“Keine Lose für die Nieten!”

Das Kölner Landgericht hat mit einer einstweiligen Verfügung der Westlotto GmbH verboten, Personen, die “Spieleinsätze riskieren, die in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen stehen”, insbesondere Hartz-IV-Empfängern, Lotto- oder Wettspielscheine zu verkaufen. Bereits im Januar hatte ein anderes Gericht entschieden, dass, obwohl Lotto-Gewinne ja ansonsten steuerfrei sind, bei Hartz-IV-Bezieher ein Lottogewinn auf vom Regelsatz abgezogen werden muss. (Wo kämen wir auch hin, wenn in Zeiten des Finanzmarktkapitalismus Einkünfte erzielt würden, für die man nicht gearbeitet hat?)

Die Begründung des Lotto-Verbots für Hartz-IV-Empfänger mit dem Glücksspielstaatsvertrag und dessem vorgeblichen Ziel der Bekämpfung von Spielsucht erscheint wenig überzeugend. Dies ist sowieso eher eine  bloße Fassade, um das staatliche Glücksspielmonopol aufrechtzuerhalten und dem Staat nicht unbeträchtliche Einnahmen zu sichern. Und es ist äußerst fragil. Im Dezember hatte sogar das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass das bestehende staatliche Sportwettenmonopol in Deutschland nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn es zur Bekämpfung von Glücksspielsucht dient.  Dem Urteil ging eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs voraus, der geurteilt hatte, dass das deutsche Sportwetten- und Glücksspielmonopol dem europäischen Recht widersprechen und einen Verstoß gegen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit in der EU darstellen würde. Zur Bekämpfung der Spielsucht könne ein solches Monopol zwar gerechtfertigt werden, Deutschland verfolge mit der derzeitigen Regelung dieses Ziel aber nicht wirksam. Das Gericht nennt hier etwa die Werbekampagnen für Lotto oder die Existenz privat betriebener Spielautomaten. Gerade dies zeigt am besten, wie bigott die deutsche Gesetzgebung ist. Der Suchtfaktor von Automaten-Daddelspielen ist der höchste aller Glücksspielarten – trotzdem dürfen ausgerechnet diese privat betrieben werden. Würde man das Thema wirklich ernst nehmen und nicht nur als Alibi benutzen, würde man hier ganz anders handeln müssen – aber bestimmt nicht mit einem pauschalen Verbot für bestimmte gesellschaftliche Schichten. (more…)

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Polizeieinsatz gegen Dresden-Nazifrei [UPDATE 3]

Bezüglich der erfolgreich verhinderten Nazi-Aufmärsche in Dresden ist in den Mainstream-Medien vor allem von Krawallen und Gewalt Linksautonomer die Rede. Diese sind auf jeden Fall vollkommen abzulehnen. Diese Gewalttaten, vor allem gegen Polizisten, sind in keiner Weise zu rechtfertigen, und sie schaden dem kompletten Kampf gegen den Rechtsextremismus. (Jedoch stehen sie auch keinesfalls für die ganz überwiegend friedlichen Aktionen der Mehrheit der Demonstranten, die in einem breiten Bündnis über die verschiedensten Lager friedlich demonstrierten und die Nazis zu blockieren versuchten.)

Fast vollständig verschwiegen werden hingegen gewaltsame Aktionen der Neonazis, wie Angriffe auf ein alternatives Kulturzentrum unter den Augen der Polizei sowie Übergriffe der Polizei gegen friedliche Demonstranten. Doch folgenreicher aber ist wohl Folgendes:

Im Anschluss an die Demos stürmte ein Einsatzkommando des LKA Dresden das “Haus der Begegnung”, in der sich unter anderem das Pressezentum des Bündnisses Dresden-Nazifrei (inzwischen ist auch ihre Website nicht zu erreichen) und eine Geschäftsstelle der Partei Die Linke befinden. Die Polizisten haben dabei  ohne Durchsuchunsbefehl in voller Kampfmontur gewaltsam die Räume gestürmt, durchsucht, die Computer des Presseteams beschlagnahmt und 14 Personen verhaftet. Die Bundestagsabgeordnete Katja Kipping berichtet, dass alle im Gebäude anwesenden Personen festgehalten wurden und fast eine Stunde keinen Kontakt zu Außenstehenden, zum Beispiel zu Anwälten, aufnehmen durften. Die Vorwürfe der Polizei lauten auf Vorbereitung von schwerem Landfriedensbruch und Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Doch dies erscheint absurd: Das Bündnis hat sich immer ganz ausdrücklich gegen Gewalt und für einen friedlichen Protest gegen Nazis eingesetzt. Äußerst nahe liegt hier der Verdacht, dass wie schon im letzten Jahr im Umfeld der Dresdner Anti-Nazi-Aktionen der zivilgesellschaftliche Kampf gegen den Rechtsextremismus kriminalisiert werden soll. Die Entscheidungen der Gerichte im Vorfeld der Demo  kommen da noch hinzu. Näheres zum Thema wird erst nach dem Wochenende in Erfahrung zu bringen sein. [20.2.2011, 20:56] (more…)

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Mit allen Mitteln gegen links

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das die Überwachung der Partei Die Linke wie auch einzelner Mitglieder und sogar Abgeordneter dieser zulässt, reiht sich ein in eine Reihe von vielen Vorgängen, mit der die rechtskonservativen und neoliberalen Kräfte v.a. seit der letzten Bundestagswahl mit allen Mittel die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung der Linken auf Bundesebene verhindern wollen. (Und damit noch einmal detaillierter zu einem Thema, das im vorherigen Artikel über den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit als politischen Totschlagargument etwas zu kurz kam).


