Händen…

Die CDU setzte auf bereits Gesagtes, ohne es noch einmal plakativ in Szene zu setzen: Man verzichtete auf laute rassistische Programmatiken und zeigte sich ›lernfähig‹: Die Wiedereinführung von Studiengebühren wurde aus dem Programm gestrichen.

»Zur Rache, Schätzchen«

Die breit angelegte, parteiübergreifende Kampagne gegen den ›Wortbruch‹ von Andrea Ypsilanti hatte Erfolg: Am 18.1.2009 wählten Hessens BürgerInnen endlich richtig: 37,2 % der abgegebenen Wahlstimmen entfielen auf die CDU. Zusammen mit der FDP bildeten sie die neue hessische Landesregierung.

Vollstrecken – säubern – belohnen

Vollstrecken …

Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm liest sich wie eine Darlehensrückzahlung an die Hauptsponsoren des CDU-FDP-Sieges:

  • Der Flughafen soll zügig ausgebaut werden.
  • Das Kernkraftwerk Biblis soll bleiben.
  • Das Verfahren zur Genehmigung des Kohlekraftwerks Staudinger soll vorangetrieben werden.
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Erwartungsgemäß ausgelassen zeigten sich die Hauptsponsoren: »Von der Arbeitsgemeinschaft der hessischen Industrie- und Handelskammern kamen zustimmende Äußerungen … Auch die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände und der Bauernverband zeigten sich zufrieden.« Der Jubel war berechtigt. Zumindest diese Versprechen überstanden den Wahlkampf unbeschadet. Nur zwei Tage nach dem Wahlsieg umstellten Hundertschaften der Polizei das Waldcamp im Kelsterbacher Wald und begannen im Schutz von über 1.000 Polizeibeamten und 350 Wachleuten der Sicherheitsfirma ›Kötter‹ mit der Rodungen, obwohl die FRAPORT weder Besitzerin ist, noch die Gerichte über die anhängigen Klagen entschieden hatten.

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Eigentlich ist der im hessischen Regierungsprogramm formulierte Treueschwur zum Atomkraftwerk Biblis bzw. zum Energieriesen RWE absurd und ein offener Aufruf, den bestehenden Atomkonsens aus dem Jahr 2001 zu unterlaufen bzw. aufzuheben. Denn das AKW Biblis A ist das älteste Atomkraftwerk in Deutschland. Würde es mit rechten Dingen zugehen, hätte es noch vor der Bundestagswahl im September 2009 stillgelegt werden müssen. Doch dann fand man eine lebensverlängernde Maßnahme: Man drosselte die produzierte Strommenge und setzte auf die CDU als Siegerin der Bundestagswahlen 2009. Das ›Ja-Wort‹ der hessischen Landesregierung und die ›variable‹ Handhabung der festgelegten Restlaufzeiten würden so dem Betreiber RWE Millionen Euro in die Taschen spülen.

Säubern …

Nachdem 1999 herauskam, dass die hessische CDU Millionen an Schwarzgeldern als ›jüdische Vermächtnisse‹ auf ausländischen Konten getarnt hatte, versprach der hessische Ministerpräsident Roland Koch ›brutalst mögliche Aufklärung‹. Während Roland Koch und die hessische CDU ihr Versprechen nach allen Regeln der Kunst brachen, gab es einige, die genau das sehr wörtlich nahmen, wie z.B. das ›Banken-Team‹ im Finanzamt Frankfurt V. Seine Aufgabe bestand darin, steuerrechtliche Vergehen im Bankensektor zu verfolgen und aufzuklären. Auf diesem Gebiet hatten sie nicht nur z.T. jahrzehntelange Erfahrungen, sie waren Staatsdiener im allerbesten Sinne. Sie waren erfolgreich, gefährlich erfolgreich: So war Steuerfahnder Marco Wehner dabei, »als Frankfurter Steuerfahnder gegen den ehemaligen Schatzmeister der CDU, Walther Leisler Kiep ermittel(te)n. Das dunkelste Kapitel der Hessen-CDU.« Es ging um über 20 Millionen DM, die als illegale ›Kriegskasse‹ für Parteizwecke genutzt wurden und u.a. in der Liechtensteiner Stiftung ›Zaunkönig‹ anonymisiert, also gewaschen wurden.

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Sie ermittelten aber auch gegen Großbanken: »Stapelweise Belastungsmaterial fand das Team bei Commerzbank und Deutsche Bank , die Kunden geholfen hatten, Geld vor dem Fiskus zu verstecken. 250 Millionen Euro zusätzlich aus Steuernachzahlungen der Banken verbuchte das Land Hessen wegen ihrer Erfolge, rund eine Milliarde der Bund.«

Doch nicht nur potente Privatkunden (ab einer Million DM) wurden via ›Transferkonten‹ hiesiger Großbanken in Steueroasen wie Liechtenstein geschleust. Auch Großfirmen wie Siemens nutzten diesen Schleichweg, um Schmier- und Bestechungsgelder über Liechtensteiner Konten ›außerbilanziell‹ abzuwickeln: Deren Firmengelände in Offenbach und Erlangen wurden polizeilich aufgrund des Vorwurfes durchsucht, zwischen 1999 und 2002 mindestens sechs Millionen Euro Bestechungsgelder im Zusammenhang mit Auftragsvergaben an damalige Manager des italienischen Stromkonzerns Enel gezahlt zu haben. Im November 2006 teilte die Münchner Staatsanwaltschaft mit, Verantwortliche bei Siemens hätten sich »zu einer Bande zusammengeschlossen« und sich an der »Bildung schwarzer Kassen im Ausland« beteiligt.

Man kann nur erahnen, um welche Summen es sich dabei insgesamt handelt, wenn man davon ausgeht, dass die aufgedeckten Fälle nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Für etwas anderes braucht man hingegen keine Fantasie: Die in Eintracht organisierte Kriminalität durch Parteien, Banken und Großfirmen schweißte zusammen, bei dem Versuch, einen Flächenbrand mit allen Mitteln zu verhindern.

2001 erließ das Finanzamt Frankfurt auf Anweisung des hessischen Finanzministeriums die Verfügung, nur noch Geldtransfers ins Ausland zu untersuchen, die die Summe von 500.000 Mark überstiegen. Damit wurden Geldtransfers unterhalb dieser Grenze für ›steuerrechtlich unverdächtig eingestuft‹, was einer Einladung gleichkommt, in Zukunft Steuerhinterziehung in gestückelten Teilbeträgen zu praktizieren.

Gegen diese Anweisung protestieren einige Steuerfahnder aus der ›Bankengruppe‹. Sie befürchteten zu Recht, dass damit ein verfolgungsfreies Schlupfloch geschaffen werden sollte. Daraufhin wurde das in Gang gesetzt, was später als das System ›Archipel Gulag‹ bekannt werden sollte. Wie groß der Druck nicht nur vonseiten von Großbanken und Großfirmen gewesen sein dürfte, welch massives Eigeninteresse auch die hessische CDU daran hatte, dass ihr das Ganze nicht um die Ohren fliegt, macht ein weiterer ›Skandal‹ deutlich, der 2009 an die Öffentlichkeit drang.

Die Stiftung ›Zaunkönig‹ lässt grüßen

Man kann nicht behaupten, die hessische CDU hätte aus der Serie von ›Schwarzgeld- und Spendenskandalen‹ der 80er und 90er Jahre keine Lehren gezogen, im Gegenteil: Man justierte neu, ging neue, innovative Wege. Zu diesen Optimierungsmöglichkeiten darf man auch den Versuch zählen, Schwarzgelder nicht mehr ins Ausland zu transferieren, sondern innerhalb eines weit verzweigten Firmennetzes ›auszusondern‹. Als eine dieser Schaltstellen darf man Volker Hoff bezeichnen. Er ist nicht nur ein Freund von Roland Koch, er ist auch CDU-Landtagsabgeordneter in Hessen. Außerdem war er Mitbesitzer der Wiesbadener Firma ZHP (Zoffel Hoff Partner) in den Jahren 2003 bis 2006: »In 38 Fällen haben Ermittler der Staatsanwaltschaft nachgewiesen, dass hohe Geldsummen von der Firma Aegis – immer ohne ersichtlichen Rechtsgrund und ohne angemessene Gegenleistung – in Volker Hoffs Firma ZHP flossen …«. Die Staatsanwaltschaft summierte die ihr bekannten Beträge auf ca. 9 Millionen Euro. Volker Hoff beschrieb seinen Aufgabenbereich innerhalb der begünstigten Firma geradezu kafkaesk: ›Betreuung von politischen Kunden‹. Zuerst wurde gegen die Firma Aegis ermittelt. Als absehbar war, dass die Firma ZHP selbst ins Visier der Ermittler und der Strafverfolgung geraten könnte, reagierte die hessische CDU prompt – Roland Koch ernannte seinen Freund Hoff am 28. März 2006 zum Minister für ›für Bundes- und Europaangelegenheiten‹.

