Eine Steuer gegen die Armut

http://www.youtube.com/watch?v=laS_UOGbOmU

Ein internationales Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen, kirchlichen und  gewerkschaftlichen Gruppen hat eine weltweite Internet-Unterschriftenkampagne (gerichtet an die Staats- und Regierungschefs der G 20) für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, einer Umsatzsteuer auf den Handel mit Finanzvermögen, gestartet. Auf steuergegenarmut.de kann man die Kampagne unterschreiben.

Eine, wie ich denke, absolut unterstützenswerte Aktion. Eine derartige Steuer würde durch eine Eindämmung von Spekulationstätigkeiten das Finanz- und Wirtschaftssystem stabilisieren helfen. Und, wie im Video dargstellt, würden schon bei einer Höhe der Steuer von 0,05 Prozent pro Geschäft Einnahmen von über 100 Milliarden Euro pro Jahr zusammenkommen. Mit diesem Geld könnte man sehr viel gegen die weltweite Armut, gegen Hunger und Elend, gegen Umweltverschmutzung und Klimawandel beitragen.

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Generalangriff auf den Sozialstaat – Guido an die Front!

George W. Westerwelle

Guido Westerwelle hat sich also, so formuliert es die Süddeutsche, vom diplomatischen Dienst ab- und zum Dienst an der “Heimatfront” angemeldet und überschwemmt die Medien, allen voran die Springer-Presse, mit Hartz-IV-Populismus.

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Seine Angriffe klingen, so zeigt Spiegel Online, verblüffend ähnlich wie die perfekt einstudierten Hetztiraden der US-Republikaner. Er kupfere hemmungslos Sprüche und Ideen bei den Republikanern ab, mit dem Ziel einer Spaltung der Gesellschaft. Er beschwört wie die Republikaner eine “sozialistische Gefahr”. Die Methoden sind also ähnlich, aber sich ausgerechnet die diffamierenden und Hass schürenden aktuellen Strategien der rechtskonservativen und erzreaktionären Republikaner anzueignen, spricht nicht gerade für eine sich “liberal” nennende Partei. Und schon vor zwei Jahren meinte Westerwelle “Von George W. Bush lernen, heißt Steuern senken lernen”.

Aber wir wissen ja: in Westerwelles Weltbild ist schon alles, was zum Abbau von Armut, Ausbeutung und Ungleichheit führen könnte, von vornherein “Sozialismus”. Was würde Westerwelle eigentlich machen, wenn er vor “Sozialismus” warnt und man meinte, dass man das gar nicht schlecht finden würde? Ich glaube, er würde mit seinem Weltbild gar nicht mehr klarkommen. Und lustig ist ja auch, wie die FDP sich krampfhaft bemüht, “links” zu einem Quasi-Schimpfwort zu machen wie in den USA “liberal”. Bei solchen Aussagen oder wenn er etwa wütend auf den “linken Zeitgeist” ist, fragt man sich dann aber schon, ob er die Grenze vom blanken (aber kalkulierten?) Populismus zum völligen Realitätsverlust nicht doch überschritten hat.

Alles falsch

Wie fundiert sind dabei die Aussagen Westerwelles? Der Stern lässt auf Hartz IV: Wie viel Wahrheit steckt in Westerwelle? kompetente und renommierte Fachleute (und keineswegs alle aus dem “linken Lager”) wissenschaftlich darlegen, wieviel an Westerwelles Äußerungen der letzten Tage wirklich dran ist – und das Ergebnis ist verheerend.

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Eine Umverteilung findet in Deutschland tatsächlich statt: aber von unten nach oben und von den Arbeits- hin zu den Kapitaleinkünften. Die Mittelschicht ist gerade durch eine neoliberale Arbeitsmark- und Sozialtpolitk geschrumpft, der Sozialstaat ist in Deutschland nicht zu groß (er könnte aber effizienter arbeiten). Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich eher durch zu viel als zu wenig, wie Westerwelle meint, Leistungsdruck aus. Von der Familienpolitik von Schwarz-Gelb haben, anders als ihre Propaganda behauptet, fast nur die Spitzenverdiener profitiert. Und der fehlende Abstand zwischen Hartz IV und Löhnen liegt an der Ausbreitung des Niedriglohnsektors – eine Lösung wären eher Mindestlöhne denn eine Senkung von Hartz IV.

Die Zeit verdeutlicht unter Sozialstaat: Westerwelles schräges Zahlenspiel u.a., wie in den letzten Jahren Spitzenverdiener entlastet wurden und dies durch die FDP noch mehr würden, warum die FDP-Politik, etwa bei Gesundheit und Familien, unsozial ist, zu noch mehr Umverteilung von unten nach oben und gleichzeitig zu mehr Ausgaben führt. Und sie zeigt, dass Deutschland bei den Sozialausgaben international nur im Mittelfeld liegt.

Das Ziel: der Generalangriff auf den Sozialstaat

Sicherlich will Westerwelle auch ablenken von der Käuflichkeit der FDP. Wenn man in den letzten Wochen irgendwo etwas über die FDP lesen, hören, oder sehen konnte, war dies das große Thema. Und der Einfluss der Lobbys auf die Politik wird durch eine künftig deutlich schnellere Veröffentlichung von Großspenden noch offensichtlicher: Großspenden an die Parteien – Schwarz-Gelb heißt Schwarz-Geld (Süddeutsche). Westerwelle hat es jetzt geschafft, etwas davon abzulenken, keine Frage.

Aber was die FDP vor allen anderen Dingen will, ist eines: eine Demontage des Sozialstaates, eine Abschaffung des Modells des Wohlfahrtsstaates und eine Adaption des liberalen Systems nach dem Vorbild Großbritanniens und der USA. Statt sozialer Sicherheit soll es dann nur noch Nothilfe geben, angebliche (aber nie gewährleistete) Chancengleichheit (oder sogar nur Chancengerechtigkeit) in der Bildung soll an die Stelle der sozialen Gerechtigkeit treten, Hierarchisierung anhand von Marktleistungen an die der universellen  Gleichheit aller Menschen. Egoismus soll  Solidarität, Utilitarismus Ethik ablösen. Das wäre dann der “Neuanfang des Sozialstaates” – die Generaldebatte über den Sozialstaat, die Westerwelle fordert, wird so wohl eher Generalangriff auf den Sozialstaat. Und da, so zynisch es klingt, ist die Käuflichkeit einer Regierungspartei tatsächlich fast schon eine Nebensache.

Klassenkampf von oben

Ob Westerwelle sich hierbei geschickt anstellt ist eine andere Frage. Einerseits erntet er von so gut wie allen politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, und selbst im größten Teil der Medien, Widerspruch und verprellt durch seine dumpfen Parolen möglicherweise einige klassische FDP-Anhänger.

Andererseits sind seine Aussagen auch Ausdruck einer verkommenen Mentalität derjenigen, die sich selbst als Leistungsträger betrachten, weil sie viel Geld verdienen. Sloterdijks Angriffe auf den Sozialsstaat oder Sarrazins sozialdarwinistische Äußerungen sind ebenfalls Audruck dieses Klassenkampfes von oben. Und Westerwelle erhofft er sich  (und findet ihn anscheinend auch teilweise) Zuspruch bei einem reaktionären springerlesenden Stammtisch-Publikum. Die neoliberale Politik hat es durch ihre Ausführer in der Journaille geschafft, frühere Unzufriedenheit mit dem politischen und wirtschaftlichen System in blinden Hass umzuwandeln, der sich gegen die richtet, die immer noch unter einem stehen (auch wenn ein großer Teil der Arbeitnehmer von Hartz IV bedroht ist, auch und vielleicht gerade die Springer-Leser, die so etwas schreiben).

Guido prescht vor, die anderen folgen

Die Taktik für grundlegende politische Veränderung ist oft, ersteinmal eine Rampensau vorzuschicken, um die Lage zu sondieren, auszuloten, wie weit man gehen kann (mit möglichst nicht nur direkten und undiplomatischen, sondern auch beleidigenden, diffamierenden und spaltenden Angriffen. Grenzen gibt es bei esolch einem Vorgehen kaum.). Politik und Medien werden dann meist ersteinmal den Tonfall missbilligen, der ja nicht ganz angemessen wär, um dann eine Kampagne anzustoßen nach dem Motto “aber vom Inhalt her hat er doch eigentlich schon irgendwie Recht”. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung folgt dann ein Umdrehen des Spießes – man wird selber empört, gar höchst aggressiv: “man wird doch so etwas noch mal sagen dürfen!”. Man wird sich selbst als Opfer darstellen der “linken Meinungsdiktatur”, all dieser verblendeten Sozialromantiker und der so gehassten “Gutmenschen” (und ich betone es immer wieder: es ist schon bezeichnend, wenn man diesen Begriff mit negativer Intention benutzt und er als Kampfbegriff des rechten Randes verwendet wird) – und das um so mehr, je weniger sachliche Argumente man hat. Man wird aggressiv betonen, dass man sich vielleicht anfangs in der Wortwahl vergriffen habe, dass aber die Verkürzungen, Verdrehungen und schlichten Lügen “die Wahrheit” seien. Und wir können den Anfang jetzt beobachten:

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Nachdem natürlich Spinger den Anfang gemacht hat, steigt die Tagesschau ein (und die Kommentatorin zeigt, welch Geistes Kind sie ist, wenn sie “Gutmenschen” und “political correctness” im negativ gemeinten Sinn benutzt). Auf jeden Fall ist es klar: sie wird nicht allein bleiben. Andere werden folgen, um ihre Kampagne fortzuführen, unterstützt von einflussreichen und finanzstarken Lobbys.

Das Ziel ist die Erfüllung des neoliberalen “Auftrags”: die vollständige Demontage des Sozialstaates, der Abbau sämtlicher Mechanismen, die zu einem sozialen Ausgleich führen, die die “Marktergebnisse verzerren” und der achso gegängelten “Elite” unseres Landes das Leben schwer machen. Die Feinde des Sozialstaates werden sich gruppieren. Sie wollen ihm den endgültigen Todesstoß verpassen. Pardon wird nicht gewährt.

