Das rechte und das linke Auge

Ein paar Meldungen der letzten Tage und Wochen: wie sich Nazis durch die Dresdner Staatsanwaltschaft gestärkt fühlen, die “Schulhof-CD” der NPD nicht verboten wird und Programme gegen Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz überprüft werden sollen, womit sich der Europäische Polizeikongress so beschäftigt, gegen wen die Polizei nach einem Brandanschlag von Neonazis vorgeht und was Nazis, die versuchen, einen Menschen zu töten, so erwartet. Den einzigen Hoffnungsschimmer bilden die Urteile in den Fällen Yunus und Rigo (die angeblichen Molotwo-Cocktail-Werfer) und Jalloh (der Asylbewerber, der gefesselt in seiner Zelle verbrannt ist). Allerdings offenbaren sie ein vorheriges Verhalten von Polizei und Justiz, dass nicht vermuten ließe, dass wir in einem Rechtsstaat leben:

Dresden nazifrei:

Die Dresdner Staatsanwaltschaft räumt ein, dass sie die Polizei nicht anweisen durfte, gegen die Antinazidemo-Seite Dresden-nazifrei.de (jetzt zu finden unter Dresden-nazifrei.com)  vorzugehen. Aber: sie hält Blockadeaufruf weiter für strafbar, kann allerdings auch keine einzige Gerichtsentscheidung nennen, die diese Aufassung stützen würde. Neonazis sehen sich unterdessen durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in Dresden bestärkt. Und das Verwaltungsgericht Dresden sagt, die Beschränkung der Nazi-Demo (durch die Stadt Dresden) auf eine nur “stationäre” Kundgebung (nur ein bestimmter Versammlungsplatz) würde gegen die Versammlungsfreiheit verstoßen und “eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin” (das ist die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland) darstellen. Ja, wirklich, das habe ich mir nicht ausgedacht, so schreiben die das in ihrer Pressemitteilung. Wörtlich. “Eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des inhaltllichen Anliegens der Anmelderin”.

Verteilen rechtsextremer CDs vor Schulhöfen erlaubt:

Wer kennt und liebt sie nicht, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)? Eine immer schon absolut kompetent arbeitende, nüchtern abwägende und nachvollziehbare Entscheidungen treffende Behörde! Wo wäre unsere Jugend ohne sie? Nun hat sie den Antrag des Landeskriminalamtes Niedersachsen abgelehnt, die CDs mit rechtsextremer Musik, mit denen die NPD etwa in der Nähe von Schulhöfen und Jugendclubs Jugendliche mit ihrer braunen Propaganda zu ködern versucht, auf den Index zu setzen. Experten halten die CD, auf der NS-Ideologie transportiert werde, oft für einen Einstieg in die rechtsextreme Szene. Die BPjM begründet ihre Entscheidung u.a. damit, dass auf der CD nicht zu Gewalt aufgerufen werde. Die Folge:

Für die Sicherheitsbehörden bedeutet diese Entscheidung eine Schwächung ihrer Position. Bisher war es stets gelungen, solche Verteilaktionen vor Schulhöfen mithilfe der Polizei zu stoppen. “Das könnte jetzt schwieriger werden”, sagte ein Sicherheitsexperte zu NDR Info. (NDR)

Verfassungsschutz soll Anti-Nazi-Projekte überprüfen:

Familienministerin Kristina Köhler will staatlich geförderte Projekte gegen Rechtsextremismus ideologisch und “auf ihre Verfassungstreue” überprüfen lassen. Und das soll nun auch, anders als früher, der Verfassungsschutz übernehmen. Die  SPD ist irritiert, die Grünen sprechen von “völlig unverhältnismäßiger Vorverurteilung” und beklagen, man stelle Anti-Nazi-Initiatien unter Generalverdacht, und die Linke geht noch weiter:

Sollte die Familienministerin tatsächlich solche Absichten haben, wäre dies völlig verantwortungslos, glaubt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Für sie ist diese “staatliche Anti-Antifa-Politik Wasser auf die Mühlen der Nazis” und stigmatisiere die gesellschaftlichen Initiativen gegen rechts. “Wer Nazis so ermutigt, darf mit Recht als geistige Brandstifterin bezeichnet werden”, betont Jelpke. (Taz)

Die Innenminister von Sachsen und Thüringen und die Hamburger Justizbehörde reagierten mit Unverständnis und wollen keine gesonderten Überprüfungen durchführen.