Aus gutem Grund: »Hoff und seine Firma waren über lange Jahre so etwas wie die informell verlängerte Partei-Zentrale der Hessen-CDU, Zuständigkeitsgebiet: Öffentlichkeitsarbeit. Ob es Kampagnen und Plakate für Wahlkämpfe zu entwickeln gab, oder eine hessische Fußball-WM-Gala organisiert werden sollte – Hoff war mit seiner Agentur ZHP stets dabei …« Die Einleitung eines Verfahrens zur Aufhebung der Immunität des Abgeordneten wurde bis heute nicht durchgeführt, das Verfahren selbst ›mangels Tatverdacht‹ eingestellt. Der oberste Dienstherr dieses Brandbekämpfungsunternehmens ist der Justizminister Jürgen Banzer (CDU).

Das System ›Archipel Gulag‹

Es gab also genug Gründe, lästige Zeugen und störende Beamte endgültig aus dem Weg zu räumen – aus Eigenschutz und zum Schutz der ›Amigos‹ in der Banken- und Businesswelt. Zuerst versuchte man die unliebsamen Steuerfahnder durch Versetzungen zu disziplinieren: »Ein Teil von ihnen wird in die ›Servicestelle Recht‹ versetzt … eine Geisterstation … ›Man nannte die Servicestelle Recht behördenintern auch ›Strafbataillon‹ oder ›Archipel Gulag‹« Dann machte man mit der ganzen Abteilung Tabula rasa und löste sie auf. Doch anstatt sich im ›Strafbataillon‹ zu bewähren, klagten einige Betroffene gegen die Disziplinarverfahren (und gewannen diese später).

Doch dann passierte etwas, was man weder in der Oberfinanzdirektion, noch im hessischen Finanzministerium für möglich gehalten hätte, womit sie nicht rechnen konnten. Im Sommer 2003 trafen sich fast 50 Steuerfahnder, solidarisierten sich mit den ›Aussätzigen‹ und verfassten einen gemeinsamen Brief an den Ministerpräsidenten Roland Koch: »Wir sind Steuerfahnder und Steuerfahndungshelfer des Finanzamts Frankfurt V und wenden uns an Sie, weil wir begründeten Anlass zu der Sorge haben, dass die Steuerfahndung Frankfurt am Main ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann, weil Steuerhinterzieher nicht in gebotenem Maße verfolgt werden können.«

Der Brief wurde nicht abgeschickt, nachdem einige es mit der Angst zu tun bekamen. Dennoch gelangte dieser samt Amtsverfügung aus dem Jahr 2001 an die Öffentlichkeit. Daraufhin wurde ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag 2003 eingerichtet. Ganze drei Jahre tagte dieser, bis die CDU-FDP-Mehrheit im Untersuchungsausschuss das feststellte, was schon vorher in aller Befangenheit feststand: Weder habe die Regierung Millionen an Millionäre verschenkt, noch habe sie bei der Auflösung der ›Bankengruppe‹ Rechtsbruch begangen.

Im September 2004 erhielt der Ministerpräsident Roland Koch (CDU) auf dem Dienstweg ein Schreiben des Steuerfahnders Rudolf Schmenger, in dem er Führungskräften der hessischen Finanzverwaltung »Fälle von Strafvereitelung im Amt, falsche Verdächtigung, Verletzungen des Steuergeheimnisses, Verletzung des Personaldatenschutzes, Mobbing und Verleumdung« vorwarf.

Jetzt reichte es nicht mehr, die aufsässigen Fahnder von brisanten Fällen abzuziehen, jetzt musste man sie als potenzielle Zeugen unglaubwürdig machen, für irre erklären. Mitte 2006 bekam der Adressant dieses Schreibens eine Aufforderung der Oberfinanzdirektion, sich medizinisch begutachten zu lassen. Es ist kein allgemeiner, dafür ein außerordentlich zuverlässiger Arzt, der ihn untersuchen sollte: Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann aus Frankfurt. Nach Auskunft der Landesregierung begutachtete dieser seit Oktober 2005 exakt 22 Fälle in der Finanzverwaltung – in zwei Dritteln dieser Fälle sei er zum Urteil ›Dienstunfähigkeit‹ gelangt. Auch in diesem Fall war sein Gutachten vernichtend: »Da es sich bei der psychischen Erkrankung um eine chronische und verfestigte Entwicklung ohne Krankheitseinsicht handelt, ist seine Rückkehr an seine Arbeitsstätte nicht denkbar und Herr Schmenger als dienst- und auch als teildienstunfähig anzusehen.«

Man beließ es nicht bei diesem Exempel, sondern ließ weitere Steuerfahnder vom Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann begutachten. Die Begründungen könnten auch aus einem Frankstein-Film stammen: Aufgrund »paranoid-querulatorische(r) Entwicklung (…), in deren Rahmen Herr M. unkorrigierbar davon überzeugt ist, Opfer großangelegter unlauterer Prozesse zu sein« erklärte Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann auch diesen für psychisch krank und dienstunfähig. Man war auf der Zielgeraden der Psychiatrisierung von ›unliebsamen‹ Zeugen angelangt. Denn nun stand ihrer Zwangspensionierung nichts mehr im Weg. Es ist vor allem der Hartnäckigkeit der zwangspensionierten Steuerfahnder zu verdanken, dass nach fast acht Jahren Risse im System ›Archipel Gulag‹ auftreten: Im November 2009 verurteilte das Verwaltungsgericht Gießen den Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann wegen fehlerhafter und »vorsätzlich« falsch erstellter Gutachten über hessische Steuerfahnder zu einer Geldbuße von 12.000 Euro und einem Verweis: »Weshalb der Gutachter von vornherein die vom Probanden geschilderten Ereignisse (…) für wahnhaft, also nicht der Realität entsprechend bewertet, ist an keiner Stelle des Gutachtens dargelegt und erschließt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang.«

Belohnen …

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Auch wenn es im Vergleich zu den vorangegangenen Entscheidungen ›Peanuts‹ sind, sollten sie hier nicht unerwähnt bleiben. Wer sich für ›Don Roland‹ verdient gemacht hatte, sollte fürstlich belohnt werden.

Z.B. Ex-Steuerfahnder Wolfgang Schad. Der Steuerfahnder Wolfgang Schad gehörte zu jenen über 45 Steuerfahndern, die sich im Sommer 2003 bei einer Zusammenkunft mit den vier kaltgestellten Kollegen solidarisierten und dort eine Petition an den hessischen Landtag verabschiedet hatten. Als Präsident des hessischen Leichtathletikverbandes organisierte er für dieses Treffen sogar einen Raum.

Als im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA beschlossen wurde, zwei Steuerfahnder zu befragen, gehörte auch Wolfgang Schad dazu. Kurz vor seiner Anhörung wurde er »ins Finanzministerium geladen: zum Abteilungsleiter 1, Mario Vittorio, der später Oberfinanzpräsident werden wird« . Der Inhalt dieses Gespräches blieb logischerweise geheim, doch lässt sich der Kern des Besprochenen anhand der folgenden Ereignisse ›rekonstruieren‹. Als Wolfgang Schad am 22.6.2005 vor dem Untersuchungsausschuss gehört werden sollte, bestand er darauf, nur in einer nicht-öffentlichen Sitzung Auskunft geben zu wollen. Die Sitzung wurde daraufhin abgebrochen und als ›nicht-öffentliche‹ fortgesetzt.

»Tags darauf wird er von seinen Kollegen im Büro daraufhin angesprochen, dass er im PUA offenbar nicht die Wahrheit gesagt hat. SCHAD gibt zu, dass er einen ›Blackout‹ hatte, sich nicht an die Dinge erinnern konnte, die er z.B. eigenhändig bei der Petition an den Landtag mit unterschrieben hatte.« Dieser ›Blackout‹ löste nicht nur einen wichtigen Zeugen für die in der Petition gemachten Vorwürfe in Luft auf, er wurde zudem wohlwollend honoriert. Was Wolfgang Schad bislang als Hobby betrieben hatte, wurde nun zu seinem neuen Beruf: »Er wird zum Regierungsoberrat (RoR) befördert und arbeitet nun im Hessischen Innenministerium: im Referat VI. Zuständigkeit dieses Referats: ›Sport‹ und ›Sportförderung‹.«

Z.B. die Container-Rebellin Carmen Everts (SPD): Es dauerte eine Weile, bis man alle Weichen gestellt hatte, um eine der vier ›Rebellen‹ gut dotiert im Regierungslager unterzukriegen. Nach Prüfung verschiedener Optionen entschied man sich, die SPD-Abweichlerin Carmen Everts in der Landeszentrale für politische Bildung unterzubringen. Das war nicht einfach, denn man musste erst ein Arbeitsfeld erfinden, für das die wissenschaftlichen Kompetenzen Carmen Everts überhaupt reichten. Als hätten die Marx-Brothers Pate gestanden, nahm man sich in der Folge das bestehende Referat ›Demografie‹ und machte daraus das Referat: ›Extremismus, Diktaturen und Demografie‹. So stümper- und tölpelhaft sich das anhört, so dreist ging es weiter. Im Gegensatz zu allen anderen Referatsleiterstellen wurde ausgerechnet diese mit der Vergütungsklasse eines stellvertretenden Leiters der Landeszentrale versehen.