Ob sie damit Erfolg haben werden, ist ebenso eine Frage davon, ob der kritische Journalismus, wie es derzeit teilweise wirkt, wieder eine Renaissance erlebt und ob die Oppositionsparteien stringent zusammenarbeiten werden, wie davon, welche Kräfte die Zivilgesellschaft zur Verteidigung des Sozialstaates in Deutschland mobilisieren kann.

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Bildquellen:

(1) http://www.flickr.com/photos/jaumedurgell/ / CC BY-NC 2.0

(2) http://www.flickr.com/photos/46316635@N00/ / CC BY-NC-SA 2.0

(3) http://www.flickr.com/photos/f-hain_net/ / CC BY-NC 2.0

(4) http://www.flickr.com/photos/farbfilmvergesser/ / CC-BY-NC-SA

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Das Hartz IV-Urteil und seine Folgen

Vor einer Woche hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Berechnung der Hartz IV-Regelsätze gegen das Grundgesetz verstößt und bis zum 1. Januar 2011 neu geregelt werden muss. Was besagt das Urteil genau und was können mögliche Konsequenzen sein?

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karlsruhe_bundesverfassungsgericht.jpg (Tobias Helfrich unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Das Bundesverfassungsgerich hat nun endgültig klargestellt, dass jeder Bürger einen unbedingten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Es hat dabei in seinem Urteil auch erstmals genau ausgeführt, was dieses beinhaltet:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

Der Anspruch müsse den “gesamten existenznotwendigen Bedarf” des Menschen decken. Es ist zweifellos ein Erfolg, war aber indes überfällig, dass dies endlich juristisch festgestellt wurde. Über die konkrete Höhe der Leistungen, die ein sozio-kulturelles Eistenzminimum darstellen, hat das BVerfG indes nicht geurteilt; zu den derzeitigen jedoch hat es gesagt, sie seien nicht offensichtlich unzureichend. Gerade dies hat (in seiner Unkonkretheit) manche Erwartungen, die vielleicht in das Urteil gesetzt wurden, enttäuscht.

Das Abstellen des menschenwürdigen Existenzminimums auf „gesellschaftliche Anschauungen“ und auf „wirtschaftliche Gegebenheiten“ lässt das Pathos über die zu wahrende „Würde“ des Menschen bei der Begründung des Leistungsanspruchs angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit und des Lohndumpings der letzten Jahre als ziemlich hohl erscheinen.
Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut (NachDenkSeiten)

Für das BVerfG sind die Hartz IV-Sätze also nicht zwangsläufig wegen ihrer Höhe verfassungswidrig. Allerdings haben die verschiedenen Bundesregierungen nun seit nunmehr fünf Jahren gegen das Grundgesetz verstoßen (es werden am Ende sechs Jahre sein, da die Regierung und speziell das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis Anfang 2011 Zeit haben werden, die Leistungen grundgesetzkonform zu regeln).

Quelle: http://www.flickr.com/photos/21982470@N06/3810215875/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

Ende der Willkür

Laut BVerfG sei das Verfahren nur wegen der Intransparenz und fehlenden Sachgerechtigkeit der Berechnung der Regelsätze, bei der oft nur “ins Blaue hinein” geschätzt worden sei, nicht verfassungsgemäß . Dass die Ermittlung der Regelsätze methodisch höchst unsauber und wenig fundiert war, willkürliche Kürzungen vorgenommen wurden und die Höhe nach den politisch vorgegebenen Leitlinien angepasst wurde, war lange bekannt (und auch neoliberale Ökonomen mussten dies als Schandfleck am von ihnen so geliebten ALG II zugestehen). Besonders abstrus waren die Methoden natürlich bei den Sätzen für die Kinder, wo laut dem Urteil allein schon Alltagserfahrungen einen besonderen Bedarf nahelegten, jegliche Ermittlungsversuche des tatsächlichen Bedarfs von Kindern seitens des Gesetzgebers aber ausblieben.

Wie genau die Sätze neu berechnet werden soll, ist in dem Urteil nicht gesagt. Methodisch gibt es da sicher einige sinnvolle Ansätze – und so gut wie alle Ansätze sind besser als das bisherige Vorgehen. Das bisherige Statistikverfahren, bei dem die Leistungen anhand der Ausgaben der ärmsten 20% der Bevölkerung minus Abschläge berechnet werden, bleibt ausdrücklich möglich. Dies kann jedoch auch bedeuten, dass bei sinkenden Löhnen im Niedriglohnsektor auch die Sozialleistungen immer weiter sinken werden. Ein Warenkorb-Modell (welches vor Hartz IV für die Berechnung der Höhe der Sozialhilfe herangezogen wurde), das um sozio-kulturelle Ausgaben erweitertert wäre, wäre deutlich sinnvoller, da es den tatsächlichen Bedarf ermittel und absolute Bedarfszahlen liefert und nicht nur relative und nur monetäre Größen.

Aber zumindest ist die von einer unerträglichen Überheblichkeit und Abgehobenheit charakterisierte Willkür nun vorbei, in der es die politsch Machthabenden noch nicht einmal für nötig hieleten, für gerade die Allerärmsten un -schwächsten der Gesellschaft festzustellen, ob für sie überhaupt ein menschenwürdiges Leben gewährleistet ist, ob wenigstens ihr Existenzminimum tatsächlich gesichert ist.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/kongharald/3821492016/ (Harald Groven unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de)

Keine Grundsatzentscheidung gegen Hartz IV

Ich wäre froh, wenn die Entscheidung, wie es manche – wie ich denke in überschwinglicher Freude – eingeschätzt haben, ein Urteil gegen Hartz IV insgesamt dastellen würde. Aber das ist es nicht. Das Grundprinzip von Hartz IV wurde nicht in Frage gestellt, auch nicht das grundsätzliche Berechnungsverfahren, eben nur die Umsetzung.

Allerdings spielen bei solchen Entscheidungen immer politische und ethische Gesichtspunkte mit hinein, die man in der Tat nicht bloß rechtlich regeln kann. Da laut dem Urteil aber auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet werden muss, hätte man vielleicht doch die Festsetzung ein paar gewisser Mindeststandards erwarten können. Denn nur durch die Konkretisierung der Vorgaben der Verfassung, auch möglicherweise hinsichtlich gewisser Messwerte, überschreitet das BVerfG ja nicht seinen Aufgabenbereich oder seine Kompetenzen.

Wie geht es also weiter mit Hartz IV? Vielleicht gibt es ein Reset und vielleicht sogar einen schicken neuen Namen, wie es sich Zensursula vorstellt. Einen tatsächlichen anderen Charakter wird dieses aber dann kaum haben, geschweige denn, dass es viele Vorteile bringen wird, das wage ich hier einmal vorausszusagen.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/75936077@N00/693299811 (Andreas Skowronek unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/deed.de)

Was können wir für die Höhe der Leistungen erwarten?

Die Entscheidung wird voraussichtlich dafür sorgen, dass die derzeitigen Leistungen nicht noch weiter gesenkt werden können. Eine spürbare Erhöhung der Sätze, außer denen für Kinder (wo das Gericht sehr deutlich geworden ist, so dass man folgern kann, dass die jetzigen Leistungen offensichtlich nicht genügen und v. a. gröbst willkürlich sind), die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen dringend nötig wäre, kann man aus dem Urteil aber nicht ohne weiteres zu erwarten haben. Wie sorgfältig die Politik bei den neuen Regelungen vorgehen wird, ist auch nicht klar. Zumindest wird sie mit allen Mittel bemüht sein, dass der das dann “ermittelte” Existenzminimum im Bereich des jetzigen Quasi-Zufalls-Wertes liegt.

Denn das Urteil beinhaltet keine Rückwirkung. Eventuelle Ansprüche auf höhere Leistungen, da die jetzigen laut BVerfG bis 2011 ja verfassungswidrig sind, wird man nicht geltend machen können, auch wenn 2011 höhere (und dann verfassungsgemäße Sätze) beschlossen werden sollten. Sprich (wenn die Leistungen höher sein werden): alle Hartz IV-Empfänger, die sechs Jahre lang zu niedrige Leistungen bekommen haben , haben Pech gehabt. Begründet wird dies vom BVerfG u. a. mit dem Schutz der öffentlichen Haushalt. Fiskalpolitisch vielleicht noch nachzuvollziehen, fällt dies rechtlich da schon schwerer. Nur ein Punkt, an dem wirtschaftliche Erwägungen und juristische aufeinandertreffen. Aber die Folge der fehlenden Rückwirkung kann auch schon abgesehen werden: natürlich besteht jetzt die Gefahr, dass die Bundesregierung, zudem eine moralisch derart unbefleckte wie die jetzige, auch in Zukunft verfassungswidrige Gesetze zunächst erlassen wird. Falls sie dann vom BVerfG einkassiert werden sollten, hat man zumindest mehrere Jahre lang schon mal einiges sparen können.

Das Gericht hat außerdem festgelegt, dass man in Ausnahmefällen einen Rechtsanspruch auf Zusatzleistungen hat, um „besonderen Bedarf zu decken, wenn es im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist“, etwa im Falle von Krankheiten. Es war in der Tat einer der größten Skandale dieser Gesetzgebung, dass dies bisher nicht möglich war – und oft nur zynisch kommentiert wurde, man könne ja sparen oder einen Kredit aufnehmen, um sich etwa Medikamente kaufen zu können. Die ganze menschenverachtende Haltung der Macher dieser Politik tritt hier noch deutlicher als anderswo zu Tage.

Und die Menschenverachtung zeigt sich noch in einem anderen Aspekt: in der Praxis, Menschen mit dem Wegfall des Existenzminmums zu bedrohen und dieses an Arbeitspflicht zu binden. Sogar Kürzungen des Existenzminimums um 100%, also die absolute Streichung der zum Leben notwendigen Mittel, werden zur Zeit vollzogen. Folgt man den Buchstaben des Urteils, so wäre dies eigentlich ab 2011 nicht mehr möglich. Allerdings hat das Gericht nichts Konkretes zu den Sanktionen gesagt. Möglicherweise, so vermuten einige Kommentatoen, wird diese Frage also noch juristisch zu klären sein.

