Gegen Lissabon heißt nicht gegen die EU
Nun haben also die Bürger Irlands sich im einem zweiten Referendum doch für die Annahme des EU-Vertags von Lissabon ausgesprochen. Auch wenn man den europäischen Einigungsprozess und auch ein wirtschaftliches Zusammenwachsen der europäischen Staaten befürwortet, kann man durchaus gegen den Vertrag von Lissabon sein. Man braucht weder ein Nationalist noch ein Kommunist zu sein, der jede Förderung eines marktbasierten Wirtschaftssystems von vornherein ablehnt. Und das nicht nur Vorurteile und Ressentiments, wie es oft dargestellt wird, sondern durchaus auch rationale Gründe gegen den Vertrag von Lissabon sprechen, soll im folgenden Beitrag erläutert werden.
Eine Verfassung für die Bürger ohne die Bürger?
Die ursprünglich geplante Verfassung für Europa wurde in repräsentativen Umfragen von einer Mehrheit der europäischen Bürger nicht befürwortet – und von den Bürgern Frankreichs und der Niederlande in Volksabstimmungen abgelehnt. In Deutschland wurde eine solche gar nicht erst durchgeführt – obwohl Art. 146 GG ausdrücklich sagt:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Die EU-Verfassung ist also gescheitert, könnte man denken. Ist sie das? Nein, denn im Umgang der politischen Eliten mit dem Votum des Volkes zeigt sich wieder, was erstere von letzterem halten. Kriegt man keine “EU-Verfassung” auf dem direkten Weg, führt man sie durch die Hintertür ein. Im Grundlagen-Vertrag für die EU von Lissabon sind 96% des Textes derselbe wie in der abgelehnten Verfassung. Nur bietet er den Komfort, nicht erst das Volk darüber abstimmen lassen zu müssen. Nur Irland hat dies getan, nur die Iren durften über eine EU-Verfassung ohne diesen Titel abstimmen. Am 12. Juni 2008 lehnten sie den Lissabon-Vertrag ab.
Das Bundesverfassungsgericht urteilte für Deutschland, dass der Vertrag von Lissabon zwar mit dem Grundgesetz vereinbar sei, dass es aber Begleitgesetze verfassungswidrig sind, soweit den Gesetzgebungsorganen keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurde, es keine demokratisch nicht legitimierte Zustimmung Deutschlands zu EU-Gesetzen geben dürfe, die die nationale Souveränität betreffen, die Kompetenzen der EU erweitern oder die Abstimmungsmodalitäten ändern.
Demokratiedefizite
Europa soll mit einer Stimme sprechen, wird immer wieder gefordert. Doch das dann lieber nicht mittels einer europäischen Demokratie oder wirklichen Beteiligungsrechten des Europäischen Parlamentes (oder gar der Bürger Europas). Auch wenn das Europäische Parlament im Lissabon-Vertrag etwas aufgewertet wird, wirkt es immer noch wie die Simulation einer Volksvertretung in einem autokratischen Staat. Die Kommission ist weiter nur indirekt demokratisch legitimiert, und sie trifft als Exekutive legislative Entscheidungen.
Nein, man möchte lieber eine starke Stimme mittels eines “starken Mannes”, mittels einer höheren Konzentration von Macht und Autorität in weniger Händen (auch die Verkleinerung der EU-Kommission und anderer Institutionen wird immer wieder mit der “Handlungsfähigkeit” begründet, stellt aber tatsächlich auch eine Verkleinerung der Entscheidungsbasis dar – so dass manche kleineren Länder in manchen Bereichen sogar gar nicht mehr mitsprechen dürfen). Diese offenbar bei den europäischen Konservativen vorhandene Sehnsucht nach autoritärerer Politik will man mittels der Stärkung des Ratspräsidenten und der Schaffung des Amtes eines Europäischen Außenministers durchsetzen. Auch wenn man ein entschiedener Befürworter eines stärkeren politischen Zusammenwachsens Europas ist: die Außen- und Sicherheitspolitik ist das Kerngebiet staatlicher Selbstbestimmung, und das nicht ohne guten Grund: hier geht es um Krieg und Frieden. Man stelle sich nur vor, Deutschland müsste aufgrund eines Mehrheitsvotums in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – sagen wir einmal der USA – ziehen.
Dem i das Tüpfelchen setzt noch auf, dass die europäischen Eliten mit dem Vertrag von Lissabon die Demokratisierung der EU als abgeschlossen betrachten wollen. Ein Europa, in dem Entscheidungen auf transparentem Wege über ein demokratisches Parlamentsverfahren und über Volksabstimmungen getroffen werden, mit so einem Europa könnten sich sicherlich deutlich mehr Europäer identifizieren. Doch der Lissabon-Vertrag läuft eher in die entgegengesetzte Richtung.