Z.B. der Betriebsratsvorsitzenden der FRAPORT Peter Wichtel: Zu den Gewinnern darf man auch den oft zitierten Betriebsratsvorsitzenden der FRAPORT Peter Wichtel nennen. Als ›Mann auf der anderen Seite‹ kämpfte er für die Durchsetzung der FRAPORT-Ausbaupläne, in der Doppel-Rolle als Arbeitnehmervertreter und Aufsichtsratsmitglied. Er war in allen Belangen FRAPORT’s Darling, ein Goldstück: Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der FRAPORT am 31.10.2008 wurde mit seiner Enthaltung die Forderung der zukünftigen Landesregierung nach Aussetzung des Sofortvollzugs abgelehnt, mit hohen Schadensersatzforderungen gedroht, und die Rechtmäßigkeit des Koalitionsvertrages bestritten.
So erklärt sich auch, dass Peter Wichtel während der Wortbruchkampagne an vorderster Front gegen eine mögliche SPD-Regierung kämpfte, was für die Kampagne der Bosse eminent wichtig war: Mit seinem Namen sollte der Eindruck vermittelt werden, auch die Arbeitnehmer und Lohnabhängigen ständen aufseiten des Flughafen-Kartells. Dass er bereits zu dieser Zeit im CDU-Landesvorstand saß und Mitglied der CdA war, erwähnte man tunlichst nicht.

Die erste Belohnung ließ nicht lange auf sich warten: Als erster ›Arbeitnehmervertreter‹ wurde ihm 2008 der Preis ›Soziale Marktwirtschaft‹ der Konrad-Adenauer-Stiftung verliehen. 2009 folgte dann die politische Belohnung: Er wurde Nachfolger des langjährigen CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Klaus Lippold aus Offenbach und im Oktober desselben Jahres mit einem Direktmandat in den Bundestag katapultiert.

Out of control

Im Gegensatz zu einer Diktatur oder einem totalitären Regime zeichnet sich ein Rechtsstaat durch Gewaltenteilung und institutionelle Kontrollen aus: Das fängt beim Beschwerderecht in Verwaltungen an, reicht von der Dienstaufsicht übergeordneter Dienststellen (Oberfinanzverwaltung/Finanzministerium), von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, Möglichkeiten der parlamentarischen Opposition, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, bis hin zur ›vierten Gewalt‹, der Presse, Vorwürfe von Rechtsbeugung und Amtsmissbrauch öffentlich zu machen bzw. Opfern von Machtmissbrauch Gehör zu verschaffen…
Angesichts der bisher vorliegenden Fakten und aufgrund des langen Zeittraumes lässt sich ein Resümee ziehen. Ganze sieben Jahre dauerte es, bis das System Archipel Gulag überhaupt an die breite Öffentlichkeit gelangte, dank einer Reportage des Magazin ›Stern‹ (Nr. 51) vom 11.12.2008 unter dem Titel: ›Eiskalt abserviert‹. Danach wurde es wieder recht still. Erst als absehbar war, dass das Verwaltungsgericht in Gießen die Psychiatrisierung von vier Steuerfahndern für rechtwidrig erklären wird, griff die Frankfurter Rundschau diesen Fall auf. In einer Serie von Artikeln legte die FR Dokumente, Fakten und Verstrickungen offen, die bis dahin nur über Mikro-Blogs zugänglich waren, wie z.B. auf dem Internet-Blog des ›Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen‹ .
Seitdem ist zumindest in Teilen der Öffentlichkeit klar, dass es sich bei der Psychiatrisierung von lästigen Steuerfahndern nicht um einen Einzelfall, nicht um eine Übertreibung einzelner Dienstvorgesetzter oder Verselbständigung einzelner Bereiche des institutionellen Machtgefüges handelt, sondern um ein System, das nicht nur minutiös die Ausschaltung von Steuerfahndern betrieb, sondern gleichermaßen alle Kontrollinstanzen ausschaltete bzw. in den Machtapparat einfügte.

Auch wenn die politische Legitimation der hessischen Landesregierung angegriffen ist: Das Kartell, das sich in der Wortbruchkampagne so hervorragend bewährt hatte, hält zusammen. Während der Kassiererin ›Emmely‹ wegen angeblicher Bereicherung in (Schwindel erregender) Höhe von 1,30 Euro fristlos gekündigt wurde, stellt sich das gesamte Führungspersonal der hessischen Landesregierung einen Persilschein aus: Ob Finanzamtsvorsteher, Oberfinanzdirektor, Gesundheitsminister, Finanzminister oder Ministerpräsident – sie haben sich nichts vorzuwerfen und lassen den Rest wissen, dass sie in aller Gelassenheit alles Weitere auf sich zukommen lassen werden. Nicht anders reagieren die Regierungsmedien: Völlig frei von allen Skrupeln spricht die FAZ bis heute von »politischem Sommertheater«, von »Spekulationen«, und »einseitig bis diffamierende(r) Berichterstattung über die Zustände bei der Steuerfahndung«.

Die Frankfurter Neue Presse/FNP setzte diesem Verschleierungsjournalismus noch die Krone auf, als sie am 5.1.2010 von einem zur »›Steuerfahnder-Affäre‹ hochstilisierten Scharmützel« sprach und allen Ernstes eine »bislang noch nicht erlebte(n) Skandalisierungskampagne« beobachtet haben will, die sich aus »angeblich neue(n) Enthüllungen«, bis hin zur »inszenierten Empörung« speist. Bei allem Wahnsinn, der die FNP umtreibt, behält sie dennoch ein Gespür für die eigentliche Gefahr: »Dabei ist Karlheinz Weimar doch nur ein Symbol für das ›System Koch‹, das das eigentliche Ziel der inszenierten Empörung ist. Den neben Innenminister Volker Bouffier dienstältesten Vertrauten des Regierungschefs anzugreifen, ist nämlich gleichzeitig eine Attacke auf den Regierungschef selbst, vor allem auf dessen politische Autorität.« Soviel Weitsicht wünscht man sich vor allem aufseiten jedweder Opposition!

Die FRAPORT-Regierung – ein systemisches Risiko

Man kann der FNP nur zustimmen: Es geht weder um Einzelfälle, noch um einzelne Verantwortliche aus der Führungsriege der hessischen Landesregierung. Was die Steuerfahnder exemplarisch aufzudecken bereit waren, ist ein System, das jenseits von Parlamenten, Wählerwillen, Gesetz und Strafverfolgung agiert und regiert. Wie durch das Bullauge eines Kreuzfahrtschiffes konnten die Steuerfahnder der ›Bankengruppe‹ etwas sehen, was sich unterhalb der Wasseroberfläche bewegt: Ein kriminelles Kartell aus politischen Eliten und Großunternehmen, die mit Milliarden-Beträgen Macht ausüben und Einfluss kaufen, Öffentlichkeit generieren und Märkte erobern, Gesetze (ab-)schaffen und rechtsfreie Zonen zu errichten. Nicht die Verfolgung von Steuerhinterziehung im Einzelfall hat der ›Bankengruppe‹ den Kopf gekostet, sondern das hartnäckige Verlangen der (Steuer-)Fahnder, in diese verbotene Zone einzutreten.

Wir zahlen nicht für organisierte Verschleppungen

Liegt es an der harmlosen Opposition oder an der Wirkungslosigkeit parlamentarischer Kontrolle, dass bis heute die schwarz-gelbe Regierung noch im Amt ist? Drei Jahre lang ging ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Frage nach, ob die Anordnung des hessischen Finanzministeriums aus dem Jahr 2001 der Öffentlichkeit Schaden zugefügt haben könnte. Dank der Regierungsmehrheit verlief der Untersuchungsausschuss im Sande. Seitdem füllen Anfragen aus den Reihen der Opposition und Antworten der Regierungsparteien Aktenordner. Warum torpedieren die Oppositionsparteien nicht dieses kostspielige Versandungsspiel? Warum verlässt die Opposition nicht den machtlosen Raum des Parlaments? Warum läd sie nicht die kaltgestellten Steuerfahnder zu öffentlichen Hearings ein, organisiert ein Russel-Tribunal, das sich mit Regierungs- und Wirtschaftskriminalität beschäftigt?

Zumindest die Gründungsmitglieder der Grünen und die Partei DIE LINKE sollten sich noch an die Idee des Spiel- und Standbeines erinnern: Mit dem Spielbein den parlamentarischen Raum betreten und mit dem ›Standbein‹ gesellschaftliche Opposition (mit-)organisieren – zumindest informieren und stärken. Für den Anfang würde bereits ein ›Spielbein‹ reichen.

Nun ist Roland Koch zurückgetreten – in der sicheren Gewissheit, dass ein personeller Wechsel an der »Beibehaltung des politischen Kurses« nichts ändern wird. Wenn jetzt die parlamentarische Opposition jubelt, der hessische SPD-Fraktionsvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel davon redet, dass »Roland Koch vor den Trümmern seiner Politik« stünde, dann macht das keine Hoffnungen, sondern ist zu allererst nur peinlich.
Als aussichtsreichster Nachfolger für Roland Koch wird übrigens der stramme Gefolgsmann Volker Bouffier gehandelt.