Welche politischen Chancen bieten sich?

Wer geglaubt hat, dass in einem umfassenden System wie der derzeitigen Ausgestaltung des Kapitalismus eine Instanz, die Teil dieses Systems ist, einen grundlegenden Richtungswechsel vorgeben wird, der hat dessen gesellschaftliche Totalität unterschätzt. Eine andere, eine gerechtere, sozialere und menschenwürdigere Gesellschaftsform muss meist erstritten werden gegen die Bewahrer des Status Quo.

Letzlich ist es eine Frage politischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, ob in einem Land mit einem so großen Reichtum wie dem unsrigen allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden soll – oder ob es für viele Menschen, wie die rechtskonservativen und neoliberalen Workfare-Vertreter wollen, so hart, so unangenehm, so unmenschlich wie möglich sein soll. Die harschen Reaktionen auf das Urteil dieser Seite zeigen, dass sie sich bereits angegriffen fühlt und sich nicht anders weiterzuhelfen weiß als mit wüsten Beschimpfungen und Diffamierungen, ja dass sie gar die allmählich die Fassung zu verlieren droht, und sich dadurch auch bei ihren Anhängern immer mehr diskreditiert.

Wenn einmal die Gelegenheit da ist, erfolgversprechend alternative Konzepte zum Neoliberalismus in den öffentlichen Diskurs einzubringen, wenn erstmals seit Jahren Hartz IV als ein wesentlicher Bestandteil der Umsetzung dieses Konzeptes in Deutschland sich einer grundlegenden Kritik unterziehen muss, und wenn gar die Möglichkeit bestehen sollte, einen grundlegenden gesellschaftlichen Stimmungswandel zu erreichen, dann sollte man diese nicht ungenutzt lassen. Und wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür, ob gewollt oder nicht, Ankünpfungspunkte bietet, dann sollte man diese wahrnehmen.

Lesenswerte Kommentare zum Thema:

Hartz-IV-Urteil aus Karlsruhe: Das Ende der Willkür (Zeit Online)

Nach dem ALG-II-Urteil (Telepolis)

Ein Armutszeugnis (Der Freitag)

[Dieser Beitrag ist auch beim binsenbrenner.de erschienen.]

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Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit

Der “Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union” wurde durch das Landgericht Berlin verboten, sich als “Gewerkschaft” oder “Basisgewerkschaft” zu bezeichnen. Dagegen finden heute und nächsten Sonntag um 18 Uhr  in Berlin Demos statt, am Dienstag gibt es eine Gerichtsverhandlung. In dieser geht es darum, ob es der FAU untersagt bleibt, zu einem Boykott gegen ein Berliner Kino aufzurufen.

Dies hatte die FAU getan, um dort einen Haustarifvertrag zu erkämpfen. Weil “Anarchisten keine Verhandlungspartner sind” hatte der Geschäftsführer diesen abgelehnt und war dann vor Gericht gezogen, das den Boykottaufruf für illegal erklärte. Das ist mit Sicherheit eine juristische Frage, die es hier nicht zu erörtern gilt. Das Gericht erklärte aber obendrein die FAU per einstweiliger Verfügung für „nicht tariffähig“ (was bisher noch nie in einem laufenden Arbeitskampf der Fall war und nach deutschem Arbeitsgerichtgesetz  in einem ordentlichen Hauptsacheverfahren geklärt werden muss) und erkannte ihr den Gewerkschaftsstatus ab (falls sie sich doch so bezeichnen, so ein weiteres Urteil, sind sie gar mit Haftstrafen bedroht). Die Begründung berief sich u. a. darauf, dass die FAU auf nationaler Ebene und in der Fläche nicht so viele Mitglieder hat, um Tarifverträge auf dieser Ebene durchzusetzen. Anhand dieser Begründung könnten in einigen Branchen zukünftig auch andere Gewerkschaften bedroht sein. (Mehr Informationen)

Die FAU ist eine anarcho-syndikalistische Vereinigung. Es ist aber eine Sache, wie man politisch zu einer Vereinigung steht, oder ob man sie als legitime Interessenvertretung anerkennt. Ich stehe persönlich sicherlich den “klassischen” Gewerkschaften (so sie denn eine sinnvolle Politik betreiben, etwa wie sie etwa das IMK empfiehlt) deutlich näher. Und die Ziele oder die Vorgehensweisen der FAU muss man sicher auch nicht unbedingt für sinnvoll halten. Das ist aber hier nicht das Thema: denn ein Angriff auf die Freiheit der Gewerkschaften, auf die Selbstorganisation der Arbeitenden ist in keinem Fall hinzunehmen.  Die Gewerkschaftsfreiheit ist aus guten Gründen im Grundgesetz und den Konventionen der ILO festgelegt. Es gilt hier also, Solidarität zu zeigen zwischen den Arbeitnehmern und in der politischen Linken und die Gewerkschaftsfreiheit zu verteidigen.

NACHTRAG:
Näheres zu dem Thema gibt es auch beim binsenbrenner.de und beim Spiegelfechter.

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Ein Sieg für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte

Die erfolgreiche Verhinderung der Nazi-Demo in Dresden hat gezeigt: wenn sie zusammenarbeiten und gemeinsam protestieren, können die Gegner des Rechtsextremismus, seien es radikale Linke oder Christdemokraten, Antifa oder Kirchen, verhindern, dass diese ihre menschenverachtende NS-Ideologie, ihren Rassismus und Antisemitismus, ihre Lügen und Geschichtsfälschungen, verbreiten können.

Bevor Dresden brannte, brannte Sempers Synagoge, brannten Warschau, Rotterdam und Coventry. Diese Wahrheiten müssen den Ewiggestrigen entgegengehalten werden. Dresden will sie nicht.
Helma Orosz, Oberbürgermeisterin Dresden

Der heutige Tag ist ein Sieg für alle, denen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte wiklich am Herzen liegen. Und die dies zeigen, indem sie dafür eintreten und dafür kämpfen. Denn sie sind keineswegs einfach so gewährleistet. Und die Verhinderung der Demo hat auch deutlich gemacht, dass Teile der Justiz und der exekutiven Behörden, die im Vorfeld allem Anschein nach eine Kriminalisierung jeglichen antifaschistischen Protests bestrebten und mit diversen Einschüchterungstaktiken dessen Unterbindung versuchten, nicht erfolgreich sein können, wenn genug Menschen bereit sind, tatsächlich für ihre Überzeugungen und jenseits legalistischer Formalia für moralische Werte einer Gesellschaft einzustehen.

Die Zivilgesellschaft wird man nicht kleinkriegen können, das sieht man an den mutigen Demonstranten, die trotz der Anschuldigung der angeblichen Illegalität und trotz der massiven Gefahren nach Dresden gekommen sind. Die Mittel ihres Protestes waren ebenso vielfältig und kreativ, wie sie auch allergrößtenteils friedlich waren: Gedenkveranstaltungen, Kundgebungen, Menschenketten, und freidliche Blockaden möglicher Demonstrationsrouten. Aber, auch das muss gesagt werden, auch der Polizei muss gedankt werden, dass sie es schaffte, Gewalttätigkeiten zum größen Teil einzudämmen und schließlich den braunen Marsch trotz offener Drohungen und gewalttätige Übergriffe der Neonazis zu unterbinden.

Doch der Kampf gegen den Rechtsextremismus darf sich nicht nur auf die Straße beschränken. Der Aufschwung der rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien in fast allen Ländern Europas in den letzten Jahren zeigt, dass wir uns keineswegs in Sicherheit wiegen dürfen. Auch bei uns existieren rassistische Vorurteile und rechtsextreme Meinungen und Einstellungen. Und auch die Relativierung rechtsextremer Gewalt, die regelmäßig Menschenleben fordert, etwa indem man sie mit linker Gewalt (also meist Sachbeschädigungen )gleichsetzt, indem man sie als “überschätzt” herunterspielt, kundtut, dies seien bloß “Hakenkreuzschmierereien” (oder sich, wenn man dem Bericht der Zeit glauben kann, im Fernsehen mit einem Neonazi “argumentativ die Bälle zugespielt” hat): und all das von einem Mitglied der Bundesregierung, und auch noch dem, das für die Bekämpfung des Rechtsextremismus zuständig ist (oder: sein sollte?). Wir dürfen auch davor nicht die Augen verschließen. Der äußerste rechte Rand darf keinen Einzug in den Mainstream einer Gesellschaft und eines Staates halten.

Denn es ist klar, wer die Opfer sein werden. Wenn Nazis von Freiheit reden, dann meinen sie Freiheit zum Hass und zur Lüge, wenn sie von Demokratie sprechen, dann meinen sie Autoritarismus und “Führertum”, und wenn sie einmal von Menschenrechten reden sollten, dann wollen sie diese nur für einen Teil der Menschen. Wir dürfen in der Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht nachlassen.

Auch erschienen beim binsenbrenner.de

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Nazi-Aufmarsch in Dresden verhindert

(Stand: 13. Februar 2010, 21:23 Uhr)

Der Nazi-Aufmarsch in Dresden heute wurde verhindert. Trotz vorheriger Hinderungs- und Kriminalisierungsversuche waren laut Schätzungen über 10.000 Menschen in der Stadt, um in dutzenden Gruppen, u .a. unter den Bündnissen “Dresden Nazifrei” und “No parasán!”, die europaweit größte Demonstration von (schätzungsweise 4.000-5.000) Rechtsextremisten mittels Menschenketten und friedlicher Straßenblockaden zu vehindern. Um etwa 15 Uhr wurde der Demonstrationszug der Nazis abgesagt, da die Polizei die Sicherheit nicht mehr gewährleisten konnte, es fand nur eine stationäre Kundgebung statt. Es gab Veranstaltungen und Gegenkundgebungen mit Politikern von der Linken bis zur CDU, u.a. auch Ministerpräsident Tillich, und Vertretern verschiedenster gesellschaftlichen Gruppen.