Seit dem Jahr 2008 ist das neoliberale, finanzmarktgetriebene kapitalistische Regime unter zunehmende Kritik von verschiedensten Seiten geraten. Auch von einstigen bedingungslosen Apologeten dieses Systems gab es nicht nur kleinlaute Zugeständnisse, dass die eigene Ideologie vielleicht doch nicht ganz so unfehlbar sei, sondern teils sogar direkte Rufe nach einer Umkehr, nach einer Dämmung der immer potentiell instabilen bis zerstörerischen Kräfte weltweit ungezügelt marodierenden Finanzkapitals. Erfolgt ist wenig. Selbst die allernotwendigsten Vorkehrungen wurden nach großer Anlaufzeit nur in Ansätzen angegangen. Bei der nächsten Finanzkrise wird man vielleicht ein winziges Quantum mehr gewappnet sein, unwahrscheinlicher ist diese indes kaum geworden. Das meiste waren Alibi-Maßnahmen, der Kern des Systems blieb unangetastet, nur an der ganz äußeren Hülle gab es ein paar kosmetische Veränderungen. (more…)

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Der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit als Totschlagargument

In der Diskussion zum vorherigen Artikel zu den vergangenen Volksabstimmungen kamen Argumente auf, dass deren Ergebnisse verfassungswidrig seien. Das dreigliedrige Schulsystem sei etwa verfassungswidrig, da Kinder von der Bildung ausgeschlossen würden, das Nichtraucherschutzgesetz in Bayern, da die freie Entfaltung der Persönlichkeit eingeschränkt würde, ohne dass dies durch den Schutz von Anderen ausreichend begründet würde.

Ich halte diese Argumente für nicht sehr tragfähig, und v.a. unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten für nicht zielführend oder angemessen. Man kann Entscheidungen auch politisch ablehnen, ohne ihnen zwanghaft eine Verfassungswidrigkeit andichten zu müssen. Die politische Linke täte gut daran, den Vorwurf der Verfassungswidrgkeit nicht als allgegenwärtiges Totschlagargument zu benutzen – wie es von rechts häufig genug getan wird, wie heute mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, dass die Partei Die Linke weiter vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf. (more…)

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Polizeigewalt in Deutschland

Amnesty International hat einen neuen Bericht mit dem Titel “Täter unbekannt – mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland” (html, pdf, Zusammenfassung) vorgelegt. In diesem werden Fälle übermäßiger Polizeigewalt und Todesfälle in Polizeigewahrsam untersucht. Die Ergebnisse sind durchaus alamierend. Das gegenwärtige System, in welchem die Polizei unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führt, könne danach keine umgehenden, unparteiischen, unabhängigen und umfassenden Untersuchungen aller mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gewährleisten.

Die Studie listet eine ganze Reihe von Defiziten auf: Wenn Opfer von Polizeigewalt überhaupt einmal den Mut zu einer Anzeige hatten, wurden in der Mehrzahl der Fälle die Ermittlungen ohne Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Ermittlungen kommen ansonsten selten, und wenn, meist erst auf juristischen Druck der Opfer zu Stande. Oft konnten die Täter nicht identifiziert werden. Die Ermittlungen entsprechen nicht einmal den von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsabkommen, und die Ermittlungen sind oft nicht unabhängig. Es geht sogar soweit, dass bei einigen Ermittlungsverfahren gegen Polizisten der Bundespolizei  entweder die Einheit, zu der der beschuldigte Polizist gehörte, oder gar der beschuldigte Polizist selbst ermittelte. In den vergangenen sechs Jahren wurde Amnesty International 869 mal wegen Polizeigewalt in Deutschland kontaktiert. (more…)

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Klassenjustiz

Die Innenminister der Länder wollen das Strafmaß für Angriffe auf Polizisten von zwei auf drei Jahre erhöhen. Einige Unions-Innenminister wollen diese Regelung zudem für andere staatliche Berufe wie Feuerwehrleute, Rettungskräfte oder Gerichtsvollzieher eingeführt sehen. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger dagegen warnt, es dürfe  “kein Zweiklassenstrafrecht geben, das die Unversehrtheit von Polizisten höher bewertet als die von Bauarbeitern oder Bankangestellten”.