Europäischer Polizeikongress:

Themen dort waren: “zunehmender Alkoholkonsum”, “Integrationsprobleme von Migranten” sowie “falsche Toleranz gegenüber Linksautonomen”. Also nur die wirklich dringenden Probleme, die uns am meisten und am unmittelbarsten bedrohen! Und Volker Bouffier forderte dort, jeden Bus und jeden Zug verpflichtend mit privaten Sicherheitskräften auszustatten. Auch nett.

Nach Nazi-Brandanschlag: Großeinsätze gegen “Linksextremen-Aktion” geplant:

Nachdem ein Rechtsextremer einen Brandanschlag auf das Haus einer Brandenburger Bürgerinititaive gegen Neonazis in Zossen gestanden hat, hat ein Großaufgebot der Polizei gegen eine angekündigte Aktion von Linksextremisten “Flagge gezeigt”, so steht auf der Homepage von Berlin. Ein überaus logisches und konsequentes Vorgehen! Nur habe sich kein einziger “Angehöriger der Linksextremen” sehen lassen, schließt die Mitteilung.

Prozess gegen vier Rechtsextreme:

Laut Anklageschrift sollen die Männer im Alter von 20 bis 26 Jahren versucht haben, den 22-jährigen Jonas K. mit einem so genannten Bordsteinkick zu töten um dem “vermeintlichen politischen Gegner” ihre Macht zu demonstrieren. (…)

Den Richtern zufolge trat allerdings der Hauptangeklagte, Oliver K., weiter, bis die Polizei ihn wegzerrte. K. habe die klare Absicht gehabt, sein Opfer zu töten. Noch eine Stunde nach der Tat sagte er: “Der Kopf hätte auf dem Bordstein liegen müssen – und dann wumm.” (Taz)

Das Urteil: Einer wird zu 5 1/2 Jahren Haft, zwei zu Bewährungsstrafen verurteilt, einer freigesprochen. Ein absolut nachvollziehbares Urteil, liegen die Strafen doch etwa im Bereich dessen, was man für das Anzünden eines Autos erwarten kann (s.u.). Was, das ist nicht richtig, dass in Deutschland Delikte gegen Sachen und Eigentumsdelikte tendenziell härter bestraft werden als Gewalttätigkeiten gegen Personen? Na, wo wäre unser gesellschaftliches System denn sonst? Das Gericht bleibt mit diesem Urteil hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurückt.  Wieso das? Antwort: weil es davon ausgeht, dass das Opfer angefangen habe. Ohne Worte. Und erstaunlicherweise sieht das Gericht die rechtsextreme Einstellung der Täter nicht als Hauptmotivation. Warum? Antwort: der Ausspruch “du Zecke stehst nicht mehr auf” kann keinem der Angeklagten konkret angelastet werden.

“Molotow-Cocktail-Prozess”:

Die Berliner Schüler Yunus und Rigo, die beschuldigt worden waren, am 1. Mai 2009 einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen zu haben, wurden freigesprochen.  Ein Blick auf die Hintergründe des Verfahrens offenbart jedoch Vorgänge, für die die Bezeichnung haarsträubend stark verharmlosend wäre. Zwei Polizisten wollen die beiden beim Wurf gesehen haben – aber keine Gesichter, nur ihre Kleidung. Objektive Beweise gibt es nicht, laut einer Untersuchung etwa auch keine Benzinspuren auf ihrer Kleidung. Zeugen, die die Täter gesehen hatten, schlossen Yunus und Rigo aus, und Fotos von der Tätergruppe zeigten eine Person, aber keinen der beiden. Dennoch blieben sie 230 Tage in Untersuchungshaft – da es, laut Richterin Petra Müller, an der Glaubwürdigkeit der Polizisten keine ernsthaften Zweifel gebe. Erst als eine Verteidigerin Anzeige gegen die Person auf dem Foto stellt, ermittelt die Polizei. Bei Hausdurchsuchungen, zu denen die Identifikation des Fotografierten durch einen Polizisten geführt hat, finden sie Fotos, auf denen eine Person mit einem Benzinkanister posiert, und dann sogar noch einen solchen Benzinkanister im Bettkasten. Jetzt sollte die Sache eigentlich klar sein, denkt man. Doch jetzt kommt der Hammer: beschlagnahmt wird der Kanister jedoch nicht.

Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Yunus, hat eine ganz dezidierte Meinung zu dem Verfahren:

Eine Verurteilung der Anklagten sei angestrebt worden. “Das war zielgerichtet und systematisch, dafür war jedes Mittel recht. Das kann man nur mit politischen Interessen erklären”, so von Klinggräff. Werner Throniker, Personalratschef des Berliner LKAs, mag das nicht glauben. “Natürlich werden bestimmte Straftaten immer mal wieder abstrakt zum Politikum, aber bei den konkreten Ermittlungen spielt das keine Rolle”, so Throniker. Dennoch scheint es ein aufgeregtes Interesse zu geben, endlich Zeichen gegen linke Krawallakte zu setzen. Gab es vor Jahren für Autozündler noch Bewährungsstrafen, so wurde zuletzt ein 34-Jähriger, der einen VW Golf abgefackelt hatte, zu 3 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Strafverteidiger Peter Zuriel weist auch im Fall von Yunus und Rigo darauf hin, dass mit der Anklage des versuchten Mordes ein Brandsatzwurf – anders als in Vorjahren – deutlich “hochgewertet” worden sei. Es sei bedenklich, so Zuriels Kollege Peer Stolle, “dass sich die Justiz scheinbar politischem Druck beugt”. (Taz)

Fall Jalloh muss neu aufgerollt werden:

Der Bundesgerichtshof entschied, dass das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau im Fall des gefesselt in seiner Zelle verbrannten Oury Jalloh (Freispruch von zwei Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge) zahlreiche Lücken aufweise. Nun muss neu vor dem Landgericht Magdeburg verhandelt werden.

Oury Jalloh, Asylbewerber aus Sierra Leone, war am 7. Januar 2005 in betrunkenem Zustand von der Polizei verhaftet worden, weil sich Frauen der Stadtreinigung von ihm belästigt fühlten. Weil er sich gewehrt haben soll, wird er in eine Zelle gesperrt und an Händen und Füßen fixiert. Um 12 Uhr meldet sich der Rauchmelder. Laut Gutachter erst zweieinhalb Minuten später geht der Dienstgruppenleiter ohne einen Feuerlöscher zu der Zelle. Als er die Tür öffnet, schlagen ihm Rauchschwaden ins Gesicht. Er betritt er die Zelle nicht. Jalloh ist an seine Liege gefesselt in der Gewahrsamszelle verbrannt. Er soll nach Darstellung der Polizei das Feuer selbst ausgelöst haben, und er soll nicht geschrien haben. Eine Obduktion ergibt, dass sein Nasenbein gebrochen war. Das Landgericht Dessau-Roßlau urteilte, den beiden Polizisten könne kein Fehlverhalten und keine Mitschuld am Tod Oury Jallohs nachgewiesen werden. Menschenrechtsgruppen und Opferverbände sprachen von schlampigen Ermittlungen, Lügen und Vertuschungen seitens der Polizei.

Marco Steckel, Berater der Dessauer Opferberatungsstelle, kritisiert den seiner Meinung nach völlig inakzeptablen Umgang der Polizei in Sachsen-Anhalt mit dem Tod des Asylbewerbers.  So habe die Aufarbeitung des Falls bei Polizei und Stadt bis auf die Ankündigung de facto noch immer nicht begonnen. Zudem traten laut Steckel Belege für “rassistische Denkstrukturen” bei der Polizei von Sachsen-Anhalt zutage. Dazu gehören abfällige Bemerkungen über Afrikaner in öffentlich gewordenen Telefonmitschnitten. Auf Empörung sogar beim Innenministerium stieß die Äußerung “Schwarze brennen eben mal Länger” eines leitenden Polizeibeamten in Halle. All dies lege den Schluss nahe, sagt Steckel, “wer so denkt, handelt auch so”.