Eine umfassende Dokumentation der Ereignisse heute bieten der Live-Ticker der Taz und Twitter, auh z.B. unter @13Februar.
Berichte finden sich u. a. auch beim Spiegel, bei der Süddeutschen, bei der Zeit und bei der Frankfurter Rundschau. Während sich die konservativen Medien zwar mal nicht einig sind und beim Focus Anti-Nazi-Demonstranten zwangsweise links sind und bei Springer das Bürgertum darstellen, bewerten auch sie die Verhinderung der Nazi-Demonstration als eindeutigen Erfolg.

Während die anderen Medien übereinstimmend berichten, dass es gelegentliche Ausschreitungen von beiden Seiten gab, aber v.a., so lässt sich entnehmen, Gewalttaten der Nazis gegen Polizei und Gegendemonstranten und auch einen Angriff der Nazis auf ein alternatives Kulturzentrum mit mehreren Schwerverletzten, war auf Tagesschau.de bis 20:32 nur ein Bericht des MDR verlinkt, der den Eindruck erweckt, dass Nazis und “linskextreme” Gegendemonstranten gleichermaßen gewalttätig waren und erwähnt konkret (brennende) Blockaden (durch “Linsextremisten”), Angriffe auf Polizisten (unklar, durch wen: “Überschattet wurde das Gedenken von Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten der rechts- und linksextremen Szene. Wie die Polizei mitteilte, wurden auch Polizisten angegriffen.”) und Verletzungen (sagt aber nicht, durch wen). Nun ist dort auch ein Artikel, der berichtet, wie die Nazis der Polizei massiv drohten, mit Flaschen und Fahnenstangen warfen und die Gegendemonstranten v. a. friedlich blockierten. Die Tagesschau um 17:00 Uhr redete von Linken und zeigte rechte Autonome und hatte auch sonst einen merkwürdigen Tenor. In der von 20 Uhr werden neben “Zusammenstößen” nur Sachbeschädigungen seitens der Gegendemonstranten erwähnt. Heute.de spricht beim Nazi-Angriff auf das Kulturzentrum nur von “Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken” und von “mindestens 2.000 Gegendemonstranten”.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/ju-key/4353587295/ (Uwe Kaminski unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de)

UPDATE (22:59):

Noch ein guter Bericht der Taz.
Und auch die internationale Presse berichtet:  Washington Post (Reuters), New York Times (AP).

Quelle: http://www.flickr.com/photos/realname/4353966441/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

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Das rechte und das linke Auge

Ein paar Meldungen der letzten Tage und Wochen: wie sich Nazis durch die Dresdner Staatsanwaltschaft gestärkt fühlen, die “Schulhof-CD” der NPD nicht verboten wird und Programme gegen Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz überprüft werden sollen, womit sich der Europäische Polizeikongress so beschäftigt, gegen wen die Polizei nach einem Brandanschlag von Neonazis vorgeht und was Nazis, die versuchen, einen Menschen zu töten, so erwartet. Den einzigen Hoffnungsschimmer bilden die Urteile in den Fällen Yunus und Rigo (die angeblichen Molotwo-Cocktail-Werfer) und Jalloh (der Asylbewerber, der gefesselt in seiner Zelle verbrannt ist). Allerdings offenbaren sie ein vorheriges Verhalten von Polizei und Justiz, dass nicht vermuten ließe, dass wir in einem Rechtsstaat leben:

Dresden nazifrei:

Die Dresdner Staatsanwaltschaft räumt ein, dass sie die Polizei nicht anweisen durfte, gegen die Antinazidemo-Seite Dresden-nazifrei.de (jetzt zu finden unter Dresden-nazifrei.com)  vorzugehen. Aber: sie hält Blockadeaufruf weiter für strafbar, kann allerdings auch keine einzige Gerichtsentscheidung nennen, die diese Aufassung stützen würde. Neonazis sehen sich unterdessen durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in Dresden bestärkt. Und das Verwaltungsgericht Dresden sagt, die Beschränkung der Nazi-Demo (durch die Stadt Dresden) auf eine nur “stationäre” Kundgebung (nur ein bestimmter Versammlungsplatz) würde gegen die Versammlungsfreiheit verstoßen und “eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin” (das ist die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland) darstellen. Ja, wirklich, das habe ich mir nicht ausgedacht, so schreiben die das in ihrer Pressemitteilung. Wörtlich. “Eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin”.

Verteilen rechtsextremer CDs vor Schulhöfen erlaubt:

Wer kennt und liebt sie nicht, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)? Eine immer schon absolut kompetent arbeitende, nüchtern abwägende und nachvollziehbare Entscheidungen treffende Behörde! Wo wäre unsere Jugend ohne sie? Nun hat sie den Antrag des Landeskriminalamtes Niedersachsen abgelehnt, die CDs mit rechtsextremer Musik, mit denen die NPD etwa in der Nähe von Schulhöfen und Jugendclubs Jugendliche mit ihrer braunen Propaganda zu ködern versucht, auf den Index zu setzen. Experten halten die CD, auf der NS-Ideologie transportiert werde, oft für einen Einstieg in die rechtsextreme Szene. Die BPjM begründet ihre Entscheidung u.a. damit, dass auf der CD nicht zu Gewalt aufgerufen werde. Die Folge:

Für die Sicherheitsbehörden bedeutet diese Entscheidung eine Schwächung ihrer Position. Bisher war es stets gelungen, solche Verteilaktionen vor Schulhöfen mithilfe der Polizei zu stoppen. “Das könnte jetzt schwieriger werden”, sagte ein Sicherheitsexperte zu NDR Info. (NDR)

Verfassungsschutz soll Anti-Nazi-Projekte überprüfen:

Familienministerin Kristina Köhler will staatlich geförderte Projekte gegen Rechtsextremismus ideologisch und “auf ihre Verfassungstreue” überprüfen lassen. Und das soll nun auch, anders als früher, der Verfassungsschutz übernehmen. Die  SPD ist irritiert, die Grünen sprechen von “völlig unverhältnismäßiger Vorverurteilung” und beklagen, man stelle Anti-Nazi-Initiatien unter Generalverdacht, und die Linke geht noch weiter:

Sollte die Familienministerin tatsächlich solche Absichten haben, wäre dies völlig verantwortungslos, glaubt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Für sie ist diese “staatliche Anti-Antifa-Politik Wasser auf die Mühlen der Nazis” und stigmatisiere die gesellschaftlichen Initiativen gegen rechts. “Wer Nazis so ermutigt, darf mit Recht als geistige Brandstifterin bezeichnet werden”, betont Jelpke. (Taz)

Die Innenminister von Sachsen und Thüringen und die Hamburger Justizbehörde reagierten mit Unverständnis und wollen keine gesonderten Überprüfungen durchführen.

Europäischer Polizeikongress:

Themen dort waren: “zunehmender Alkoholkonsum”, “Integrationsprobleme von Migranten” sowie “falsche Toleranz gegenüber Linksautonomen”. Also nur die wirklich dringenden Probleme, die uns am meisten und am unmittelbarsten bedrohen! Und Volker Bouffier forderte dort, jeden Bus und jeden Zug verpflichtend mit privaten Sicherheitskräften auszustatten. Auch nett.

Nach Nazi-Brandanschlag: Großeinsätze gegen “Linksextremen-Aktion” geplant:

Nachdem ein Rechtsextremer einen Brandanschlag auf das Haus einer Brandenburger Bürgerinititaive gegen Neonazis in Zossen gestanden hat, hat ein Großaufgebot der Polizei gegen eine angekündigte Aktion von Linksextremisten “Flagge gezeigt”, so steht auf der Homepage von Berlin. Ein überaus logisches und konsequentes Vorgehen! Nur habe sich kein einziger “Angehöriger der Linksextremen” sehen lassen, schließt die Mitteilung.

Prozess gegen vier Rechtsextreme:

Laut Anklageschrift sollen die Männer im Alter von 20 bis 26 Jahren versucht haben, den 22-jährigen Jonas K. mit einem so genannten Bordsteinkick zu töten um dem “vermeintlichen politischen Gegner” ihre Macht zu demonstrieren. (…)

Den Richtern zufolge trat allerdings der Hauptangeklagte, Oliver K., weiter, bis die Polizei ihn wegzerrte. K. habe die klare Absicht gehabt, sein Opfer zu töten. Noch eine Stunde nach der Tat sagte er: “Der Kopf hätte auf dem Bordstein liegen müssen – und dann wumm.” (Taz)

Das Urteil: Einer wird zu 5 1/2 Jahren Haft, zwei zu Bewährungsstrafen verurteilt, einer freigesprochen. Ein absolut nachvollziehbares Urteil, liegen die Strafen doch etwa im Bereich dessen, was man für das Anzünden eines Autos erwarten kann (s.u.). Was, das ist nicht richtig, dass in Deutschland Delikte gegen Sachen und Eigentumsdelikte tendenziell härter bestraft werden als Gewalttätigkeiten gegen Personen? Na, wo wäre unser gesellschaftliches System denn sonst? Das Gericht bleibt mit diesem Urteil hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurückt.  Wieso das? Antwort: weil es davon ausgeht, dass das Opfer angefangen habe. Ohne Worte. Und erstaunlicherweise sieht das Gericht die rechtsextreme Einstellung der Täter nicht als Hauptmotivation. Warum? Antwort: der Ausspruch “du Zecke stehst nicht mehr auf” kann keinem der Angeklagten konkret angelastet werden.