Natürlich hat sie damit Recht. Gleiche Strafe für gleiche Rechtsverletzung ist einer der Grundpfeiler eines Rechtsstaates. Es darf nicht davon abhängen, an wem man eine Tat begeht, wie diese bestraft wird. Anderes würde einen Rückschritt von Jahrhunderten bedeuten. Sicher sind Polizisten größeren Gefahren ausgesetzt, aber ist das der Maßstab? Würde das nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass man nicht so hart bestraft wird, wenn man jemanden angreift, der in seinem Beruf nicht so oft mit Gewalt konfrontiert ist? Nein, das kann wohl kaum gewollt sein. Und wie würden dann Feuerwehrleute oder Sanitäter da rein passen? Und die Ausweitung auf “staaliche Berufe”? Sind denn alle Rettungskräfte staatlich? Was ist mit anderen staatlichen Berufen als den genannten? Und wo liegt die Begündung für solch eine Richtschnur? Oder soll es danach gehen, wie der gesellschaftliche Nutzen der Tätigkeit einzuordnen ist? Dann würden also Angriffe auf Putzfrauen oder Müllmänner sehr viel drastischer bestraft werden müssen als solche auf Steuerberater oder Banker. Aber es wäre ganz sicher, dass das mit unserer gesetzgebenden Kaste nicht zu machen wäre, und es würde dem von Politik, Wirtschaft und Medien verbreiteten Märchen “Wer viel verdient, ist Leistungsträger” (und meist impliziert: besser) zuwiderlaufen. Nein, all dies taugt als objektiver und rationaler Rechtsmaßstab übehaupt nichts. Wenn nicht gleiches Recht für alle gilt, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Und Leutheusser-Schnarrenberger übersieht außerdem, wo die wahre Spaltung unseres Justizsystems liegt. Wie kommt es, dass man für Körperverletzung an Polizisten zwei Jahre ins Gefängnis kommen kann, für das Demolieren eines Polizeiautos aber für fünf? Warum werden bei uns Eigentumsdelikte schwerer bestraft als solche an Personen? Wie kommt es, dass man bei mehrfachem Einbruch oder schwerem Diebstahl oft härter bestraft wird als bei schwerer Körperverletzung? Liegt das etwa daran, dass unser Recht darauf ausgelegt ist, vor allem Eigentum zu schützen, und nicht Menschen? Und warum können sich immer wieder Manager, die Betrug, Veruntreuung oder ähnliches in Millionenhöhe begangen haben, mit einer für ihre Verhältnisse kleinen Geldsumme und einer Bewährungsstrafe herauskaufen? Warum sind solche “deals” möglich? Haben wir etwa bereits jetzt eine Klassenjustiz?

http://www.youtube.com/watch?v=xEqpzJZoQQg

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Zum Verfahren gegen Oberst Klein

Kurz noch ein paar Hinweise auf lesenwerte Artikel und Kommentare zum Verfahren gegen Oberst Klein und zum Afghanistan-Einsatz:

Informationen zur Einstellung des Ermittlungverfahrens durch die Bundesanwaltschaft (Telepolis pnews): Freibrief für Luftschlag in Afghanistan

Soweit die Getöteten zu den Aufständischen gehörten, war der Angriff auf sie nach Ansicht der Juristen berechtigt. Eine Bekämpfung durch Bodentruppen sei wegen der damit verbundenen Gefährdung der eigenen Truppen nicht zumutbar gewesen (…) Die Entscheidung der Bundesanwaltschaft dehnt in einem Zusatz die straflosen militärischen Angriffsmöglichkeiten noch weiter aus

Interview auf Spiegel online: Verfahren gegen Oberst Klein: Ex-Bundesrichter Neskovic wirft Bundesanwaltschaft mangelnde Distanz vor

Neskovic: Die veröffentlichte Begründung ist juristisch gesehen handwerklich so unbefriedigend und lückenhaft, dass es gar nicht möglich ist, die Entscheidung nachzuvollziehen. Die Argumentation ist nicht transparent, weil sie sich hinter der Geheimhaltung der zugrunde liegenden Dokumente verschanzt. Eins ist klar: Die Bundesanwaltschaft hat eine ihrer wichtigsten Pflichten vernachlässigt. Sie hätte die Vorgänge in Kunduz mit einer kritisch zivilen Distanz prüfen müssen. Stattdessen hat sie sich ausschließlich die militärische Sichtweise zu eigen macht.

Kommentar vom Spiegelfechter: Kriegsrecht

Je stärker der deutsche Kriegseinsatz in Afghanistan gesellschaftlich kritisiert wird, desto dichter rücken die staatlichen Organe zusammen, die diesen Krieg bis zum Endsieg von „Demokratie und Freiheit“ fortführen wollen. Ein deutscher Offizier befehligt im fernen Kunduz einen Bombenangriff auf eine Menschenmasse und nimmt dabei – zwar nicht vorsätzlich, aber dennoch fahrlässig – zivile Opfer in Kauf und die Bundesanwaltschaft stellt trotz überwältigender Indizien und Beweise, die zumindest eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung in 74 bis 83 Fällen rechtfertigen würden, das Verfahren gegen diesen Staatsbürger in Uniform ein. Mit Zivilrecht und Rechtsstaatlichkeit hat dies nur wenig zu tun – Deutschland ist im Krieg angekommen und wenn es um die Bundeswehr geht, herrscht offensichtlich Kriegsrecht. Ob die Verantwortlichen – und dies sind nicht nur Uniformträger – für das bisher schlimmste Kriegsverbrechen seit dem Untergang des Dritten Reiches je zur Verantwortung gezogen werden, darf bezweifelt werden. (…)