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Bilder:

(1) Wikipedia (User: Kuebi) / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

(2) und (5) Spiegelfechter

(3) Wo st 01/Wikipedia / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.de

(4) TELEPOLIS

(6) TITANIC

(7) Flickr (chris9773) / http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/deed.de

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Die fabelhafte Welt der FDP

Westerwelle und die FDP: ein Fall von Realitätsverlust?

Es kann dieser Tage selbst dem geneigten Beobachter des politischen  Tagesgeschehens schwer fallen, den Überblick über die zahlreichen Fehltritte von Bundesaußenminister und FDP-Chef  Westerwelle zu behalten. Seine Versuche, jede Kritik daran, dass er und seine ganze Partei die Regierung zum Selbstbedienungsladen mit Flatrate machen, selbstherrlich abzutun, zeigen einerseits eine politische Unbeholfenheit, andererseits aber auch eine erstaunliche Realitätsferne. Westerwelle redet von Verleumdungskampagnen und Verschwörungen gegen ihn und vom “linken Zeitgeist”, dessen Opfer er sei. Es ist langsam wirklich zu befürchten, dass er geistig in einer Art Phantasiewelt lebt, falls er ernsthaft daran glauben sollte. Wenn Westerwelle tatsächlich glauben sollte, dass Kritik an seinem Verhalten eine gezielte und v.a. völlig grundlose Kampagne der “Linken” sei und die FDP tatsächlich tönt, dies schade der politischen Kultur in Deutschland oder gar der Demokratie, werden sie dadurch gewiss nur noch mehr Skepsis ernten, ob man sie überhaupt noch ernst nehmen kann.

Heute sprach Westerwelle von einer Kampagne gegen die FDP für eine linke Mehrheit in Nodrhein-Westfalen. Fern von der Frage, wer diese steuern sollte oder warum sich auch liberale Medien daran beteiligen sollten, sieht wohl nur er überhaupt die Chance auf eine solche Regierung in NRW, im Gegensatz zur SPD oder zur Linken. (Obwohl, schön wär es natürlich – man könnte also hoffen, dass hier Westerwelle vielleicht mal Recht behält …) Man sieht hier einen Politiker, der der trotz offensichtlicher Unfähigkeit sich selbst als unersetzlich ansieht, der glaubt, dass seine Klientelpolitik und Günstlingswirtschaft vollkommen gerechtfertigt seien und der glaubt, dass “das Volk” (oder auch gerne: “die schweigende Mehrheit”) tatsächlich auch so denke. Nicht Vetternwirtschaft und Korruption sind unanständig, sondern die Kritik daran? Eine Welt, die auf dem Kopf steht.

Doch er scheint damit nicht einmal alleine zu sein. Zeigten sich ein hartnäckiges Leugnen von Fakten und ein Ignorieren der Realität schon etwa bei den abenteuerlichen Steuerplänen der FDP, so wird nun die ganze Abgehobenheit dieser Partei und ihre Distanz zu in der Gesellschaft vertretenen Werten immer deutlicher. Große Teile der FDP scheinen gar nicht nachvollziehen zu können scheint, warum man Korruption und Vetternwirtschaft nicht gutheißt.  Die FDP verteidigt die Verflechtungen und Seilschaften (um es harmlos auszudrücken) ihrer Politiker mit der Privatwirtschaft gar äußerst vehement. Das sei alles nur der linke Zeitgeist, die Politik müsse der Privatwirtschaft schließlich helfen, “Geschäfte zu machen” (so Westerwelle), und die persönlichen Verbindungen und Netzwerke von Geschäftsleuten und Spitzenpolitikern müssten “akzeptiert werden” (so Lindner). Wenn sich Westerwelle heute gar als “Außenminister der deutschen Wirtschaft” bezeichnet und damit ganz offen sagt, welchen Interessen er dient, sollte selbst dem Letzten die Augen aufgehen.

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Hält Guido durch?

Die Frage, die sich nun stellt und die in vielen Kommentaren aufgegriffen wird, ist, ob Westerwelle sich noch wird halten können, als Außenminister und als FDP-Vorsitzender. Die Frage ist natürlich absolut berechtigt und es ist auch gut, dass diese so oft öffentlich gestellt wird. Ich fürchte aber leider, dass dies der Fall sein und Westerwelle in seinen Ämtern bleiben wird.

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Sicher, derartig katastrophale Vorgänge wie die, die er sich in nicht einmal 6 Monaten geleistet hat, sucht man in den gesamten Amstzeiten seiner Vorgänger vergeblich. Jede diplomatische Zurückhaltung, die das Amt sonst mit sich bringt, scheint Westerwelle nicht zu berühren: unbeirrt arbeitet er daran weiter, seine Ziele, seine Vision einer Welt des Fleißes, der Leistung und der Anstrengung, wie er die “Werte” der FDP selbst beschreibt (ob gerade die selbsternannten “Leistungsträger” sich daran halten, ist natürlich eine andere Frage), mit der Trotzigkeit eines Kindes, das unbedingt seinen Willen durchkriegen will, zu erreichen. Eine Einstellung, die sich auch zeigt, wenn, wo andere beschämt reagieren würden, er aggressiv nach vorne prescht.

Und sicher, selbst in der eher regierungsfreundlichen und liberalen Presse hat er, mit Ausnahme der Springer”presse”, jegliches Vertrauen und jede Unterstützung verloren. So verdeutlicht die FAZ heute etwa in Guido Westerwelle: Der Egonaut, dass  die Bevölkerung und die Journalisten entsetzt sind über seine Hochmütigkeit und seine prinzipienlose Klientelpolitik (schönes Zitat: “Eigentlich muss man sich nicht wundern, dass eine Partei, die in der Oppositionszeit, den Westerwelle-Jahren, dazu überging, den Egoismus als Heilslehre zu predigen, sich nun in der Regierung auch dran hält. Aber für die meisten kam es in seiner unverhüllten Schamlosigkeit dann wohl doch überraschend.”) und wie Westerwelle selbst ohne Not die Diskussionen um ihn immer mehr anstachelte, etwa mit seiner Hetze gegen Hartz-IV-Empfänger.

Die FDP: korrupt und stolz darauf?

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Aber es sprechen für mich auch viele Punkte dagegen, dass dieser Mann endlich in den verdienten vorzeitigen Ruhestand geschickt wird. Westerwelle hat durch seinen autoritären Stil ja nicht nur in der FDP kaum Konkurrenten zugelassen, die ihn sozusagen beerben könnten. Ich habe eher den Eindruck, dass auch die anderen Protagonisten dieser Partei, v.a. die Minister, eine kaum andere Einstellung haben. Bei diesen Politikern und ihrem Umfeld scheint es sich um eine Gruppe von Personen aus einem verzweigten Netzwerk aus Politik, Wirtschaft und persönlichen Vertrauten (man könnte sie auch “Klasse” oder “Kaste” nennen) zu handeln, die offenbar völlig den Bezug zu so etwas wie Anstand und Moral verloren haben, die, ganz gemäß der neoliberalen Ideologie, ausschließlich für sich selbst die größtmöglichen Vorteile zu schaffen versuchen – und das auch noch ganz ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Dirk Niebel will ja in seinem Ministerium Westerwelle wohl noch übertrumpfen, und auch Rösler steht ihm kaum nach. So offen wie jetzt wurden wohl noch nie die Besetzung von Regierungsposten aufgrund von Parteiloyalität statt Kompetenz, die Klientelpolitik und selbst eine wirklich ganz und gar offensichtliche Käuflichkeit zelebriert und mit ihnen kokettiert – früher hätte man wenigstens den Anstand gehabt, so etwas heimlich zu tun und sich wenigstens ein paar Pseudoausreden zurechtgelegt, falls etwas auffliegt.

Nun reagieren aber wie gesagt nicht nur Westerwelle selbst, sondern auch andere FDPler überaus aggressiv auf jede Kritik. Müsste Westerwelle aus diesen Gründen gehen, würde damit ja das ganze Seilschaften- und Vetternwirtschaftsnetz, das die FDP charakterisiert (oder, wie sie es ausdrückt, die “Partnerschaft zwischen Wirtschaft und Politik”), zur Diskussion stehen. Andererseits, das könnte man einwenden, könnte ein Abgang Westerwelles auch von diesem vordergründig ablenken und man zukünftig darauf achten, dass weniger an die Öffentlichkei dringt. Ein grundsätzlich anderes Verhalten kann man von dieser Partei aber nicht erwarten, solange nicht diejenigen aufstehen, die wirklich aus Überzeugung Politik machen wollen und die wollen, dass diese von Werten wie Ehrlichkeit und politischem Anstand und von politischen Überzeugungen (auch wenn man diese natürlich nicht teilen muss) geprägt ist, und nicht nur dadurch motiviert, für sich selbst, sein Netzwerk oder seine Klasse die finanzielle Situation und die gesellschaftliche Dominanz auszubauen. Falls es solche Menschen in der FDP überhaupt noch gibt. Wann aber, wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt gekommen, sich zu zeigen?

Die Union als Profiteur?