Selbst der Dessauer Richter Manfred Steinhoff hatte bei seinem Urteilsspruch Ende 2008 festgestellt, dass das, was im Prozess von vielen Polizisten im Zeugenstand “geboten” worden sei, mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun habe. Für Gössner ist klar: Der Verdacht, dass es sich um einen Fall oder ein Zeichen für “institutionellen Rassismus” handele, sei nicht von der Hand zu weisen. (Deutsche Welle)

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Soll der Kampf gegen den Rechtsextremismus kriminalisiert werden? (UPDATE)

Tausende Exemplare dieses Plakats wurden beschlagnahmt

“Gemeinsam blockieren”, heißt es auf den Protest-Plakaten gegen den größten Naziaufmarsch Europas in Dresden am 13. Februar. Darunter die Logos von Grünen, Attac, Piratenpartei, der Linken, Gewerkschaften und anderen Gruppen. Doch was für Nazi-Gegner eine Selbstverständlichkeit ist, klingt nach Ansicht der Sicherheitsbehörden nach einem Aufruf zu Straftaten. Am Dienstagmittag durchsuchten die Polizei daraufhin in Dresden die Landesgeschäftsstelle der Partei die Linke, in Berlin traf es ein Ladengeschäft linker Gruppen. Tausende Plakate, Flyer und Sticker wurden beschlagnahmt. Aber auch Computer nahmen die Beamten mit.

“Die Polizei möchte offenbar unseren Protest im Keim ersticken. Das wird ihr aber nicht gelingen – im Gegenteil. Stattdessen werden die Behörden der Öffentlichkeit erklären müssen, warum ihnen der reibungslose Ablauf des größten Neonazi-Aufmarschs so am Herzen liegt”, sagte Lena Roth, Sprecherin des Bündnisses.

Der ganze Beitrag: Zeit Online Störungsmelder: Polizei geht gegen Dresden-Plakat vor

Der Kampf gegen den Rechtsextremismus, für Freiheit, Toleranz und Demokratie wird kriminalisiert? Sollten die öffentlichen Stellen und die staatliche Gewalt diesen nicht so gut sie können unterstützen, sollten sie nicht die Courage fördern, gegen den menschenverachtenden Faschismus und Rassismus auf die Straße zu gehen? Stattdessen werden die Organisatoren (aus juristisch höchst zweifelhaften Gründen) mit Repressalien überzogen.

Achja, die neue Bundesfamilienministerin Kristina Köhler hat ja “erkannt”, dass die wahren Gefahren ganz woanders herkommen – nämlich von linksextremistischer und islamistischer Gewalt (vor nicht allzu langer Zeit sprach sie auch von angeblicher deutschenfeindlicher Gewalt von Ausländern in Deutschland) und weitet die Programme gegen Rechtsextremismus dementsprechend aus, trotz der Warnungen von unterschiedlichsten Seiten, dass sie damit Rechts- und Linksextremismus gleichsetzt (Michael Sommer), die beschämende Zahl der Todesopfer rechtextremistischer Gewalt vergisst (Claudia Roth) und aus ideologischen Gründen die Gefahren durch Rechtsextremismus unterschätzt (SPD-Innenexperte Sebastian Edathy). Die innenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion Ulla Jelpke sagte, die Bundesregierung wolle kapitalismuskritisches und antifaschistisches Gedankengut ächten. Stellt Dresden dafür den Anfang dar? (20. Januar 2010)

UPDATE (23. Januar 2010):

Man geht  nun offensichtlich in die nächste Runde: nachdem Jugendliche und sogar Bundestagsabgeordnete, die die Plakate aufhängten, verhaftet wurden, hat nun das LKA Sachsen dem Provider der Internetseite Dresden-Nazifrei.de eine Verfügung zugestellt, die die Abschaltung der Seite fordert, da über diese angeblich zu Straftaten aufgerufen werde. Damit meinen sie den Mut zu zivilem Ungehorsam, sich Nazis in den Weg zu stellen. Doch ist fraglich, ob sie ihr Ziel erreichen, diesen zu kriminalisieren, mit Razzien, Verhaftungen und Verboten immer mehr ein Klima der Angst vor Zivilcourage zu schaffen, wo man irgendwann gar nicht mehr auf Demonstrationen geht, wo Blockaden Gewalt sind und man gleich in den Verdacht gerät, linksextremer Terrorist zu sein, nur weil man gegen Rechtsextreme demonstriert – oder sie nicht in Wahrheit eine noch größere Mobilisierung verursachen.