Es herrscht Krieg und im Krieg gilt Kriegsrecht. Kein Wunder, dass die Bundeswehr die Entscheidung der Bundesanwaltschaft bejubelt – nun darf sie endlich töten, ohne großartig Angst zu haben, in der Heimat für die rechtlichen Folgen geradestehen zu müssen. Oberst Klein mag formaljuristisch unschuldig sein – moralisch trägt er jedoch die volle Verantwortung für sein Handeln

Kommentar von SZenso: Hofberichtblogging (12): Über die Unbedenklichkeit des Kollaterierens

Weshalb wir als nichtafghanische Bürger bei diesem Krieg mittöten und -sterben, ist jedoch keine Frage, die wir uns in Kriegszeiten stellen sollten.Die in der Qualitätshofberichterstattung oftmals geforderte Rechtssicherheit für unsere im Krieg befindlichen Soldaten wurde endlich geschaffen. Die Soldaten brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie am Check Point afghanische Familien oder im friendly fire ihre afghanischen Kameraden kollaterieren. Was jedoch weiterhin nicht geht, ist zum Beispiel der Diebstahl von Kantinenbesteck oder nicht polierte Stiefel. Dann wird das ganze Arsenal an disziplinarischen Maßnahmen ausgepackt und der Soldat gemaßregelt, denn immerhin sind wir zivilisiert und das sind und bleiben wir natürlich auch im Krieg. Wir haben in Afghanistan in erstaunlich kurzer Zeit erfolgreich das Töten und Sterben gelernt, alte Kriegstraditionen wieder belebt und wir werden auch die kommenden Herausforderungen  meistern. Es gibt im Grunde nur noch eine Schwachstelle, die Heimatfront ist noch unterentwickelt. Das Kämpfen und Kollaterieren muss wieder als soldatisches Heldentum begriffen und in der Heimat entsprechend gewürdigt werden. Bei jedem toten deutschen Soldat muss der animalische Reflex der Rache und Vergeltung unverzüglich nach dem Blut des Feindes verlangen.

Kommentar von Andrian Kreye (Sueddeutsche.de): Völkerstrafrecht – Niederlage im Kampf um Herzen und Köpfe

Das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein wurde eingestellt. Damit stellt Deutschland seine Rolle als Speerspitze der Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

NACHTRAG: Kommentar von Jakob Augstein (Der Freitag): Die Wahl der Waffen

(…) dieser Mann kann allen deutschen Soldaten künftig als Vorbild dienen: Die wahllose Tötung von Menschen, seien es Zivilisten oder Kämpfer, Männer oder Frauen, Greise oder Kinder, ist im Krieg Alltag und kein Vergehen, und die Justiz ist nicht zuständig. Man kann getrost damit rechnen, dass die eigene Gerichtsbarkeit der Bundeswehr sich des Falles, wenn überhaupt, dann gnädig annehmen wird.

Bundeswehr und Bundesregierung waren erfreut, dass Richter und Staatsanwälte sich nicht mit Oberst Klein befassen werden. Es hieß, diese Entscheidung gebe den Soldaten nun Rechtssicherheit. Die Soldaten können mit mehr Sicherheit töten. Es wird ihnen nichts geschehen. Wenn Oberst Klein davonkommt, wird jeder andere auch davonkommen. 91 Menschen verlieren ihr Leben, und es wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Es geschieht einfach. Das ist die Wirklichkeit des Krieges. Diese Wirklichkeit greift die Moral der deutschen Gesellschaft an, so wie sie die Moral aller Gesellschaften auf Dauer angreift, die sich im Krieg befinden. Die Frage nach Schuld und Unschuld des Einzelnen, die in der Zivilgesellschaft Grundlage jeden staatlichen Eingriffs ist, spielt im Krieg keine Rolle mehr. Es dürfen alle sterben. Die Schuldigen und die Unschuldigen. Die Männer und die Kinder. Im Tode sind sie alle gleich.

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Das rechte und das linke Auge

Ein paar Meldungen der letzten Tage und Wochen: wie sich Nazis durch die Dresdner Staatsanwaltschaft gestärkt fühlen, die “Schulhof-CD” der NPD nicht verboten wird und Programme gegen Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz überprüft werden sollen, womit sich der Europäische Polizeikongress so beschäftigt, gegen wen die Polizei nach einem Brandanschlag von Neonazis vorgeht und was Nazis, die versuchen, einen Menschen zu töten, so erwartet. Den einzigen Hoffnungsschimmer bilden die Urteile in den Fällen Yunus und Rigo (die angeblichen Molotwo-Cocktail-Werfer) und Jalloh (der Asylbewerber, der gefesselt in seiner Zelle verbrannt ist). Allerdings offenbaren sie ein vorheriges Verhalten von Polizei und Justiz, dass nicht vermuten ließe, dass wir in einem Rechtsstaat leben:

Dresden nazifrei:

Die Dresdner Staatsanwaltschaft räumt ein, dass sie die Polizei nicht anweisen durfte, gegen die Antinazidemo-Seite Dresden-nazifrei.de (jetzt zu finden unter Dresden-nazifrei.com)  vorzugehen. Aber: sie hält Blockadeaufruf weiter für strafbar, kann allerdings auch keine einzige Gerichtsentscheidung nennen, die diese Aufassung stützen würde. Neonazis sehen sich unterdessen durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in Dresden bestärkt. Und das Verwaltungsgericht Dresden sagt, die Beschränkung der Nazi-Demo (durch die Stadt Dresden) auf eine nur “stationäre” Kundgebung (nur ein bestimmter Versammlungsplatz) würde gegen die Versammlungsfreiheit verstoßen und “eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin” (das ist die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland) darstellen. Ja, wirklich, das habe ich mir nicht ausgedacht, so schreiben die das in ihrer Pressemitteilung. Wörtlich. “Eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin”.