Die Koalition wird an dem ganzen Vorgehen jedoch wohl nicht zerbrechen. Was aber sicher folgen wird, ist, da die FDP durch die politischen Amokläufe ihrer Protagonisten ja drastisch an Unterstützung in den Medien verliert, sie auch inhaltlichen Einfluss in der Regierung einbüßen wird. Die FDP wird, um sich nur einen Hauch von politischer Zukunft zu bewahren, einsehen müssen, dass sie inhaltlich um des eigenen Machterhalts willen auf einige ihrer schrill herausposaunten Forderungen verzichten muss. Aber da sie die neugewonnenen Pfründe derart liebgewonnen hat, dürfte sie wohl dazu bereit sein.

Die CDU und die Medien werden die sozialen Einschnitte, die nach der NRW-Wahl kommen werden, so verkaufen, dass man ja froh sein könne, da die FDP ja wesentlich Härteres gefordert habe. Die FDP mag geschwächt sein, doch könnte dieses auch zu einem großen Teil der Union zu Gute kommen, da sie es geschafft hat, viele Schwächen der gesamten Regierung als Schwächen der FDP darzustellen. Eine Kanzlerin jedoch, die einem völlig intolerablen Treiben ihrer Minister, ihrem enthemmten Nepotismus und ihren Ausfällen gegen die Schwächsten der Gesellschaft nicht nur nicht Einhalt gebietet, sondern sie auch nicht verurteilt und ihnen nichts entgegensetzt, trägt ebenfalls einen großen Teil der Verantwortung für die Misere der derzeitigen Regierung. Die Opposition täte gut daran, auch darauf stärker aufmerksam zu machen.

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Bildquellen:

(1) wahlkampf09 / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

(2) Frank Kopperschläger / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/

(3) wahlkampf09 / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

(4) Merkelizer / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

[Diesen Artikel kann man auch beim binsenbrenner.de lesen.]

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Generalangriff auf den Sozialstaat – Guido an die Front!

George W. Westerwelle

Guido Westerwelle hat sich also, so formuliert es die Süddeutsche, vom diplomatischen Dienst ab- und zum Dienst an der “Heimatfront” angemeldet und überschwemmt die Medien, allen voran die Springer-Presse, mit Hartz-IV-Populismus.

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Seine Angriffe klingen, so zeigt Spiegel Online, verblüffend ähnlich wie die perfekt einstudierten Hetztiraden der US-Republikaner. Er kupfere hemmungslos Sprüche und Ideen bei den Republikanern ab, mit dem Ziel einer Spaltung der Gesellschaft. Er beschwört wie die Republikaner eine “sozialistische Gefahr”. Die Methoden sind also ähnlich, aber sich ausgerechnet die diffamierenden und Hass schürenden aktuellen Strategien der rechtskonservativen und erzreaktionären Republikaner anzueignen, spricht nicht gerade für eine sich “liberal” nennende Partei. Und schon vor zwei Jahren meinte Westerwelle “Von George W. Bush lernen, heißt Steuern senken lernen”.

Aber wir wissen ja: in Westerwelles Weltbild ist schon alles, was zum Abbau von Armut, Ausbeutung und Ungleichheit führen könnte, von vornherein “Sozialismus”. Was würde Westerwelle eigentlich machen, wenn er vor “Sozialismus” warnt und man meinte, dass man das gar nicht schlecht finden würde? Ich glaube, er würde mit seinem Weltbild gar nicht mehr klarkommen. Und lustig ist ja auch, wie die FDP sich krampfhaft bemüht, “links” zu einem Quasi-Schimpfwort zu machen wie in den USA “liberal”. Bei solchen Aussagen oder wenn er etwa wütend auf den “linken Zeitgeist” ist, fragt man sich dann aber schon, ob er die Grenze vom blanken (aber kalkulierten?) Populismus zum völligen Realitätsverlust nicht doch überschritten hat.

Alles falsch

Wie fundiert sind dabei die Aussagen Westerwelles? Der Stern lässt auf Hartz IV: Wie viel Wahrheit steckt in Westerwelle? kompetente und renommierte Fachleute (und keineswegs alle aus dem “linken Lager”) wissenschaftlich darlegen, wieviel an Westerwelles Äußerungen der letzten Tage wirklich dran ist – und das Ergebnis ist verheerend.

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Eine Umverteilung findet in Deutschland tatsächlich statt: aber von unten nach oben und von den Arbeits- hin zu den Kapitaleinkünften. Die Mittelschicht ist gerade durch eine neoliberale Arbeitsmark- und Sozialtpolitk geschrumpft, der Sozialstaat ist in Deutschland nicht zu groß (er könnte aber effizienter arbeiten). Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich eher durch zu viel als zu wenig, wie Westerwelle meint, Leistungsdruck aus. Von der Familienpolitik von Schwarz-Gelb haben, anders als ihre Propaganda behauptet, fast nur die Spitzenverdiener profitiert. Und der fehlende Abstand zwischen Hartz IV und Löhnen liegt an der Ausbreitung des Niedriglohnsektors – eine Lösung wären eher Mindestlöhne denn eine Senkung von Hartz IV.

Die Zeit verdeutlicht unter Sozialstaat: Westerwelles schräges Zahlenspiel u.a., wie in den letzten Jahren Spitzenverdiener entlastet wurden und dies durch die FDP noch mehr würden, warum die FDP-Politik, etwa bei Gesundheit und Familien, unsozial ist, zu noch mehr Umverteilung von unten nach oben und gleichzeitig zu mehr Ausgaben führt. Und sie zeigt, dass Deutschland bei den Sozialausgaben international nur im Mittelfeld liegt.

Das Ziel: der Generalangriff auf den Sozialstaat

Sicherlich will Westerwelle auch ablenken von der Käuflichkeit der FDP. Wenn man in den letzten Wochen irgendwo etwas über die FDP lesen, hören, oder sehen konnte, war dies das große Thema. Und der Einfluss der Lobbys auf die Politik wird durch eine künftig deutlich schnellere Veröffentlichung von Großspenden noch offensichtlicher: Großspenden an die Parteien – Schwarz-Gelb heißt Schwarz-Geld (Süddeutsche). Westerwelle hat es jetzt geschafft, etwas davon abzulenken, keine Frage.

Aber was die FDP vor allen anderen Dingen will, ist eines: eine Demontage des Sozialstaates, eine Abschaffung des Modells des Wohlfahrtsstaates und eine Adaption des liberalen Systems nach dem Vorbild Großbritanniens und der USA. Statt sozialer Sicherheit soll es dann nur noch Nothilfe geben, angebliche (aber nie gewährleistete) Chancengleichheit (oder sogar nur Chancengerechtigkeit) in der Bildung soll an die Stelle der sozialen Gerechtigkeit treten, Hierarchisierung anhand von Marktleistungen an die der universellen  Gleichheit aller Menschen. Egoismus soll  Solidarität, Utilitarismus Ethik ablösen. Das wäre dann der “Neuanfang des Sozialstaates” – die Generaldebatte über den Sozialstaat, die Westerwelle fordert, wird so wohl eher Generalangriff auf den Sozialstaat. Und da, so zynisch es klingt, ist die Käuflichkeit einer Regierungspartei tatsächlich fast schon eine Nebensache.

Klassenkampf von oben

Ob Westerwelle sich hierbei geschickt anstellt ist eine andere Frage. Einerseits erntet er von so gut wie allen politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, und selbst im größten Teil der Medien, Widerspruch und verprellt durch seine dumpfen Parolen möglicherweise einige klassische FDP-Anhänger.

Andererseits sind seine Aussagen auch Ausdruck einer verkommenen Mentalität derjenigen, die sich selbst als Leistungsträger betrachten, weil sie viel Geld verdienen. Sloterdijks Angriffe auf den Sozialsstaat oder Sarrazins sozialdarwinistische Äußerungen sind ebenfalls Audruck dieses Klassenkampfes von oben. Und Westerwelle erhofft er sich  (und findet ihn anscheinend auch teilweise) Zuspruch bei einem reaktionären springerlesenden Stammtisch-Publikum. Die neoliberale Politik hat es durch ihre Ausführer in der Journaille geschafft, frühere Unzufriedenheit mit dem politischen und wirtschaftlichen System in blinden Hass umzuwandeln, der sich gegen die richtet, die immer noch unter einem stehen (auch wenn ein großer Teil der Arbeitnehmer von Hartz IV bedroht ist, auch und vielleicht gerade die Springer-Leser, die so etwas schreiben).