“Molotow-Cocktail-Prozess”:

Die Berliner Schüler Yunus und Rigo, die beschuldigt worden waren, am 1. Mai 2009 einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen zu haben, wurden freigesprochen.  Ein Blick auf die Hintergründe des Verfahrens offenbart jedoch Vorgänge, für die die Bezeichnung haarsträubend stark verharmlosend wäre. Zwei Polizisten wollen die beiden beim Wurf gesehen haben – aber keine Gesichter, nur ihre Kleidung. Objektive Beweise gibt es nicht, laut einer Untersuchung etwa auch keine Benzinspuren auf ihrer Kleidung. Zeugen, die die Täter gesehen hatten, schlossen Yunus und Rigo aus, und Fotos von der Tätergruppe zeigten eine Person, aber keinen der beiden. Dennoch blieben sie 230 Tage in Untersuchungshaft – da es, laut Richterin Petra Müller, an der Glaubwürdigkeit der Polizisten keine ernsthaften Zweifel gebe. Erst als eine Verteidigerin Anzeige gegen die Person auf dem Foto stellt, ermittelt die Polizei. Bei Hausdurchsuchungen, zu denen die Identifikation des Fotografierten durch einen Polizisten geführt hat, finden sie Fotos, auf denen eine Person mit einem Benzinkanister posiert, und dann sogar noch einen solchen Benzinkanister im Bettkasten. Jetzt sollte die Sache eigentlich klar sein, denkt man. Doch jetzt kommt der Hammer: beschlagnahmt wird der Kanister jedoch nicht.

Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Yunus, hat eine ganz dezidierte Meinung zu dem Verfahren:

Eine Verurteilung der Anklagten sei angestrebt worden. “Das war zielgerichtet und systematisch, dafür war jedes Mittel recht. Das kann man nur mit politischen Interessen erklären”, so von Klinggräff. Werner Throniker, Personalratschef des Berliner LKAs, mag das nicht glauben. “Natürlich werden bestimmte Straftaten immer mal wieder abstrakt zum Politikum, aber bei den konkreten Ermittlungen spielt das keine Rolle”, so Throniker. Dennoch scheint es ein aufgeregtes Interesse zu geben, endlich Zeichen gegen linke Krawallakte zu setzen. Gab es vor Jahren für Autozündler noch Bewährungsstrafen, so wurde zuletzt ein 34-Jähriger, der einen VW Golf abgefackelt hatte, zu 3 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Strafverteidiger Peter Zuriel weist auch im Fall von Yunus und Rigo darauf hin, dass mit der Anklage des versuchten Mordes ein Brandsatzwurf – anders als in Vorjahren – deutlich “hochgewertet” worden sei. Es sei bedenklich, so Zuriels Kollege Peer Stolle, “dass sich die Justiz scheinbar politischem Druck beugt”. (Taz)

Fall Jalloh muss neu aufgerollt werden:

Der Bundesgerichtshof entschied, dass das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau im Fall des gefesselt in seiner Zelle verbrannten Oury Jalloh (Freispruch von zwei Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge) zahlreiche Lücken aufweise. Nun muss neu vor dem Landgericht Magdeburg verhandelt werden.

Oury Jalloh, Asylbewerber aus Sierra Leone, war am 7. Januar 2005 in betrunkenem Zustand von der Polizei verhaftet worden, weil sich Frauen der Stadtreinigung von ihm belästigt fühlten. Weil er sich gewehrt haben soll, wird er in eine Zelle gesperrt und an Händen und Füßen fixiert. Um 12 Uhr meldet sich der Rauchmelder. Laut Gutachter erst zweieinhalb Minuten später geht der Dienstgruppenleiter ohne einen Feuerlöscher zu der Zelle. Als er die Tür öffnet, schlagen ihm Rauchschwaden ins Gesicht. Er betritt er die Zelle nicht. Jalloh ist an seine Liege gefesselt in der Gewahrsamszelle verbrannt. Er soll nach Darstellung der Polizei das Feuer selbst ausgelöst haben, und er soll nicht geschrien haben. Eine Obduktion ergibt, dass sein Nasenbein gebrochen war. Das Landgericht Dessau-Roßlau urteilte, den beiden Polizisten könne kein Fehlverhalten und keine Mitschuld am Tod Oury Jallohs nachgewiesen werden. Menschenrechtsgruppen und Opferverbände sprachen von schlampigen Ermittlungen, Lügen und Vertuschungen seitens der Polizei.

Marco Steckel, Berater der Dessauer Opferberatungsstelle, kritisiert den seiner Meinung nach völlig inakzeptablen Umgang der Polizei in Sachsen-Anhalt mit dem Tod des Asylbewerbers.  So habe die Aufarbeitung des Falls bei Polizei und Stadt bis auf die Ankündigung de facto noch immer nicht begonnen. Zudem traten laut Steckel Belege für “rassistische Denkstrukturen” bei der Polizei von Sachsen-Anhalt zutage. Dazu gehören abfällige Bemerkungen über Afrikaner in öffentlich gewordenen Telefonmitschnitten. Auf Empörung sogar beim Innenministerium stieß die Äußerung “Schwarze brennen eben mal Länger” eines leitenden Polizeibeamten in Halle. All dies lege den Schluss nahe, sagt Steckel, “wer so denkt, handelt auch so”.

Selbst der Dessauer Richter Manfred Steinhoff hatte bei seinem Urteilsspruch Ende 2008 festgestellt, dass das, was im Prozess von vielen Polizisten im Zeugenstand “geboten” worden sei, mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun habe. Für Gössner ist klar: Der Verdacht, dass es sich um einen Fall oder ein Zeichen für “institutionellen Rassismus” handele, sei nicht von der Hand zu weisen. (Deutsche Welle)

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Was der Mensch braucht

Eine empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten von Lutz Hausstein (Stand: Januar 2010)

Vorbemerkungen:

Mit der Einführung der aktuellen Sozialgesetzgebung durch die rot-grüne Regierungskoalition im Jahr 2005 entstand in breiten Teilen der Bevölkerung massiver Widerstand dagegen, der sich sowohl gegen grundsätzliche Annahmen in diesen Gesetzen wie auch gegen eine Vielzahl einzelner Inhalte und Bestandteile richtete. Dieser zu Beginn noch in der Öffentlichkeit ausgetragene Widerstand, auch in Form größerer Demonstrationen in mehreren Städten, ebbte im Laufe der Zeit spürbar ab. Dies dürfte in nicht unerheblichen Teilen auf die konsequent „aussitzende“ Haltung der Politik zurückzuführen sein, der der öffentliche Widerstand scheinbar machtlos ausgeliefert war und noch heute ist.

Die nachfolgende empirische Analyse befasst sich explizit mit den Inhalten und der Höhe einer sozialen Mindestsicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Grundlagen betreffen alle hier wohnhaften Personen – Arbeitslose, geringfügig Beschäftigte, prekär Beschäftigte, Migranten, Rentner oder weitere betroffene Bevölkerungsgruppen. All diese müssen auch unter den Verhältnissen in der Bundesrepublik ihr Dasein gestalten und benötigen dafür auch die entsprechenden materiellen Voraussetzungen.

Angrenzende Inhalte wie Sanktionierungen als auch deren rechtliche Grundlagen, Ein-Euro-Jobs, die Praxis der sogenannten Bedarfsgemeinschaften und weitere kritisierte Bestandteile, bleiben hierbei unbetrachtet. Die Betrachtung möglicher Einschränkungen bzgl. Art.11, Art.12, Art.13 GG sowie der Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen bedürfen einer separaten Untersuchung. Leitgegenstand dieser Untersuchung ist ausschließlich die Frage:

Wieviel braucht ein Mensch in der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt zum Leben und damit zur Wahrung seiner grundgesetzlichen Rechte nach Art.1, Art.2 sowie Art.3?“

Grundlagen der Berechnung:

Mehrfach wurde der Gesetzgeber in den vergangenen 5 Jahren an verschiedenen Stellen durch unterschiedliche Gerichte zu vereinzelten Abänderungen der Gesetze, jedoch nur kosmetischer Natur, gezwungen. Die eigentlichen Ursachen des Widerstands in der Bevölkerung spiegeln diese Marginalien aber nicht wider und beseitigen sie demzufolge auch nicht. Einer der Punkte der massiven Kritik ist die Höhe der zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel, welche den von diesen Gesetzen Betroffenen ihre grundgesetzlichen Rechte und damit die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben garantieren sollen. Dies wird schon allein dadurch dokumentiert, dass der Regelsatz (inkl. der als „angemessen“ bezeichneten Kosten für Unterkunft) in seiner Höhe unter allen, verschieden definierten, Grenzen für Armut liegt.

Das regelmäßig angeführte Argument des Lohnabstandsgebotes sowie ähnlich intendierte Vergleiche zwischen Beziehern von Niedriglöhnen und Sozialleistungsbeziehern ist hierbei grundsätzlich abzulehnen, da eine verfehlte gesellschaftliche Verteilungsfunktion nicht zur Grundlage für die Festlegung von Sozialleistungen sein kann. Basis für diese Feststellung bietet u.a. der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, welcher einerseits seit Jahren stark zunehmende Konzentration sowohl von Vermögen wie auch von Einkommen auf der einen Seite als auch eine Abnahme derselben bzw. gar einen Aufbau von Verschuldung auf der anderen Seite dokumentiert. Gelegentlich publizierte Thesen des Selbst-Verschuldens bzw. des unwirtschaftlichen Handelns der Betroffenen sind durch keinerlei Fakten belegt und müssen deshalb mit aller Nachdrücklichkeit zurückgewiesen werden. Ebenso ist eine häufig vorgeworfene falsche Prioritätensetzung durch die Regelsatz-Empfänger aufgrund des Kaufes von zur Lebensführung unnötiger Güter zu verwerfen. Dies widerspricht selbst elementaren allgemeingültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Die aktuelle Berechnung des Regelsatzes durch den Gesetzgeber ist, wie vielfach bemängelt, in vielen Einzelpositionen völlig intransparent. Es muss jedoch schon die strukturelle Herangehensweise bei dessen Ermittlung in Frage gestellt werden. Die Zugrundelegung des Konsumverhaltens anderer Bevölkerungsteile mag zwar einen Fingerzeig auf generelles Konsumverhalten geben, zur Ermittlung eines Grundbedarfs, erst recht durch Einberechnung von pauschalen prozentualen Abzügen, ist es vollständig ungeeignet. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Einkommenshöhe einer Bevölkerungsgruppe, die möglicherweise selbst zu wenig zum Leben hat, den Maßstab für eine andere Gruppe legen sollte. Nur der Aufbau eines eindeutig festgelegten Warenkorbes, welcher in seinen Inhalten, Mengen und zugrunde gelegten Preisen in vollem Maße der praktischen Realität entspricht, kann das im Grundgesetz verbürgte Recht garantieren. Dabei muss vollständig gewährt sein, dass allen Betroffenen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand und regionalem Wohnort, Genüge getan wird, da es sich bei diesem Wert um einen Mindeststandard handelt, der unter keinen Umständen unterschritten werden darf. Andernfalls würden damit grundlegende Menschenrechte verletzt.