Verteilen rechtsextremer CDs vor Schulhöfen erlaubt:

Wer kennt und liebt sie nicht, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)? Eine immer schon absolut kompetent arbeitende, nüchtern abwägende und nachvollziehbare Entscheidungen treffende Behörde! Wo wäre unsere Jugend ohne sie? Nun hat sie den Antrag des Landeskriminalamtes Niedersachsen abgelehnt, die CDs mit rechtsextremer Musik, mit denen die NPD etwa in der Nähe von Schulhöfen und Jugendclubs Jugendliche mit ihrer braunen Propaganda zu ködern versucht, auf den Index zu setzen. Experten halten die CD, auf der NS-Ideologie transportiert werde, oft für einen Einstieg in die rechtsextreme Szene. Die BPjM begründet ihre Entscheidung u.a. damit, dass auf der CD nicht zu Gewalt aufgerufen werde. Die Folge:

Für die Sicherheitsbehörden bedeutet diese Entscheidung eine Schwächung ihrer Position. Bisher war es stets gelungen, solche Verteilaktionen vor Schulhöfen mithilfe der Polizei zu stoppen. “Das könnte jetzt schwieriger werden”, sagte ein Sicherheitsexperte zu NDR Info. (NDR)

Verfassungsschutz soll Anti-Nazi-Projekte überprüfen:

Familienministerin Kristina Köhler will staatlich geförderte Projekte gegen Rechtsextremismus ideologisch und “auf ihre Verfassungstreue” überprüfen lassen. Und das soll nun auch, anders als früher, der Verfassungsschutz übernehmen. Die  SPD ist irritiert, die Grünen sprechen von “völlig unverhältnismäßiger Vorverurteilung” und beklagen, man stelle Anti-Nazi-Initiatien unter Generalverdacht, und die Linke geht noch weiter:

Sollte die Familienministerin tatsächlich solche Absichten haben, wäre dies völlig verantwortungslos, glaubt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Für sie ist diese “staatliche Anti-Antifa-Politik Wasser auf die Mühlen der Nazis” und stigmatisiere die gesellschaftlichen Initiativen gegen rechts. “Wer Nazis so ermutigt, darf mit Recht als geistige Brandstifterin bezeichnet werden”, betont Jelpke. (Taz)

Die Innenminister von Sachsen und Thüringen und die Hamburger Justizbehörde reagierten mit Unverständnis und wollen keine gesonderten Überprüfungen durchführen.

Europäischer Polizeikongress:

Themen dort waren: “zunehmender Alkoholkonsum”, “Integrationsprobleme von Migranten” sowie “falsche Toleranz gegenüber Linksautonomen”. Also nur die wirklich dringenden Probleme, die uns am meisten und am unmittelbarsten bedrohen! Und Volker Bouffier forderte dort, jeden Bus und jeden Zug verpflichtend mit privaten Sicherheitskräften auszustatten. Auch nett.

Nach Nazi-Brandanschlag: Großeinsätze gegen “Linksextremen-Aktion” geplant:

Nachdem ein Rechtsextremer einen Brandanschlag auf das Haus einer Brandenburger Bürgerinititaive gegen Neonazis in Zossen gestanden hat, hat ein Großaufgebot der Polizei gegen eine angekündigte Aktion von Linksextremisten “Flagge gezeigt”, so steht auf der Homepage von Berlin. Ein überaus logisches und konsequentes Vorgehen! Nur habe sich kein einziger “Angehöriger der Linksextremen” sehen lassen, schließt die Mitteilung.

Prozess gegen vier Rechtsextreme:

Laut Anklageschrift sollen die Männer im Alter von 20 bis 26 Jahren versucht haben, den 22-jährigen Jonas K. mit einem so genannten Bordsteinkick zu töten um dem “vermeintlichen politischen Gegner” ihre Macht zu demonstrieren. (…)

Den Richtern zufolge trat allerdings der Hauptangeklagte, Oliver K., weiter, bis die Polizei ihn wegzerrte. K. habe die klare Absicht gehabt, sein Opfer zu töten. Noch eine Stunde nach der Tat sagte er: “Der Kopf hätte auf dem Bordstein liegen müssen – und dann wumm.” (Taz)

Das Urteil: Einer wird zu 5 1/2 Jahren Haft, zwei zu Bewährungsstrafen verurteilt, einer freigesprochen. Ein absolut nachvollziehbares Urteil, liegen die Strafen doch etwa im Bereich dessen, was man für das Anzünden eines Autos erwarten kann (s.u.). Was, das ist nicht richtig, dass in Deutschland Delikte gegen Sachen und Eigentumsdelikte tendenziell härter bestraft werden als Gewalttätigkeiten gegen Personen? Na, wo wäre unser gesellschaftliches System denn sonst? Das Gericht bleibt mit diesem Urteil hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurückt.  Wieso das? Antwort: weil es davon ausgeht, dass das Opfer angefangen habe. Ohne Worte. Und erstaunlicherweise sieht das Gericht die rechtsextreme Einstellung der Täter nicht als Hauptmotivation. Warum? Antwort: der Ausspruch “du Zecke stehst nicht mehr auf” kann keinem der Angeklagten konkret angelastet werden.