Aufrüstung und Militarisierung
Der Vertrag von Lissabon verpflichtet die Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung. Auch dass er die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht anstelle, sondern zusätzlich zu der nationalen fördern will, kann kritisch betrachtet werden. Militärische Mittel werden gegenüber zivilen überbetont. Unbedingt betrachtet werden sollte dabei auch eine Studie des EU Institute for Security Studies: What ambitions for Europeans defence in 2020?, in der ein internationaler, auch militärisch und “mittels des gesamten Spektrums hoch intensiver Kampfmaßnahmen“ geführter Klassenkampf des reichen Nordens gegen die “unterste Milliarde” der Menschen des armen Südens zur Stabilisierung der internationalen Klassengesellschaft gefordert wird (siehe: Krieg gegen die Armen). Menschen, die so denken, darf man nicht die Macht über einen großen Militärapperat übertragen.
Bürger- und Menschenrechte
Die EU-Verfassung erlaubt staatliche Hinrichtungen und Tötungen von Menschen in einem Kriegszustand oder zur Niederschlagung eines Aufruhrs. Auch wenn diese Regel rechtlich für viele Staaten, u.a. auch für Deutschland nicht gilt, gilt sie doch für andere und zeigt, aus welchem Geist dieser Vertrag gemacht ist. Bei den Menschen- und Bürgerrechten fällt der Vertrag nach Meinungen einiger Kritiker deutlich hinter das Grundgesetz und sogar hinter die UN-Menschenrechtserklärung zurück.
Problematisch erscheint auch die Rolle der EU im Gebiet der inneren Sicherheit. Verschiedene Maßnahmen hin zum Überwachungsstaate wurden als Maßnahmen zur Terrorabwehr über Europa eingeführt. Die Vorratsdatenspeicherung etwa wurde über den Umweg über die EU in Deutschland umgesetzt – und als “Sachzwang” verkauft.
Freier Markt über alles
Im Vertrag von Lissabon wird die freie Marktwirtschaft festgeschrieben. Auch wenn sich auch Formulierungen zur “soziale Marktwirtschaft” finden: diese verfolgt nach eigenen Angaben auch die FDP. Was dahinter steckt, ist klar: die Privatisierungs- und Deregulierungswelle, die von der EU in der Vergangenheit angestoßen wurde, soll fortgesetzt werden, die Staaten weiter auf Sozialabbau und Einschränkung von Leistungen der öffentlichen Daseinsfürsorge gedrängt werden.
Und ein weiteres Problem stellt sich: im deutschen Grundgesetz ist bewusst die Frage nach der Wirtschaftsform außen vor gelassen. Diese wollten die “Väter des Grundgesetzes” der demokratischen politischen Auseinandersetzung überlassen. Eine Festschreibung einer Wirtschaftsform in der Verfassung (auch wenn diese nicht so genannt wird) bedeutet ein weniger an Demokratie.
Das Ja Irlands: “Wer für die EU ist, ist für Lissabon”
Die Iren haben den Vertrag von Lissabon beim ersten mal teilweise vielleicht auch aus falschen Gründen abgelehnt. Jedoch spielten auch einige der hier genannten eine Rolle.
Wie kann man die jetzige Zustimmung erklären? Zunächst lief seit der Ablehnung im Juli letzten Jahres eine groß aufgelegte Kampagne über Lobbyisten, Medien und Parteipolitiker an, die weniger an Argumente, denn an Gefühle, v.a. an Ängste, anknüpfte (wobei ich nicht sagen möchte, dass Kampagnen zur Ablehnung des Vertrages nicht bestanden und diese nur auf Argumenten beruhten – auch dort spielten irrationale Ängste eine Rolle). V.a. die Auswirkungen der Finanzkrise, die durch EU-Hilfsmittel stark abgemildert wurden und das Land vor stärkeren Verwerfungen bewahrten, wirkten sich aber positiv aus. Verbunden mit einer Propaganda nach dem Motto “wenn ihr nicht gegen die EU seid, müsst ihr für den Vertrag stimmen” oder “eine Stimme gegen den Vertrag ist eine Stimme gegen EU-Hilfen” dürfte diese bei der Zustimmung zum Vertrag die größte Rolle gespielt haben.
Der Vertrag von Lissabon als Projekt der konservativen Eliten Europas
Der Vertrag von Lissabon hebt Demokratiedefizite der EU nicht auf, sondern schafft, allein schon durch die fehlende Zustimmung der Bürger Europas, neue. Er lässt Trends zu einer neoliberalen Wirtshhafts- und Sozialpolitik, zur Militarisierung und zum Abbau von Bürgerrechten erkennen. Insgesamt muss er als ein Projekt der konservativen Eliten Europas angesehen werden – seit Samstag zudem als erfolgreiches.
Der konservative und neoliberale Wind aus Europa wird sich verstärken – was jedoch nicht bedeutet, dass man die EU jetzt ablehnen muss. Die EU ist eine großartige Idee, die auch in weiten Teilden sehr positiv verlaufen ist. Heute bedürfen wir jedoch mehr denn je einer kritischen Gegenöffentlichkeit und einer Zivilgesellschaft – und einer Schwächung der Konservativen in Europas Parlamenten und Regierungen. Damit sie die Mittel nicht ausnutzen können, die ihnen der Vertrag von Lissabon bietet.