Und wer immer noch der Meinung ist, dass die Verbeitung von Rassimus und Antisemitismus, die Bekämpfung von Freiheit und Menschenrechten irgendetwas mit Meingsfreiheit zu tun hat, dem sei dieser Artikel empfohlen: Nazis und die Meinungsfreiheit.

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Eingesperrt ohne Verdacht – der deutsche Rechtsstaat 2009?

Juli Zeh und Rainer Stadler schreiben im Süddeutsche Zeitung Magazin über den Fall eines marrokanischen Studenten, der während des Oktoberfestes ohne Verdacht inhaftiert wurde. Dieser Bericht zeigt wiedermal, wie weit die Bürgerrechte in Deutschland schon mit Hilfe einer Terror-Panik abgebaut wurden und wie weit die fundamentalsten Grundsätze des Rechtsstaats missachtet, umgedreht oder pervertiert werden:

Um ihren massiven Eingriff zu rechtfertigen, gibt sich die Polizei alle Mühe, Samir als höchst gefährlich erscheinen zu lassen. Seine Freunde heißen in dem Observationsbericht »Kontakt- und Vertrauenspersonen«; sein Bekanntenkreis ist ein »Geflecht«. Dass er sich in der Moschee mehrmals mit einem Bekannten unterhielt und beide das Gebäude »jeweils getrennt voneinander« verließen, wird als verdächtig eingestuft; ebenso wie der Umstand, dass Samir sich von der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden belästigt fühlte. »Der Betroffene zeigte sich äußerst misstrauisch« und »versuchte, seine Verfolger abzuschütteln«. Weil Samir sich nicht in aller Ruhe von Unbekannten fotografieren und verfolgen ließ, schließen die Ermittler daraus, dass er »Freiraum für Aktivitäten gewinnen« wollte. Die Tatsache, dass Samir vor seiner Festnahme zweimal bei der Polizei anrief, um Hilfe gegen seine Verfolger zu erbitten, fehlt in dem Bericht.

Doch auch die Richterin hat sich das präventive Prognose-Denken zu eigen gemacht: In ihrem Beschluss wiederholt sie, was die Polizei zu Samirs angeblichen Kontakten zur Islamisten-Szene vorgebracht hat. Und schreibt: »Weitere Kontakte können nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden.« (…) Schließlich heißt es in dem Beschluss: »An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« Auf den Präventivstaat angewendet bedeutet dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ist das Szenario für einen Anschlag nur verheerend genug, haben die Sicherheitsbehörden weitgehend freie Hand.

Noch mehr haarsträubende Details zu den angeblichen “Verdachtsmomenten” in diesem Fall gibt es auch beim Stern unter “Angst vor einem Anschlag: Vorsorglicher Terrorverdacht”:

(…) waren Ermittler des bayerischen Staatsschutzes. Sie hatten den Mann seit längerem im Visier und dabei offenbar nicht mehr festgestellt, als dass er bis zum Mai dieses Jahres Kontakt zu einer Person hatte, die irgendwann im Jahr 2003 einmal Kontakte zu Bekkay Harrach hatte. Jenem Islamisten, der kurz vor der Bundestagswahl per Video zum Dschihad gegen Deutschland aufrief und seit 2007 im Verdacht steht, Kontakte zu Osama bin Laden zu haben.

Als Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee “ständig seine Umgebung geprüft”. Außerdem habe die “Zielperson” bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen “mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln”. Möglicherweise, so wird spekuliert, um “Freiraum für Aktivitäten” zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.