“Molotow-Cocktail-Prozess”:

Die Berliner Schüler Yunus und Rigo, die beschuldigt worden waren, am 1. Mai 2009 einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen zu haben, wurden freigesprochen.  Ein Blick auf die Hintergründe des Verfahrens offenbart jedoch Vorgänge, für die die Bezeichnung haarsträubend stark verharmlosend wäre. Zwei Polizisten wollen die beiden beim Wurf gesehen haben – aber keine Gesichter, nur ihre Kleidung. Objektive Beweise gibt es nicht, laut einer Untersuchung etwa auch keine Benzinspuren auf ihrer Kleidung. Zeugen, die die Täter gesehen hatten, schlossen Yunus und Rigo aus, und Fotos von der Tätergruppe zeigten eine Person, aber keinen der beiden. Dennoch blieben sie 230 Tage in Untersuchungshaft – da es, laut Richterin Petra Müller, an der Glaubwürdigkeit der Polizisten keine ernsthaften Zweifel gebe. Erst als eine Verteidigerin Anzeige gegen die Person auf dem Foto stellt, ermittelt die Polizei. Bei Hausdurchsuchungen, zu denen die Identifikation des Fotografierten durch einen Polizisten geführt hat, finden sie Fotos, auf denen eine Person mit einem Benzinkanister posiert, und dann sogar noch einen solchen Benzinkanister im Bettkasten. Jetzt sollte die Sache eigentlich klar sein, denkt man. Doch jetzt kommt der Hammer: beschlagnahmt wird der Kanister jedoch nicht.

Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Yunus, hat eine ganz dezidierte Meinung zu dem Verfahren:

Eine Verurteilung der Anklagten sei angestrebt worden. “Das war zielgerichtet und systematisch, dafür war jedes Mittel recht. Das kann man nur mit politischen Interessen erklären”, so von Klinggräff. Werner Throniker, Personalratschef des Berliner LKAs, mag das nicht glauben. “Natürlich werden bestimmte Straftaten immer mal wieder abstrakt zum Politikum, aber bei den konkreten Ermittlungen spielt das keine Rolle”, so Throniker. Dennoch scheint es ein aufgeregtes Interesse zu geben, endlich Zeichen gegen linke Krawallakte zu setzen. Gab es vor Jahren für Autozündler noch Bewährungsstrafen, so wurde zuletzt ein 34-Jähriger, der einen VW Golf abgefackelt hatte, zu 3 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Strafverteidiger Peter Zuriel weist auch im Fall von Yunus und Rigo darauf hin, dass mit der Anklage des versuchten Mordes ein Brandsatzwurf – anders als in Vorjahren – deutlich “hochgewertet” worden sei. Es sei bedenklich, so Zuriels Kollege Peer Stolle, “dass sich die Justiz scheinbar politischem Druck beugt”. (Taz)

Fall Jalloh muss neu aufgerollt werden:

Der Bundesgerichtshof entschied, dass das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau im Fall des gefesselt in seiner Zelle verbrannten Oury Jalloh (Freispruch von zwei Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge) zahlreiche Lücken aufweise. Nun muss neu vor dem Landgericht Magdeburg verhandelt werden.

Oury Jalloh, Asylbewerber aus Sierra Leone, war am 7. Januar 2005 in betrunkenem Zustand von der Polizei verhaftet worden, weil sich Frauen der Stadtreinigung von ihm belästigt fühlten. Weil er sich gewehrt haben soll, wird er in eine Zelle gesperrt und an Händen und Füßen fixiert. Um 12 Uhr meldet sich der Rauchmelder. Laut Gutachter erst zweieinhalb Minuten später geht der Dienstgruppenleiter ohne einen Feuerlöscher zu der Zelle. Als er die Tür öffnet, schlagen ihm Rauchschwaden ins Gesicht. Er betritt er die Zelle nicht. Jalloh ist an seine Liege gefesselt in der Gewahrsamszelle verbrannt. Er soll nach Darstellung der Polizei das Feuer selbst ausgelöst haben, und er soll nicht geschrien haben. Eine Obduktion ergibt, dass sein Nasenbein gebrochen war. Das Landgericht Dessau-Roßlau urteilte, den beiden Polizisten könne kein Fehlverhalten und keine Mitschuld am Tod Oury Jallohs nachgewiesen werden. Menschenrechtsgruppen und Opferverbände sprachen von schlampigen Ermittlungen, Lügen und Vertuschungen seitens der Polizei.