Guido prescht vor, die anderen folgen

Die Taktik für grundlegende politische Veränderung ist oft, ersteinmal eine Rampensau vorzuschicken, um die Lage zu sondieren, auszuloten, wie weit man gehen kann (mit möglichst nicht nur direkten und undiplomatischen, sondern auch beleidigenden, diffamierenden und spaltenden Angriffen. Grenzen gibt es bei esolch einem Vorgehen kaum.). Politik und Medien werden dann meist ersteinmal den Tonfall missbilligen, der ja nicht ganz angemessen wär, um dann eine Kampagne anzustoßen nach dem Motto “aber vom Inhalt her hat er doch eigentlich schon irgendwie Recht”. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung folgt dann ein Umdrehen des Spießes – man wird selber empört, gar höchst aggressiv: “man wird doch so etwas noch mal sagen dürfen!”. Man wird sich selbst als Opfer darstellen der “linken Meinungsdiktatur”, all dieser verblendeten Sozialromantiker und der so gehassten “Gutmenschen” (und ich betone es immer wieder: es ist schon bezeichnend, wenn man diesen Begriff mit negativer Intention benutzt und er als Kampfbegriff des rechten Randes verwendet wird) – und das um so mehr, je weniger sachliche Argumente man hat. Man wird aggressiv betonen, dass man sich vielleicht anfangs in der Wortwahl vergriffen habe, dass aber die Verkürzungen, Verdrehungen und schlichten Lügen “die Wahrheit” seien. Und wir können den Anfang jetzt beobachten:

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Nachdem natürlich Spinger den Anfang gemacht hat, steigt die Tagesschau ein (und die Kommentatorin zeigt, welch Geistes Kind sie ist, wenn sie “Gutmenschen” und “political correctness” im negativ gemeinten Sinn benutzt). Auf jeden Fall ist es klar: sie wird nicht allein bleiben. Andere werden folgen, um ihre Kampagne fortzuführen, unterstützt von einflussreichen und finanzstarken Lobbys.

Das Ziel ist die Erfüllung des neoliberalen “Auftrags”: die vollständige Demontage des Sozialstaates, der Abbau sämtlicher Mechanismen, die zu einem sozialen Ausgleich führen, die die “Marktergebnisse verzerren” und der achso gegängelten “Elite” unseres Landes das Leben schwer machen. Die Feinde des Sozialstaates werden sich gruppieren. Sie wollen ihm den endgültigen Todesstoß verpassen. Pardon wird nicht gewährt.

Ob sie damit Erfolg haben werden, ist ebenso eine Frage davon, ob der kritische Journalismus, wie es derzeit teilweise wirkt, wieder eine Renaissance erlebt und ob die Oppositionsparteien stringent zusammenarbeiten werden, wie davon, welche Kräfte die Zivilgesellschaft zur Verteidigung des Sozialstaates in Deutschland mobilisieren kann.

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Bildquellen:

(1) http://www.flickr.com/photos/jaumedurgell/ / CC BY-NC 2.0

(2) http://www.flickr.com/photos/46316635@N00/ / CC BY-NC-SA 2.0

(3) http://www.flickr.com/photos/f-hain_net/ / CC BY-NC 2.0

(4) http://www.flickr.com/photos/farbfilmvergesser/ / CC-BY-NC-SA

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Dreht die FDP nun völlig durch?

In Folge des Hartz IV-Urteils verliert die FDP nun offenbar völlig jeden Realitätsbezug, schmeißt wild mit den abstrusesten Vergleichen und wüsten Beleidigungen um sich. Gerade Guido Westerwelle,  die “Nervensäge der deutschen Politik”, scheint die Schwelle zur blinden Hysterie überschritten zu haben. Er spricht von “spätrömischer Dekandenz” – und meint damit höhere Hartz IV-Sätze, die dem Volk “anstrengungslosen Wohlstand” versprechen würden. Thorsten Dörting schreibt in einem der besten Kommentare, die ich je bei Spiegel Online gelesen habe, dazu u.a.:

Westerwelle vermutet also spätrömische Dekadenz in Deutschland und macht indirekt Hartz-IV-Empfänger dafür verantwortlich. Da darf man sich schon mal besorgt fragen: Welche apokalyptischen Szenen mag Westerwelle der Seher vor seinem inneren Auge erblickt haben? Enthemmte Hartz-IV-Horden, die sich für ihren Regelsatz von 359 Euro kistenweise Aldi-Schampus kaufen? Und die dann auf ihren Third-Hand-Sofas aus dem Caritas-Möbellager wilde Orgien feiern, bei denen ganz neue Almosenempfänger-Generationen gezeugt werden?  Man muss kein Populist sein, auch kein Anhänger der Linkspartei, ja man muss nicht einmal finden, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind, um Westerwelles so warnende Worte als das zu sehen, was sie sind: Eine historisch unhaltbare, perfide, aus rein politischem Kalkül betriebene Beleidigung des schwächsten Teils der deutschen Bevölkerung.

(1)

Einen Tag später spricht Westerwelle von “geistigem Sozialismus”, und auch seine anderen Sätze, deren Sinnhaftigkeit und logische Stringenz man selbst, wenn man einem neoliberalen Weltbild anhängen würde, mit der Lupe suchen müsste, zeigen das Bild eines Politikers, der sich offenbar gar nicht mehr beruhigen kann und sich. Wie es die Neoliberalen und Konservativen immer tun, hat er sich ausgerechnet die Schwächsten der Gesellschaft als Opfer der Polemik und der Verachtung der selbsternannten “Leistungsträger” ausgesucht. Der Juli-Vorsitzende Vogel spricht unterdessen von “Lügenmärchen” der Gewerkschaften und der Linken (wenn sie eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze fordern) und steht dem Senior-Chef damit kaum nach.

Hatten die Mainstream-Medien die FDP vor der Bundestagswahl noch fast uneingeschränkt unterstützt, wurde nun auch ihnen klar, dass es sich bei den Regierungs”plänen” dieser Partei tatsächlich nur um ein simpel gestricktes Single-Issue-Programm einzig zum Thema “Steuern runter” handelte (wer konnte das ahnen?). Und nun erkennen endlich auch sie, dass sich hinter der von ihnen herbeigesehnten und herbeibeschriebenen bürgerlichen Regierung bloß plumpeste Klientelpolitik (Hoteliers) und ein paar unbeholfene Versuche der blinden Sozialstaatszerstörung (Kopfpauschale) verstecken. Und so ist man inzwischen lange auf der Suche, irgendeinen positiven Kommentar zur FDP zu lesen. Und das aus guten Gründen. Die Unterstützer-Front der FDP bröckelt – und diese versteht gar nicht mehr, was um sie herum geschieht.

Dabei könnte schon einiges Licht in die Sache kommen, schaut man sich nur einmal die Bilanz der FDP-Minister an:

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Westerwelle kann als nicht einmal als Außenminister an die traditionelle Beliebtheit seiner Vorgänger anknüpfen. Zu blass bleibt er gegenüber Guttenberg und Merkel, zu wenig eigene Akzente konnte er setzen, zu sehr überwiegen seine schrille und wenig diplomatischen Einwürfe in seiner Rolle als FDP-Parteichef in alle möglichen bundespolitischen Themen.

Wirtschaftsminister Brüderle hat noch nichteinmal aus neoliberaler Sicht irgendwelche sinnvollen wirtschaftspolitischen Konzepte erabeitet und verliert die Unterstützung selbst in seiner Heimat. Jungspund Rösler hat seine politische Karriere an die Demontage der solidarischen Krankenversicherung geknüpft. Sollte also seine Ministerzeit nur kurz währen, kann er aber wohl sicher sein, in einer der Lobbys unterzukommen, für die er Politik macht. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatte vor 14 Jahren einmal zu ihren Überzeugungen gestanden – und das ist dann wohl auch genug.

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Entwicklungsminister Niebel ist wohl einer der fachlich unqualifiziertesten Bundesminister aller Zeiten. Er will etwa finanzielle Zusagen für Hilfsverbände in Afghanistan an ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Bundeswehr knüpfen, hat sich mit diversen Drohungen gegen Hilfsorganisationen nahezu alle entwicklungspolitischen Akteure zum Feind gemacht und lehnt eine Finanzmarktsteuer ab. Er polterte, sein Ministerium sei “kein Weltsozialamt” und versteht seine Aufgabe in aller erster Linie in der Förderung der deutschen Wirtschaft.

Und auch innerhalb der FDP regt sich immer mehr Unzufriedenheit: Kubicki, Pinkwart, und Hahn etwa beklagen massiv den Fehlstart ihrer Partei in der Bundesregierung. Basis und Wählerschaft sind vielfach über das Verhalten “ihrer” Funktionäre schockiert.

Nein, nicht die “Hartz IV-Schmarotzer”, die FDP ist durch und durch im moralischen Verfall befindlich. Marktradikale Ideologien, die uns erst in die schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geführt haben, die Vernachlässigung urliberaler Themen (selbst wenn man dort einmal Hoffnung auf die FDP hätte legen können, wie bei den Themen innere Sicherheit und Bürgerrechte oder der Frage des Vertriebenenrates, so wurden diese bloß enttäuscht), unfähiges und sich maßlos selbst überschätzendes Personal und schließlich eine Käuflichkeit, mit der man, offen wie keine Bundesregierung vorher, geradezu kokettiert, sollten schließlich auch den letzten FDP-Wählern die Augen geöffnet haben, was ihre Stimmabgabe für diese Partei bedeutete.