Grundannahmen:

Im Folgenden wird anhand einer praktischen Untersuchung versucht, einen realitätsnahen Wert für die Höhe einer sozialen Mindestsicherung zu ermitteln. Dem wird ein an praktischen Bedürfnissen orientiert gebildeter Warenkorb, fußend auf den Rechten der physischen Existenzsicherung sowie grundlegenden Anteilen zu einer soziokulturellen Teilhabe, zugrunde gelegt. Die Mengen und Preise wurden durch empirische Untersuchungen, umfangreiche Recherchen als auch Befragungen vergleichbarer Haushalte ermittelt.

Dabei wurde von den folgenden Bedingungen ausgegangen:

  1. Die Ermittlung des Bedarfs erfolgt auf der Grundlage einer erwachsenen, gesunden Person. Der Bedarf von kranken Hilfeempfängern bzw. auch von Kindern ist separat zu berechnen und kann auch nicht mittels einer pauschalierten prozentualen Minderung oder Erhöhung korrekt ermittelt werden. Denn diese Personenkreise besitzen einen Bedarf, der in vielen Punkten grundsätzlich von dem eines gesunden Erwachsenen abweicht. So wird man einerseits mit einem prozentual verminderten Bedarf für Kinder an Anzügen, Tabakwaren, Alkohol oder Hausratversicherungen keineswegs gerecht, andererseits ist der höhere Bedarf für Spielwaren, Bekleidung, Lernmittel ebenfalls nicht pauschaliert, erst recht nicht mit prozentualen Abzügen, errechenbar.
  2. Die zugrunde gelegten Güter und Leistungen basieren auf einer Analyse eines Ein-Personen-Haushaltes mit den im Grundgesetz sowie der Sozialgesetzgebung korrespondierenden Notwendigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung bezüglich materieller Existenz und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
  3. Die jeweiligen Mengen wurden durch eine Eigenuntersuchung sowie Befragungen weiterer Personen unter Beachtung der Kriterien des Punktes (1) ermittelt.
  4. Alle Preise unterliegen einer generell sehr starken Schwankungsbreite. Diese sind regional, teils saisonal, jedoch auch anbieterspezifisch bedingt. Saisonalen Schwankungen wurde mit einer Mittelwert-Lösung Rechnung getragen. Regionale Besonderheiten sollten erfahrungsgemäß innerhalb eines Korridors von unter 10 Prozent liegen, einzelne Güter, wie z.B. Personennahverkehr, Stromkosten, ausgenommen. Auch aus diesen Gründen wurden keine absoluten Tiefstpreise zugrunde gelegt, sondern sich im unterem Segment befindliche Preise.
  5. Die Verwendung des fiktiven „homo oeconomicus“, welcher über eine vollständige, allumfassende Marktkenntnis verfügt und darüber hinaus in der Lage wäre, diese Kenntnisse durch den Kauf eines einzelnen Produktes am jeweilig preisgünstigsten Standort zu realisieren, ist absurd. Sowohl Informationsdefizite als auch logistische Unmöglichkeiten stehen dieser Annahme grundsätzlich entgegen. Auch aus diesem Grund werden in der nachfolgenden Untersuchung keine absoluten Minimalpreise in Anwendung gebracht, sondern Preise im unteren Segment.
  6. Es wurde generell auf die Nutzung von Gebrauchtartikeln verzichtet, da diese aufgrund ihrer Eigenschaften eine verkürzte Nutzungsdauer aufweisen und es somit zu einer schnelleren Neuanschaffung führen würde. Desweiteren legt eine „Mindestsicherung“ zugrunde, dass jeder Einzelne des betroffenen Personenkreises auf diese Produkte Zugriff haben muss. Dies ist jedoch in einer Vielzahl von Fällen, z.B. für Bewohner ländlicher Regionen, nicht zu gewährleisten.
  7. Derselbe Grund führte dazu, dass Sonderangebote keine Berücksichtigung finden können. Diese regelmäßig lokalen und temporär gültigen Ermäßigungen erlauben es einem Großteil der Hilfeempfänger nicht, auf diese zurückzugreifen.
  8. Mit einem Preis eines Produktes korrespondiert regelmäßig dessen Qualität und Nutzungsdauer sowie auch dessen wirtschaftliche und, bei elektrischen Geräten, energetische Effizienz. Bei der Berechnung, insbesondere langlebiger Wirtschaftsgüter als auch technischer Produkte, wurde somit eine durchschnittliche qualitätsabhängige Produktnutzungsdauer zugrunde gelegt.
  9. Eine pauschalierte Zugrundelegung eines 30-Tage-Monats, wie aktuell praktiziert, ist realitätsfern. Die nachfolgende Berechnung basiert auf einem 31-Tage-Monat. Es wird empfohlen, den jeweiligen Monatsbetrag der entsprechenden Tagesanzahl anzupassen.
  10. Einzelne Produkte mit extrem kleine Mengen bzw. sehr geringwertige Güter wurden z.T. zu Gruppen zusammengefasst und mit einem monatlichen Pauschalwert berücksichtigt.

Bedarfsermittlung:


(Abb. 1: Bedarf Nahrungs- und Genussmittel)


(Abb. 2: Bedarf Hygiene, Reinigung, Gesundheit)


(Abb. 3: Bedarf Bekleidung)


(Abb. 4: Bedarf Einrichtungsgegenstände)


(Abb. 5: Bedarf elektrische Haushaltsgeräte)


(Abb. 6: Bedarf Gebrauchsgüter)


(Abb. 7: Bedarf Bildung, Kommunikation, Freizeit, Mobilität)


(Abb. 8: Bedarf Sonstiges)

Erläuterungen einzelner Positionen:

Reis, Kartoffeln, Eierteigwaren:

Diese Nahrungsmittel für Hauptmahlzeiten ergänzen sich additiv auf die zugrunde gelegte Tagesanzahl des Monats. Gleiches gilt für alle weiteren Substitutionsgüter.

Obst und Gemüse:

Obst und Gemüse unterliegen einer besonders starken saisonalen Preisdynamik. Aus diesen Gründen wurde ein unterer Mittelwert aus Hochpreis- und Tiefpreis-Saison als Grundlage der Berechnung herangezogen.

Alkoholika, Tabakwaren:

Die generelle Nutzung von Alkoholika sowie Tabakwaren entspricht dem gesellschaftlich anerkannten Verhalten. Diesem wurde mit einer, wenn auch geringen, Menge Rechnung getragen.

Zusatzbeitrag Krankenversicherung:

Die vor kurzem durch die Bundesregierung zugelassene und inzwischen auch durch einige Kassen angekündigte Erhebung zusätzlicher Krankenkassenbeiträge in Höhe von maximal 8 Euro ist bei dieser Berechnung zwingend zu berücksichtigen.

Waschmaschine:

Eine Waschmaschine im Wert von 200 Euro ist im untersten Preisbereich angesiedelt. Die durchschnittliche Nutzungsdauer eines solchen Gerätes beträgt erfahrungsgemäß 4 Jahre.

Computer, Monitor, Drucker:

Ein Computer gehört heutzutage in fast allen Haushalten zur technischen Grundausstattung. Er stellt die Basis für verschiedenartigste Kommunikationsmöglichkeiten dar und ist ebenso für Arbeitssuchende notwendiges Mittel zur Beschäftigungssuche.

Transportpauschale:

Der Kauf größerer Einrichtungsgegenstände wie auch elektrischer Geräte erfolgt im obigen Zusammenhang i.d.R. als Ersatzinvestition und somit zeitnah zum Zeitpunkt des Defektes. Eine Zusammenlegung von Käufen mehrerer Produkte ist damit nur eingeschränkt möglich. Diesem wurde mit der Zugrundelegung von 1 Transportpauschale beim Kauf von 3 diesbezüglichen Produkten berücksichtigt unter Zugrundelegung einer jeweiligen Lebensdauer von 8 Jahren für das entsprechende Produkt.

Geschirr:

Geschirr unterliegt sowohl einer häufigkeitsbedingten Abnutzung sowie auch Bruch. Diese Umstände wurden durch die durchschnittliche Nutzungsdauer eines 6-teiligen Services von 3 Jahren berücksichtigt.

Telefonanschluss, -gebühren, Internetanschluss, -gebühren:

Ein zum derzeitigen Preis von 29,99 Euro/Monat erhältliches Telefon-/DSL-Paket unterbietet den Preis für einen herkömmlichen Telefonanschluss zzgl. eines Internetanschlusses. Aus diesem Grund wurde auf diese Variante zurückgegriffen.

Mitgliedsbeitrag Sportverein:

Die Mitgliedschaft in einem Sportverein bietet sowohl die Möglichkeit für soziokulturelle Kontakte als auch die Möglichkeit zur Gesunderhaltung des Körpers. Mit einem Beitrag von 10 Euro monatlich werden Mitgliedschaften in nichtpreisintensiven Sportarten befördert. Mitgliedschaften exklusiverer Sportarten liegen regelmäßig beträchtlich über diesem Betrag.

Monatskarte Nahverkehr:

Monatskarten für den Nahverkehr werden in der Bundesrepublik in einer sehr großen Preisspanne angeboten. Aus diesem Grund ist es unmöglich, einen allgemeingültigen Betrag zugrunde zu legen. Es wurde sich deshalb am Betrag eines in einigen Städten erhältlichen Sozialtickets orientiert. Sofern keine anderweitigen Regelungen getroffen werden, ist dringend geboten, deutschlandweit einheitliche Regelungen zu schaffen, um allen Betroffenen eine ausreichende Mobilität zu gewährleisten.