Marco Steckel, Berater der Dessauer Opferberatungsstelle, kritisiert den seiner Meinung nach völlig inakzeptablen Umgang der Polizei in Sachsen-Anhalt mit dem Tod des Asylbewerbers.  So habe die Aufarbeitung des Falls bei Polizei und Stadt bis auf die Ankündigung de facto noch immer nicht begonnen. Zudem traten laut Steckel Belege für “rassistische Denkstrukturen” bei der Polizei von Sachsen-Anhalt zutage. Dazu gehören abfällige Bemerkungen über Afrikaner in öffentlich gewordenen Telefonmitschnitten. Auf Empörung sogar beim Innenministerium stieß die Äußerung “Schwarze brennen eben mal Länger” eines leitenden Polizeibeamten in Halle. All dies lege den Schluss nahe, sagt Steckel, “wer so denkt, handelt auch so”.

Selbst der Dessauer Richter Manfred Steinhoff hatte bei seinem Urteilsspruch Ende 2008 festgestellt, dass das, was im Prozess von vielen Polizisten im Zeugenstand “geboten” worden sei, mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun habe. Für Gössner ist klar: Der Verdacht, dass es sich um einen Fall oder ein Zeichen für “institutionellen Rassismus” handele, sei nicht von der Hand zu weisen. (Deutsche Welle)

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Keine politische Justiz?

Von den Palmer Raids der Zwanziger Jahre bis zu den Fällen Peltier und Abu-Jamal durchzieht ein roter Faden die amerikanische Rechtsgeschichte – der der politischen Justiz (Text: Frank Benedikt unter der Lizenz CC BY NC 3.0)

Mumia Abu-Jamal (*)

Zwei mal drei Meter – das sind die Abmessungen der Zelle, in der der wohl bekannteste Todeskandidat der Welt seit 1995 eingekerkert ist. Seit 1982, als er wegen Polizistenmordes in einem fragwürdigen Verfahren zum Tode verurteilt wurde, hat der Journalist und Aktivist Mumia Abu-Jamal stets den Tod vor Augen. An seiner Schuld bestehen seit langem erhebliche Zweifel, dennoch droht ihm weiter die Hinrichtung. Das Todesurteil, das im März 2008 vorläufig aufgehoben wurde, wird in den kommenden Tagen vom Obersten Gerichtshof der USA entweder bestätigt oder in lebenslange Haft umgewandelt werden, ungeachtet weltweiter Initiativen, die seit langem eine Freilassung Abu-Jamals oder zumindest eine Wiederaufnahme des Verfahrens fordern. Dass es bei dem Verfahren gegen das ehemalige Black Panther- und MOVE-Mitglied zu eklatanten Verstössen gegen rechtsstaatliche Standards kam, heben auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch hervor. Gerade letztere Organisation betont auch nicht zuletzt die politische Komponente in diesem Fall, die bei der Urteilsbemessung eingeflossen sei. Ein „militanter“ Afroamerikaner – eine doppelte Herausforderung für das überwiegend weiße und konservative Justizsystem der USA, das auf emanzipatorische und „linke“ Bestrebungen schon früher mit staatlicher Härte reagiert hat.

„Red Scare“ und die Palmer-Raids

Schon mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg breitete sich in den Vereinigten Staaten Angst vor Fremden und Spionage aus. Ein erstes Resultat war die Verabschiedung des Espionage Acts im Juni 1917, der unter anderem dazu führte, dass der dreimalige Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei, Eugene V. Debs, verhaftet und zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch der bekannte Schriftsteller E. E. Cummings wurde wegen „Spionage“, die sich darin erschöpfte, dass er keinen Hass gegen die Deutschen zu empfinden vermochte, zu dreieinhalb Monaten in einem Militärlager verurteilt. Der Sedition Act, der 1918 als Zusatz dem Espionage Act hinzugefügt wurde, stellte auch generell Kritik an der Regierung unter Strafe und markierte den einstweiligen Höhepunkt in der legislativen Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten in den USA.

Mit dem Ausbruch der Russischen Revolution wuchs nicht allein in den europäischen Ländern die Furcht vor einem Übergreifen der revolutionären Dynamik: in den Vereinigten Staaten existierte eine vielfältige Arbeiterkultur, zusammengesetzt aus Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten aus aller Herren Länder. Die Anarchisten waren schon gelegentlich durch Attentate aufgefallen und Gewerkschaften wie die Wobblies (IWW – Industrial Workers of the World) waren nicht nur gut organisiert, sondern auch „internationalistisch“ eingestellt. Der offene Konflikt zwischen Arbeiterschaft und Kapital hatte bereits lange vor dem Krieg begonnen, denn schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es blutige Auseinandersetzungen zwischen den Molly Maguires und den Kohlenbergwerksbetreibern Pennsylvanias. Andere massive Arbeitskämpfe sollten folgen und die gesellschaftlichen Verhältnisse waren bereits zu Beginn des Krieges angespannt.