NACHTRAG:

Der Spiegelfechter dazu: “Demagogendämmerung”

Quellen der Bilder:

(1) Elias Schwerdtfeger unter CC-BY-NC-SA

(2) Michael Thurm unter CC-BY-NC-SA

(3) Claus-Joachim Dickow (Wikimedia) unter CC-BY-SA

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Klimaleügner und Atomlobbyisten

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt nach rechten Putschisten jetzt auch Leugner des Klimawandels. Eine Konferenz, als einer deren Veranstalter ihr “Liberales Institut” fungiert, bietet das Forum für  wissenschaftlich nicht zu haltende Ansichten, die man auch gut und gerne als obskurre Verschwörungstheorien bezeichnen kann. Wissenschaftlich etwa so haltbar wie der Weltuntergang 2012. Ein Blick auf einige Vortragende kann dabei auch erhellend wirken:

Nun ist es eine alte Strategie von Ideologen und Wirtschaftslobbyisten, wissenschaftlichen Humbug als unbequemes Querdenkertum zu präsentieren und die Verteidigung eigener ökonomischer Interessen als Kampf für die allgemeine Freiheit. Wirkliche Debatten sind auf der Tagung jedenfalls nicht zu erwarten, die Liste der Referenten könnte einseitiger kaum sein. Vertreter der anerkannten Klimaforschung (die sich über Ursachen und Wirkungen des Klimawandels seit Langem und im Wesentlichen einig ist) werden keine Referate halten – stattdessen unter anderem ein emeritierter Informatikprofessor, ein ehemaliger Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher und der Moskauer Büroleiter der rechten US-Stiftung Heritage Foundation.

Unter Umweltschützern und Wissenschaftlern ist Singer seit langem umstritten: Vor seiner Karriere als Klimaskeptiker bezweifelte er schon, ob und wie sehr Passivrauchen zu Lungenkrebs führt und ob das Ozonloch wirklich eine so schlimme Sache ist.

Auch der Mitveranstalter der Berliner “Klimakonferenz”, CFACT aus Washington, hat jahrelang Geld von Unternehmen genommen, die an der Zerstörung des Weltklimas ganz gut verdienen

Also wirklich nur ganz seriöse, unabhängige Experten!! (via Fefes Blog, Lobbycontrol)

Und Lobbycontrol zeigt unter “360° Drehtüt: Atomaufseher -Atomlobbyist – Atomberater – Atomaufseher” die bewegte Vergangenheit von Gerald Hennenhöfer, der neuer Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit werden soll. Schön dabei auch dies:

Hennenhöfer soll dem Asse-Betreiber zu einer zurückhaltenden Informationsstrategie gegenüber der Öffentlichkeit geraten haben, als dieser wegen Wassereinbbrüchen in das Atomlager in die Kritik geriet.

Das ist der Lobbyismus, der dafür sorgt, dass wirklich alle Interessen unserer Gesellschaft angemessen vertreten werden, der so unglaublich wichtig ist, ohne den unser Meinungsplualismus ja gar nicht möglich wäre! Nicht wahr, liebe Politikwissenschaftskollegen?

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Mit der Kopfpauschale in die Zwei-Klassen-Medizin

Union und FDP haben sich in den Koalitionsverhandlungen geeinigt, dass der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung eingefroren und der Anteil der Arbeitnehmer in einen pauschalen Beitrag von gleicher Höhe unabhängig vom Einkommen bei jedem Versicherten umgewandelt werden soll.

Dazu gibt es einen sehr treffenden Kommentar vom ARD-Hauptstadtstudio:

Das, was Union und FDP da vorhaben, ist nicht nur das Ende der paritätischen Krankenversicherung, einem 126 Jahre alten System, um das uns die halbe Welt beneidet. Es ist vor allem der Ausstieg aus dem Solidarsystem und die endgültige Zementierung der Zwei-Klassen-Medizin.

Schon jetzt ist absehbar, dass die gesetzliche Krankenversicherung in Zukunft chronisch unterfinanziert sein wird. Die Pauschalbeiträge für die Versicherten werden so hoch sein, dass sich jeder, der es kann, in die private Krankenversicherung verabschieden wird. Zurück bleiben die Geringverdiener und diejenigen die so krank sind, dass sie von den Privatversicherungen abgelehnt werden. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen werden dann wohl radikal zusammengestrichen. Zurück bleibt eine Art Rumpf-Absicherung für arme Schlucker.

[Den ganzen Kommentar gibt es als Podcast (Dauer: 2:26) beim Deutschlandfunk und (leicht gekürzt) in Schriftform bei Tagesschau.de.]

Mit kaum einer anderen Maßnahme als der, dass jeder Versicherte, ob Manager oder Müllmann, den absolut gleichen Beitrag bezahlen soll, hätten die Neu-Koalitionäre ihre Verachtung für den solidarischen Sozialstaat mehr demonstrieren können.  Grundlage dessen war seit Bismarck immer, dass jeder gemäß seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seinen Teil zum Sozialstaat beiträgt, aber auch jeder den gleichen Anspruch auf gleiche Leistungen erwirbt. Mit der Kopfpauschale und dem drogenden Zwei-Klassensystem der Krankenversicherungen wird ein bisheriger gesellschaftlicher Konsens gebrochen, und dies bewusst und gezielt. Es wird wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis aus Reihen der Neoliberalen die Forderungen nach einer Einheitssteuer aufkommen – und zwar nicht in der Form eines einheitlichen Prozentsatzes, sondern eines einheitlichen Betrages. Das einzig Gute ist, dass in Zukunft niemand Union und FDP mehr glauben wird, dass sie wirklich die Soziale Marktwirtschaft befürworten.

Tatsächlich kommt dieser tiefgreifende Einschnitt in den Sozialstaat aber auch durchaus überraschend. 2005 hatte nicht zuletzt die Forderungen nach einer Einführung einer Kopfpauschale (zusammen mit den Flattax-Vorstellungen von Kirchhof) der Union fast den Wahlsieg gekostet. Und auch innerhalb der Union war diese Forderung höchst umstritten und wohl kaum mehrheitsfähig. Horst Seehofer war aus Protest gegen diese als stellvertretender Unions-Fraktionsvorsitzender zurückgetreten und hatte nach der Wahl auf das Amt des Gesundheitsministers verzichtet. Und war kurz nach der letzten Bundestagswahl noch der Eindruck lanciert worden, soziale Einschnitte würden in einer großen Form ausbleiben und waren auch ein paar soziale Alibi-Maßnahmen beschlossen worden – die aber entweder nicht wirklich den Ärmsten helfen und nur zur Beschwichtigung einer sich vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschicht (Hartz IV-Schonvermögen) oder tatsächlich mit sozialen Leistungen wenig zu tun hatten (einkommensunabhängige Stipendien) – zeigt sich jetzt das wahre Antlitz von Schwarz-Gelb.

Aber selbst aus wirtschaftsliberaler Sicht ist die Kopfpauschale zutiefst unsinnig. Andere denkbare und angedachte Maßnahmen wie eine Verhinderung von Mindestlöhnen oder eine Einschränkung des Kündigungsschutzes bspw. können aus wissenschaftlicher Sicht auch positive Wirkungen haben. und wären eher erwartbare und meiner Meinung nach auch weniger verheerend für den Sozialstaat gewesen. Die Kopfpauschale dagegen hat nur zwei erkennbare Effekte, und beide sind ausschließlich negativ: 1. die finanzielle Besserstellung von Spitzenverdienern und 2. die Abschaffung der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung, womit sich die neue Koalition in den Lobbydienst der privaten  Krankenversicherungswirtschaft stellt.

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Steuern runter? Lieber nicht!

Dass die Forderungen der FDP nach Steuersenkungen, insbesondere nach Senkung der Einkommenssteuer, wirtschaftlich nicht sinnvoll sind und dass Steuersenkungen auch nicht vollständig selbstfinanzierend sind, sondern der Staat Defizite macht, legt der Oxford-Finanzwissenschaftler Clemens Fuest im Deutschlandradio (MP3, 4:13 Minuten) dar. Statt Einkommenssteuersenkungen, die v.a. den reicheren Haushalten nützten, seien direkte Hilfen für ärmere Haushalte (bspw. durch eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze) bessere Mittel für die Förderung privaten Konsums. (Andere Ökonomen sehen Steuerentlastungen für Unternehmen, um Investitionen zu erleichtern, als sinnvoller an, aber auch sie sehen keinen großen Nutzen in der Senkung der Einkommenssteuern.)

Hier sei noch einmal auf das Interview der Taz mit Clemens Fuest verwiesen. Ein Auszug:

taz: Herr Fuest, Union und FDP begründen die geplanten Steuersenkungen damit, dass sie das Wirtschaftswachstum stimulieren müssten. Was halten Sie davon?
Clemens Fuest: Augenblicklich halte ich es für falsch, die Einkommensteuer zu senken. Denn ein großer Teil der Entlastung käme Privathaushalten zugute, die nicht unter Geldsorgen leiden. Diese würden die zusätzlichen Mittel überwiegend sparen, aber nicht in den Geschäften ausgeben. Wesentlich stärkere Nachfrage oder Impulse für das Wirtschaftswachstum kann die Bundesregierung so nicht auslösen.
(…)
taz: Union und FDP hoffen, dass niedrigere Steuern das Wachstum ankurbeln und später die Staatseinnahmen steigen. Darf man mit diesem Selbstfinanzierungseffekt rechnen?
Clemens Fuest: Die Auswirkungen niedrigerer Steuern auf das Wachstum sind schwer zu messen. Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass der Staat nur darauf hoffen kann, maximal die Hälfte der Einnahmeverluste, die die Steuersenkung verursacht, durch höheres Wachstum und stärkere Einnahmen zu kompensieren.