Glaubt man den Staatsschützern, dann gibt es in dieser Hinsicht nur vage Anhaltspunkte. So traf sich Hatem M. – der Mann, der zusammen mit Marouane S. in Gewahrsam genommen wurde – im Jahr 2003 in Bonn mit Bekkay Harrach. Und obwohl die Ermittler ausdrücklich erklären, dass es keinerlei Belege dafür gibt, dass auch Marouane S. den Islamisten Bekkay Harrach jemals getroffen hat, heißt es aus dem Münchner Polizeipräsidium überraschend, Marouane S. könnte sich durch die Terror-Videos seines “Freundes” Bekkay Harrach angesprochen fühlen und sie quasi als eine “persönliche Botschaft an sich” sehen. Die Ermittlungsrichterin geht sogar noch weiter. Trotz der gegenteiligen Aussage der Staatsschützer erklärt sie, “der Betroffene pflegte in der Vergangenheit Kontakt zu dem Verfasser der Videos und zwar über Hatem M.”.

Ein Student sieht sich – zu Recht – von den Handlangern des Überwachungsstaates verfolgt, wendet sich sogar an die Polizei – und gilt als terrorverdächtig? Weil er Muslim ist? Und deshalb fühlt er sich von Drohvideos, die jemand, den er nicht kennt, ins Internet gestellt hat, angestachelt als eine “persönliche Botschaft an sich”? Tun das vielleicht auch alle Muslime? Und wenn die Verdachtsanforderungen schrumpfen, je mehr die Größe der Gefahr wächst: He, die Terroristen könnten ja vielleicht Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen erlangen und einen Atomkrieg entfachen. Wie konkret müssten da die “Verdachtsmomente” sein? Vielleicht, dass jemand aus dem selben Land wie ein Terrorist kommt? Könnte man die nicht auch alle präventiv wegsperren?

Kein fassbarer Verdacht, allerhöchstens noch Indizien, die einen Verdacht vielleicht irgendwann einmal möglich machen könnten, solche Verdachtsanforderungen, die mit den Hinweis auf eine angebliche Terrorgefahr gerade mal in homöopathischer, also selbst für einen Experten wohl kaum wahrnehmbarer Höhe –  man könnte auch von einem Nichtvorhandensein sprechen –  liegen sollen, eine Beweislastumkehr – dies sind Vorgänge, für die in einem Rechtsstaat kein Platz ist. Stattet man Positionen in einer Gesellschaft mit Autoritätsrechten aus – v. a., wenn diese das Gewaltmonopol des Staates oder die Rechtssprechung ist – so benötigen die Personen, die diese ausfüllen, eine wirksame Kontrolle, damit diese nicht ausgenutzt und ausgehöhlt werden.

Und dieser Fall ist bei weitem kein Einzelfall – schaut nur mal bei annalist vorbei. All dies kann so gut wie jeden treffen. Die normalsten Handlungen können plötzlich “terrorverdächtig” sein oder einen “Terrorverdacht” “nahelegen”, wenn die Öffentlichkeit ersteinmal genug mit ständigen Terrorwarnungen bearbeitet ist. Wie real diese Gefahr ist, ist dabei unerheblich – wichtig ist, für wie real sie die Bevölkerung hält. Diese Gefahr wird in der veröffentlichten Darstellung niemals abnehmen – hat sich eine Warnung nicht als gerechtfertigt erwiesen, folgt reflexartig der Verweis, dass die Gefahr jedoch keineswegs veschwunden ist, nicht einmal kleiner geworden ist sie – sie besteht weiterhin und wird regelmäßig erneuert. Dass ist die Gesellschaft der Verängstigung und der Einschüchterung, die die Neokonservativen sich immer gewünscht haben, um die von ihnen ersehnte Stärkung der “Sicherheits”- und Überwachungsmaßnahmen zu verwiklichen und eine Stimmung zu erzeugen, in denen in anderen demokratischen Rechtsstaaten unrechtmäßige Verhaftungen und Gefängnisse, sogar die Anwendung von Folter durchgeführt, geduldet und unterstützt wird – alles im Dienste der Sicherheit vor der allseits und allerzeit bestehenden Gefahr. Die harte, autoritäre Hand des Staates, law und order – wobei man es mit dem existierenden law nicht immer so genau nehmen muss, wenn man es eigentlich verteidigen sollte.

Dies zeigt wieder mal umso mehr, wie sehr unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Demokratie verteidigt werden müssen gegen die, die ihn abbauen und einschränken wollen – auch unter dem Vorwand, ihn zu schützen.

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