Weitere große Streiks, staatliche Repression aufgrund der neuen Gesetze, und eine Serie von Bombenanschlägen, die den Galleanisten, einer anarchistischen Gruppierung zugeschrieben wurden, verschärften die Situation und der neue Generalstaatsanwalt, Alexander Mitchell Palmer, ließ – zusammen mit dem jungen J. Edgar Hoover – zwischen 1919 und 1920 die sogenannten „Palmer Raids“ durchführen. Bei Massenfestnahmen ohne offizielle Anklage wurden ca. 10.000 Personen landesweit festgenommen, unter ihnen auch die bekannten Anarchisten Alexander Berkman und Emma Goldman, die, zusammen mit rund 500 anderen „ausländischen Anarchisten und Kommunisten“, kurzerhand nach Russland abgeschoben wurden, welches sich zu dieser Zeit noch im Bürgerkrieg befand. Der Höhepunkt der ersten „Rotenfurcht“ sollte damit aber auch überschritten sein, da Palmer die Unterstützung der Bevölkerung einbüßte, nachdem sich seine Prognose, „die Roten“ würden für den 1. Mai 1920 eine Revolution in den USA planen, als völlig haltlos erwies. Bereits im Juni desselben Jahres beendete der Bundesrichter George W. Anderson die größte Massenverhaftung der US-Geschichte, aber zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele Menschen grundlos inhaftiert oder gar deportiert worden.

Die Mörder sind unter uns

In der Zeit der „Palmer Raids“ und der ersten „Roten Angst“ ereignete sich auch der bekannte Fall der italienischstämmigen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, der in Kunst und Literatur seinen Niederschlag gefunden hat. Die beiden Arbeiter, die sich dem Kriegsdienst verweigert bzw. entzogen hatten, hatten sich der Bewegung um Luigi Galleani angeschlossen und sollen im April 1920 bei einem Raub in South Braintree, Mass., zwei Menschen erschossen haben. Trotz zweifelhafter Zeugenaussagen und weltweiter Proteste wurden Sacco und Vanzetti 1927 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihre Schuld gilt bis heute als nicht erwiesen und anläßlich des 50. Jahrestages ihrer Hinrichtung hat sie der damalige Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, postum rehabilitiert.

Leonard Peltier – der letzte der Lakota?

Im selben Jahr, als Mike Dukakis Sacco und Vanzetti rehabilitierte, wurde Leonhard Peltier, ein Mitglied von AIM, des American Indian Movement zur Befreiung von der Unterdrückung durch die weiße Mehrheit, zu zweimal lebenslänglich verurteilt, da er für die Ermordung von zwei Bundesagenten des FBI verantwortlich sein soll. Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Pine Ridge Reservation in South Dakota hatten ihn und andere AIM-Mitglieder dazu veranlaßt, das Reservat aufzusuchen, um ihren Stammesbrüdern beizustehen.

Der indigene Aktivist, der sich bereits in jungen Jahren für die Interessen der unterdrückten Ureinwohner einsetzte, dürfte inzwischen wohl der dauerhafteste „Politische“ in den USA sein: seit Dezember 1976 ist Peltier bereits inhaftiert, wiewohl auch hier die Indizien und Zeugenaussagen dürftig genug schienen, um ihm beispielsweise die Unterstützung von Amnesty International und seitens des Dalai Lama einzutragen. Nachdem 2009 ein Gnadengesuch von der Parole Commission abgelehnt wurde, besteht die nächste Möglichkeit für ein Gnadengesuch erst wieder 2024 – Leonhard Peltier wird dann 79 Jahre alt sein und seine Strafe läuft voraussichtlich noch bis 2040.

Zusammen mit Mumia Abu-Jamal gilt Leonhard Peltier heute als der bekannteste politische Gefangene in den USA und ist auch – gerade hinsichtlich der zweifelhaften Beweislage – das doppelte Sinnbild für einen unschuldig und politisch Verurteilten.

Keine politische Justiz?

Die Wertung kann nur der Leser vornehmen, wenn es auch danach „riecht“ und renommierte Menschenrechtsorganisationen dies unumwunden so bezeichnen. Ein System, welches Menschen – schuldig oder unschuldig – ohne die Möglichkeit zu einer Rehabilitation dauerhaft „wegsperrt“ oder gar tötet, kann nach mitteleuropäischen Maßstäben und Ansicht des Autors kein humanes und gerechtes sein. Zwischen „Rache“ und „Gerechtigkeit“ wird es stets einen normativen Unterschied geben.

Freiheit oder Tod?

Fast scheint es so, wenn man sich Mumia Abu-Jamals akute Lage vor Augen ruft. Die „Freiheit“ wird er wohl, dem Rechtssystem in den USA geschuldet, kaum erlangen können, aber Freiheit von ständiger Bedrohung mit dem Tod wäre schon sehr viel. Da tritt spätestens dann auch die Schuldfrage in den Hintergrund, denn dieser Mensch hat in über 28 Jahren „alle seine Sünden gebüßt“ – es wäre an der Zeit, ihn zu begnadigen!
P.p.s.: Ein nachgereichter Link, den ich im Text nicht mehr anzubringen wußte, der mir aber für das Verständnis eines Herrn Palmer hilfreich scheint.

(Originalpost beim binsenbrenner.de)

*: Bild: http://www.flickr.com/photos/dubdem/ / CC BY 2.0

Die Lage um Mumia Abu-Jamal ist derzeit äußerst dringend. Deshalb sind zahlreiche Aktionen in Vorbereitung. Hier ein paar Aufrufe und weitere Informationen:

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