Wie Steuersenkungsprogramme in der Vergangenheit eher wirtschaftlichen Schaden anrichteten, legt Zeit Online Herdentrieb dar. Auch der “falsche Charme” des neoliberalen Standard-Argumentes der Laffer-Kurve, die Arthur Laffer, Vetreter der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und Berater von Ronald Reagan, einst  bei einem Abendessesn für Dick Cheney und Donald Rumsfeld auf eine Serviette kritzelte,  und die seither das Argument für eine Selbstfinanzierung von Steuersenkungen dartsellt, wird in dem Artikel behandelt.

Eine gute Betrachrung zu den Möglichkeiten von Steuersenkungen gibt es auch bei Telepolis: Wählerbetrug vorprogrammiert. Auch hier wird die Laffer-Kurve angesprochen, z.B.:

(…) Wenn die FDP mit ihren Behauptungen recht hätte, so befände sich das deutsche Steuersystem oberhalb des “Laffer-Maximums”, so dass jede Steuererhöhung die Einnahmen verringern und jede Steuersenkung die Einnahmen erhöhen würde. Dies trifft auf das deutsche Steuersystem allerdings nicht zu. Untersuchungen der Ökonomen Trabant und Uhlig legen vielmehr die Vermutung nahe, dass das “Laffer-Maximum” in Deutschland bei rund 64% Steuerlast liegt. (…)

Es wäre daher gut daran getan, wenn die Beteiligten bei den Koalitionsverhandlungen einmal auf unabhängigen Sachverstand hören würden und nicht weiterhin nur auf die durch die Mainstream-Medien hin- und hergereichten “Wirtschaftsexperten” im Dienste der Arbeitgeberverbände und Banken. Versprechungen wie “Steuern runter!” oder “Mehr Brutto vom Netto!” erweisen sich so eher als hohle Slogans denn als politisch und ökonomisch durchdachte Konzepte.

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Illners TV- Dreikampf – Fairness sieht anders aus

Mit TV-Duellen von Politikern vor Wahlen ist es ja immer so eine Sache. Themen werden vereinfacht, wichtige Aspekte weggelassen, was von den Aussagen hinterher übrig bleibt, ist gelinde gesagt zweifelhaft usw. Alles berechtigt. Trotzdem habe ich mir mal den “TVdreikampf” zwischen Westerwelle (FDP), Künast (Grüne) und Gysi (Linke) am Donnerstag mal angeschaut, die Sendung, mit der die in den Bundestag gewählten Oppositionsparteien (oder “die Kleinen”) quasi für das Duell der zwei “Großen” entschädigt werden sollen (worüber es auch während der Sendung bei den dreien merkbaren Unmut gab – Westerwelle hat schon Recht: “Zur Demokratie gehört auch die Opposition”). Themen waren Afghanistan, Opel, Arbeitsplätze, Steuern und die Sozialversicherungen (Rente und Gesundheit).

Polit-Talk à la Illner: Gysi wird ausgelacht, Westerwelle muss sich als Sozialrevolutionär üben

Auch wenn ich die Positionen von Westerwelle nicht teile, muss man doch zugestehen, dass er diese recht gut vertreten hat. Er gab sich dabei sogar, durchaus überraschend, relativ gemäßigt. Zumindest gemäßigter als Illner. Aber der Reihe nach.

Spätestens als es um die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ging, ab Minute 36 der Sendung, stichelte Frau Illner immer wieder in einer bei sich neutral gebenden Journalisten so kaum gesehen arrogant-herablassenden Weise dazwischen, sei es auch nur mit kurzen abfälligen Bemerkungen. Derart abfällig, dass es wirklich eine Farce wäre, hier von Ausgewogenheit, Neutralität oder auch nur Fairness seitens der Moderation zu sprechen.

Ein Zuschauer, der wirkte wie ein beliebiger JU-Vorsitzender, stellte Gregor Gysi die obligatorische Frage nach der Finanzierbarkeit der Pläne der Linken. Er zitierte dabei auch die Zahl von 300 Milliarden Euro (laut der Rheinischen Post, nach dem Zuschauer aber laut der Linken), die die Pläne der Linken angeblich kosten würden. Nun haben die NachDenkseiten ausgeführt, dass diese Zahl nicht stimmt und viel zu hoch gegriffen ist. Und Gysi führte aus, dass die Zahlen nicht stimmen (und laut Schätzungen von Ökonomen die Pläne sogar kostendeckend wären). Spätestens da zeigte sich, dass Die Linke eben nicht wie jede andere Partei behandelt wird und schon gar nicht versucht wird, sie fair zu behandeln. Frau Illner konnte sich scheinbar nicht zurückhalten, über poliische Aussagen Gysis tatsächlich zu lachen, nahm ich sichtbar nicht ernst und führte ihre Kaskade höhnisch-sarkastischer Bemerkungen und Frotzeleien (“Sie machen heute nur tolle Bemerkungen!”) immer wieder, wenn Gysi sprach, fort. Und Gysi, der ja im TV durchaus fast immer recht locker wirkt, war sichtbar irritiert.

Als der Zuschauer darauf kam, was die Linke tue, um die “Leistungsträger” zu entlasten (übersetzt: Senkung der Steuern für Spitzenverdiener, weitere Nichtbesteuerung von Vermögen), machte Gysi darauf aufmerksam, dass auch Arbeitnehmer Leistungsträger für die Gesellschaft sind. Künast griff dass ein wenig später auf und sagte, dass auch jeder Facharbeiter oder jede Altenpflegerinnen  “Leistungsträger” sei. Illner warf  dort ein abfälliges “Die empfindet sich als…” ein. Woraufhin Westerwelle einspringen musste (!) und Künast unterstützte.

Ein paar von Illners Nebentätigkeiten: Initiative Neue Soziale Markwirtschaft, Konrad-Adenauer-Stiftung und der Vatikan

In der Vergangenheit moderierte Illner Veranstaltungen der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM ist eine von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden gegründete und finanzierte Lobbyorganisation, die für den Abbau des Sozialstaates, Privatisierungen von öffentlichen Betrieben und Sozialsystemen, Senkung der Unternehmenssteuern oder die Einführung von Studiengebühren eintritt. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie will die INSM weniger soziale Marktwirtschaft, sondern viel mehr kapitalistische freie Marktwirtschaft.  Für sie arbeiten solche Sympathieträger wie Arnulf Baring, Oswald Metzger, Martin Kannegiesser oder Bernd Raffelhüschen.

Die INSM unterhält “Medienpartnerschaften” zu der Financial Times Deutschland, der Wirtschaftswoche, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dem Focus, dem Handelsblatt und der Fuldaer Zeitung. Dabei kann das Verhältnis der INSM zu den Medien durchaus kritisch betrachtet werden. Die Kritiker erheben den Vorwurf, dass die Grenzen zwischen Journalismus und PR dabei zusehends verschwimmen. Die INSM habe es geschafft, einen “neoliberalen Mainstram in den Medien durchzusetzen”, so der Medienwissenschaftler Siegrfried Weischenberg. Eine Studie der Universität Münster kommt zu dem Ergebnis, dass die Medienberichterstattung weitgehend die INSM-Perspektive übernehme und nicht deutlich mache, dass diese strategisch Arbeitgeberinteressen vertritt. Auch die “Botschafter” der INSM sind bekannt dafür, diese Rolle nicht unbedingt transparent zu machen. Doch die INSM greift noch zu ganz anderen Mitteln. 2002 hatte sie per Schleichwerbung in der ARD-Serie Marienhof von ihr geschriebene Szenen und Dialoge platziert, die ihre neoliberale Ansichten verbreiten sollten. Auch direkter Druck auf Medien und Verunglimpfung von Journalisten, die andere Positionen vertreten werden ihr vorgeworfen.

Auch für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung sprach sie, oder moderierte für den Vatikan (dort mit Sympathisanten von Opus Dei) sowie u. a. für McKinsey, wie CARTA recherchiert hat. Die Höhe der Honorare blieb dabei immer unklar.

Illners Sendungen – Teil der Medienkampagnen gegen links?

Schon in der Sendung “Illner Intensiv” bediente man alte Kommunististen-Klischees und übte sich in Suggestivfragen oder warf ihr mal wieder Demokratiefeindlichkeit vor. In der Folge von Lafontaines Kritik an einer hohen Medienkonzentration war in der Presse sogar von Verschwörungstheorien die Rede.

Man muss es so festhalten: Illner gehört zu der Reihe von Journalisten, die dazu beigetragen haben und daran mitarbeiten, dass der Neoliberalismus und die Interessen der Arbeitgeberlobby die Mainstream-Medien dominieren, dass der Sozialabbau als alternativlos dargestellt wird und Gegner dessen (etwa als “Populisten”) diskreditiert werden. Deshalb ist es kein Wunder, dass Illners Sendungen als einen Teil der Medienkampagnen gegen die politisch linke Richtung ansehen werden. Wie Kampagnenjournalismus funktioniert, kann man in ihren Sendungen auch so sehen. Illner muss Gysi nicht auslachen, damit dies klar wird.

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