Reparaturen:

Die Nutzungsdauer langlebiger Wirtschaftsgüter und technischer Produkte kann signifikant verlängert werden, wenn bei Bedarf notwendige Reparaturen durchgeführt werden können. Mit dieser Pauschale soll diesem Rechnung getragen werden.

Strom:

Bei einem Single-Haushalt wird in der Literatur häufig ein Stromverbrauch von 1.800 KWh zugrunde gelegt. Dabei wird jedoch davon ausgegangen, dass sich die betreffende Person nur einen geringen Teil des Tages in der Wohnung befindet. Die Lebenssituation von Hilfeempfängern ist jedoch signifikant anders. Dies wird mit dem leicht erhöhten Stromverbrauch von 2.000 KWh beachtet.

Privat-Haftpflicht- sowie Hausrat-Versicherung:

Häufige Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrages ist das Vorhandensein einer Hausrat-Versicherung. Darüber hinaus kann ein Nichtbestehen beider Versicherungen von geradezu existentieller Bedeutung für die finanzschwachen Hilfeempfänger sein.

Eigenanteil Wohnungsinstandhaltung:

Regelmäßiger Bestandteil von Mietverträgen sind Eigenanteile von 75 Euro/Jahr für Instandhaltung sowie Reparaturen defekter Geräte oder Gebrauchsgegenstände. Dieses gilt es zu berücksichtigen.

Auswertung:

Abb. 9: Gegenüberstellung aktueller Gesamtbedarf / aktueller Regelsatz)

Diese empirische Untersuchung förderte mit einem aktuellen Bedarf von 684,68 Euro eine eklatante Unterdeckung beim derzeitigen Regelsatz von 359 Euro zutage.


(Abb. 10: Gegenüberstellung Betrag einer Mindestsicherung/aktueller Regelsatz)

Den umfangreichsten Ausgabeblock mit über einem Drittel bildet hierbei zur physischen Existenzsicherung der Bereich der „Nahrungs- und Genussmittel“. Der umfassende Komplex „Bildung, Kommunikation, Freizeit, Mobilität“ stellt mit rund einem Viertel der Ausgaben den zweitgrößten Bereich dar. Dies ist nicht unmaßgeblich auf die im Verhältnis hohen Kosten für Mobilität zurückzuführen. Die im Bereich „Sonstiges“ zusammengefassten weiteren Kosten sind mit rund 15 Prozent der drittgrößte Ausgabeblock, welches sich zu großen Teilen auf den vom Hilfeempfänger nur wenig beeinflussbaren hohen Kosten für Strom ableitet.


(Abb. 11: Anteile der sozialen Mindestsicherung)

Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Kategorien fällt ins Auge, dass die gesamten 359 Euro des aktuell seit 01.07.2009 gültigen Regelsatzes schon allein durch die Maßnahmen zur unmittelbaren Existenzsicherung mehr als nur ausgeschöpft sind. Hierbei überschreitet die Summe der Lebensmittel (ohne Genussmittel), Hygiene, Reinigung und Gesundheit sowie vertraglich zu zahlende Beträge (Tageszeitung, Telefon-, Internetgebühren, Mitgliedschaft Sportverein, Strom, Hausrat- und Privathaftpflicht-Versicherung, Wohnungsinstandhaltung, Warmwasseraufbereitung), welche als nichtabwendbar angesehen werden müssen, den derzeitigen Regelsatz im Ganzen.

(Abb. 12: Gegenüberstellung: reale unabweisbare Kosten / aktueller Regelsatz)


Bewertung:

Dieser eklatante Widerspruch zwischen dem Anspruch einer sozialen Mindestsicherung und der tatsächlichen Realität mit seinem derzeitigen Niveau macht es unerlässlich, eine Wertung des ermittelten Datenmaterials vorzunehmen.

Dieses Ergebnis löst natürlich eine Vielzahl von Fragen aus. Wie konnten die Betroffenen, in Anbetracht dieser krassen Dissonanz zwischen dem eigentlich Notwendigen und dem tatsächlich Gezahlten, in den vergangenen 5 Jahren diese Differenz überbrücken? Die Antwort darauf dürfte vielfältig sein und sicherlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Einige dürften sich mit gelegentlichen aperiodischen zulässigen Hinzuverdiensten die Gelegenheit geschaffen haben, ein Polster anzulegen, von welchem sie zu anderen Zeiten wieder zehren konnten. Einige wenige haben vermutlich ebenso mit nichtlegalen Tätigkeiten ihr Einkommen aufgebessert, um auf dieser Art und Weise die ihnen eigentlich verbürgten Teilhaberechte wahrnehmen zu können, welche ihnen jedoch aufgrund des erheblich zu niedrig bemessenen Regelsatzes verwehrt wurden. Deren Anteil liegt jedoch, entgegen den von verschiedenen Medien und Politikern verbreiteten, nichtbelegten Zahlen, nicht bei 30 Prozent, sondern laut einer Studie des Diakonischen Werkes zwischen 2 und 3 Prozent.

Die absolut überwiegende Mehrheit hingegen wird nach Wegen gesucht haben, ihre Ausgaben weiter zu reduzieren, um so mit dem ihnen zur Verfügung stehendem Geld über den Monat zu kommen. Dies konnte sich angesichts der extremen Unterdeckung nicht nur in der, erzwungenen, Aufgabe sämtlicher Freizeitaktivitäten wie Kino, Theater, Vereinsmitgliedschaften u.ä. erschöpfen, sondern notwendige Ansparungen für altersmüde oder defekte elektrische Gerätschaften als auch marode Einrichtungsgegenstände mussten so unterbleiben. Bekleidung konnte nicht gekauft werden, sodass die Betroffenen ihre alte und abgetragene Kleidung noch weiterhin nutzen mussten. Dies führte gleichzeitig zu Schamgefühlen und einem daraus resultierenden vollständigen Rückzug in den privaten Bereich.

Ein nicht zu unterschätzender Anteil der Beziehenden ist weiter in den Schuldenkreislauf hineingerutscht, indem die Streckung bzw. sogar die Nichtzahlung von ratierlichen Tilgungen von Kleinkrediten für Haushaltsgeräte und Bekleidung etwa bei großen Versandhäusern die einzige Lösung war, um das alltägliche Auskommen zu sichern. Nicht selten sind sogenannte Offenbarungseide und Privatinsolvenzen die einzige Rettung und in sogenannten Bedarfsgemeinschaften danach die Fortsetzung der Verschuldung auf Name des Lebenspartners, die einen weiteren Zyklus der Verschuldung einläutet.

Selbst Einschränkungen im elementarsten Lebensbereich, der Ernährung, sind bekannt. Auch unter der Voraussetzung, dass in der Regel Eltern lieber selbst hungern, nur um ihre Kinder ernähren zu können, führte dies in einigen Fällen dazu, dass die Eltern nicht mehr in der Lage waren, ihren Kindern Geld für die Schulspeisung oder nur ein Pausenbrot mitzugeben. Angesichts dieser Fakten ist es umso verwerflicher, wenn diesen Eltern seitens einiger Meinungsführer vorgeworfen wurde, sie würden ihre Kinder vernachlässigen. So machte man aus den Opfern einer völlig unzureichenden finanziellen Ausstattung nun Täter als „verantwortungs- und gewissenlose“ Eltern.

Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren, nach der Einführung der aktuellen Sozialgesetzgebung, eine Reihe von Suiziden von Hilfeempfängern, deren Ursachen unleugbar in den unwürdigen Lebensumständen sowie den praktischen Umsetzungen der örtlichen ARGEN lagen. Dies wurde jedoch zu keiner Zeit medial thematisiert und gelangte somit auch nicht ins öffentliche Bewusstsein.

Schlussfolgerungen:

Der aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragene Rechtsstreit über die Höhe des Regelsatzes, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche, steht als Ergebnis eines vor Jahren, noch vor der offiziellen Einführung der beklagten Gesetze, alle Instanzen durchlaufenden Prozesses. Selbst unter der Annahme, dass das BVG der Klage stattgibt, bleibt zu konstatieren, dass aufgrund der durch diesen „Weg durch die Instanzen“ verstrichenen Zeit den Betroffenen eine sehr lange, wertvolle Lebenszeit genommen wurde, welche im Nachhinein in dieser Form nicht wieder herstellbar wird.

Aus diesen Gründen sind folgende Maßnahmen zwingend erforderlich:

  1. Sofortige Neuermittlung der Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis eine Warenkorbes, der den Anforderungen des Grundgesetzes, unter der Beachtung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, gerecht wird
  2. Sofortige Erstellung einer ergänzenden Studie zur Rechtmäßigkeit der aktuellen Sozialgesetzgebung zu den eingangs erwähnten Problematiken
  3. Sofortige rückwirkende Erstattung aller zu Unrecht einbehaltenen Beträge, unabhängig von der Stellung einzelner Widersprüche und/oder Überprüfungsanträge der betroffenen Hilfeempfänger (rechtswidrige Ablehnungen dieser Widersprüche/Überprüfungsanträge werden damit ebenfalls hinfällig)
  4. Zeitnahe Neuschaffung einer neuen Sozialgesetzgebung, welche den ermittelten Problemen der aktuellen umfassend Rechnung trägt
  5. Abkehr von der Praxis der Willkür bei Bedarfsermittlungen und Erstattungen sowie eine stärker auf den Mindestbedarfssinn ausgerichtete Richtlinienverordnung, nach der die Mitarbeiter der ARGEn deutlicher zur ökonomischen anstatt zur moralisierenden Hilfestellung gehalten sind

Abschließend kann festgestellt werden, dass die vorschnelle Umstellung des ursprünglichen Sozialhilfemodells nach 2005 zu keiner Verbesserung sowohl der Lebensumstände der Betroffenen als auch zu einer Effektivierung des Arbeitsmarktes beigetragen hat, sondern eher zu einer flächendeckenden Unzufriedenheit und derben Schicksalsschlägen geführt hat, welche ihrerseits wiederum die Ursache für weitreichende infrastrukturell-soziale Komplikationen darstellen und wahrscheinlich auf lange Sicht nachwirken. Allein etwa die Tatsache, dass es heute fast gewöhnlich erscheint, dass Menschen unter 25 Jahren bei ihren Eltern campieren müssen, obwohl sozialpsychologisch völlig klar ist, dass damit deren soziale Kompetenz folgenschwer eingeschränkt wird, mag dazu anregen, den sozialpolitischen Überblick infrage zu stellen.

Angesichts der Ergebnisse dieser Analyse sowie ihrer notwendigen Bewertung und der festgestellten mehrfachen Verstöße gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland besteht für die verantwortlichen und handelnden Politiker, sowohl in der Regierung als auch der Opposition, die sofortige Verpflichtung, diese schweren Zuwiderhandlungen in Ihrer Gänze zu beseitigen. Dabei sollten sie nie aus den Augen verlieren, dass all ihre Bestrebungen nur einem einzigen Ziel zu folgen haben: DEM WOHL EINES JEDEN MENSCHEN.

Lutz Hausstein

Leipzig, Januar 2010

[Vielen Dank an Lutz Hausstein für diese überaus aufschlussreiche Untersuchung! Und vielen Dank an Frank Benedikt!

Guardian of the Blind]

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Ist die Linke verfassungsfeindlich?

Das Bundesverfassungsgericht beschrieb 1952 die freiheitliche demokratische Grundordnung  folgendermaßen:

„Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ist der Schutz dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung, daneben der Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. (Und auch Vertreter der Extremismustheorie und ihr Nahestehende behaupten ja gerne, dass bei ihnen Extremismus lediglich eine Einstellung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bedeute.) Nun sehen das aber leider manche der dort Arbeitenden offensichtlich als nicht ausreichend an:

„Wer die Linken als naive Spinner sieht, unterschätzt sie. Denn das, was sie sagen und wollen, ist mit den Werten des Grundgesetzes nicht vereinbar“,

so der der stellvertretende Leiter des Landesverfassungsschutzamtes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Freier im Focus. Nein, nicht nur naive Spinner sind bei der Linken – “das ist ja schon mal klar!” oder wie – es gibt auch Hinweise für den Verdacht auf linksextremistische Bestrebungen, und gar solche, dass die Linken die freiheitliche demokratische Grundordnung durch eine andere Ordnung ersetzen wollten. Harter Tobak, in der Tat. Ist die Linke etwa für Gewalt, gegen die Menschenrechte? Für eine Willkürherrschaft, gegen den Rechtsstaat? Gegen Freiheit, Gleichheit oder Demokratie? Was meint Freier?

Dazu gehöre die Forderung nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die ablehnende Haltung zu Privateigentum. Verstaatlichen ohne Entschädigen sei grundgesetzwidrig.

Eine, sagen wir mal, mindestens eigenwillige Rechtsauffassung. Das BVerfG spricht zwar nirgendwo explizit von Privateigentumsrechten, doch schauen wir einfach mal ins Grundgesetz. Das Recht auf Eigentum als Grundrecht ist dort in Artikel 14 folgendermaßen spezifiziert:

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Und wie steht nun die Linke in Nordrhein-Westfalen zu dem Ganzen?

Zu (1): Die Linke spricht sich offensichtlich nicht gegen das Eigentum im Allgemeinen aus, sondern nur gegen das an bestimmten Produktionsmitteln, nämlich den wichtigsten Schlüsselindustrien. Eine Schranke, die allgemein durch Gesetze festgelegt werden kann.

Zu (2): Hier kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die Linke die Bestimmung des Grundgesetzes ernster nimmt, als es derzeit alle anderen Parteien tun.

Zu (3): Was sagt die Linke hier genau? In ihren “Positionen zur Landespolitik” schreibt sie (S. 8f.):

Wir streben die Kontrolle von Schlüsselbereichen der Wirtschaft durch die öffentliche Hand an. „Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten“ (Artikel 27 der NRW-Landesverfassung). Wir lehnen die Privatisierungspolitik von Bund, Land und Kommunen ab und fordern die Rückführung des bereits Privatisierten in öffentliches Eigentum. Das Eigentum der Kommunen und des Landes an Wohnungen sind zu erhalten, Wasser-und Stadtwerke sind zu rekommunalisieren und die wirtschaftslenkende Rolle der öffentlichen Hand ist wieder auszubauen.

Im Bereich der Schlüsselindustrien gibt es in der Tat viele Möglichkeiten der Argumentation, dass diese dem Wohle der Allgemeinheit dienen würde, sowohl in sozialer (öffentliche Daseinsfürsorge, gemeinwohlorientierte Nutzung, Versorgung der Bevölkerung, Sozialstaatsgebot) wie in wirtschaftlicher (Auflösung von privaten Monopolen, weniger Ressourcenverschwendung, Vorteile dadurch, dass Gewinne reinvestiert werden oder der Gesellschaft zu Gute kommen, statt in private Geldbeutel oder Spekulationen zu fließen) Hinsicht. Natürlich kann man solche Argumentationen ablehnen, etwa die Priorität bei der wirtschaftlicher Freiheit vor egalitären Prinzipien sehen, auf Kostensenkungen durch den Wettbewerb von privaten Anbietern, Effektivitätssteigerungen, stärkere Flexibilität und technische Erneuerungsfähigkeit hinweisen. Dies sind aber politische und ökonomische Erwägungen und Debatten, keine rechtlichen. Zudem waren politische Meinungen wie die, dass Wasser- und Stadtwerke in öffentlicher Hand sein sollten und der Staat eine lenkende Rolle in der Wirtschaft haben soll, mindestens bis zur neoliberalen Wende 1982 sozusagen Mainstream in der deutschen Politik. Also wären etwa auch Helmut Schmidt, Heiner Geißler oder gar Helmut Kohl (denn ich glaube, selbst er wäre dafür, dass der Staat die Wasserversorgung übernimmt) gefährliche Linksextremisten.

Wie sieht es mit der Entschädigung aus? In der Tat, diese wird hier nicht angesprochen. Aber: die Überführung in öffentliches/ Gemeineigentum, mit der zweifelsohne Enteignungen einhergehen, darf ja laut den Buchstaben des Grundgesetzes “nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt”. Selbst wenn man der Linken unterstellen wollte, sie wolle enteignen, ohne zu entschädigen, dürfte sie dies gar nicht. Und dass sie dies, also gegen die Verfassung verstoßen, wolle, soll Freier doch mal zeigen. Dies wäre für die Linke ja nicht nur politisch ein Harakiri-Unternehmen, sondern schlicht illegal. Und egal, als wie “naive Spinner” manche sie ansehen mögen – so “naiv”, so dumm, so, ja man muss es sagen, verrückt, sind sie sicher nicht.

Also, man muss die wirtschaftlichen Vorstellungen der Linken nicht teilen, man kann sie politisch oder wirtschaftlich ablehnen, man kann sie als unvernünftig, gar als gefährlich bezeichnen.  Was sie jedoch wohl kaum sind: gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen die Verfassung gerichtet. Die wirtschaftsliberale und neokonservative Seite sollte einer politischen Diskussion aber nicht ausweichen, weil sie vielleicht für sie unangenehm werden könnte und indem sie andere politische Meinungen als extremistisch zu deklarieren versucht, wenn sie es nicht sind. Der Verfassungsschutz NRW aber will die Partei Die Linke “intensiv beobachten”.

NACHTRAG: Natürlich sei hier auch noch Artikel 15 GG erwähnt:

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Dieser Artikel ist auch auf binsenbrenner.de erschienen.

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Rot-rot-grün auf Bundesebene: die einzige Chance für eine sozialere Politik

Politiker aus SPD, Grünen und der Linken gründen heute eine linken Think Tank namens “Institut Solidarische Moderne” (ISM), der politische Konzepte als Gegenentwuf zum Neoliberalismus erarbeiten soll. Es sollen verschiedenste politische und gesellschaftliche Gebiete behandelt und dabei auch stärker als traditionell in der politischen Linken ökologische Themen sowie Kritik an der Wachstumsideologie miteinbezogen werden. Das Institut soll dbaei unabhängig von parteitaktischen Erwägungen diskutieren. Mitglieder sind bspw. Andrea Ypsilanti, Hermann Scheer, Sven Giegold und Katja Kipping.

Vor ein paar Tagen hatte bereits eine Gruppe von jungen Bundestagsabgeordneten einen Aufruf für eine Debatte  über ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene 2013 gestartet, für die man Konzepte erarbeiten und inhaltliche Gemeinsamkeiten austarieren möchte. Die Presse hat diese “Oslo-Initiative” – mit Anlehung an die rot-rot-grüne Regierung in Norwegen – getauf. Und das würde ja beileibe nicht gegen diese Koalition sprechen. 🙂

Ich muss sagen, dass ich diese Initiativen ausdrücklich unterstütze. Nur eine rot-rot-grüne Koalition wäre gewollt und  hat meiner Ansicht nach die Möglichkeit, in Deutschland wieder eine soziale und eine ökologisch nachhaltige Politik durchzusetzen, die den Sozialstaat bewahrt und die wirtschaftlich sinnvoll ist.

Wenn dort Politiker, die explizit ein soziales Profil vertreten (und die zudem durch die Parteipolitik und allem was dazugehört nicht völlig verdorben sind, wie Scheer, Giegold oder Kipping – man kann die negativen Seiten der Parteiendemokratie ja  auch bekämpfen, indem gute Ideen, die durch fähige Personen vertreten werden, die Parteien verändern) dabei sind, dann kann das meines Erachtens nur positiv sein, v.a. auch für die politischen Umsetzungsmöglichkeiten der erarbeiteten Vorschläge.

Sehr gut finde ich inbesonders, dass dort sehr kompetente kritische Wissenschaftler mitarbeiten. Denn es ist notwendig, den von den Mainstream-Medien hoffierten und verbreiteten neoliberalenPropagandainstrumten und Arbeitgeberlobbyisten-Think Tanks wie INSM oder Bertelsmann u.v.a. fundierte, wissenschaftlich unetrmauerte Alternativen entgegenzusetzen.

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