Von Zensursula zu Cencilia

Netzsperren: Auf ein Neues!

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström hat einen Richtlinienplan vorgestellt, in dem u.a. auch Internetsperren gegen Kinderpornografie vorgesehen sind. Die Rhetorik und die Unredlichkeit der Argumentation sind ähnlich wie bei der Zensursula-Debatte und auch längst widerlegte Argumente der Zensursbefürworter werden recycelt. Die Vorschläge gehen dabei noch weiter als die vor der Bundestagswahl von Zensursula von der Leyen.

Während aber hier Wolfgang Schäuble indirekt zugegeben hatte, dass es sich bei den damaligen Plänen von Zensursula von der Leyen auch um ein Wahlkampfmanöver handelte, können derartige Motive diesmal nicht angenommen werden. Vielmehr scheinen tatsächlich der Aufbau einer Zensurinfrastruktur im Vordergrund zu stehen – zur Linie der EU-Kommission, zumal seit dem Lissabonvertrag, passt dies allemal. In der EU herrschen schon länger neokonservative Parteien und Einstellungen vor. Liberale Positionen git es meist nur noch in der Wirtschaftspolitik, wo grenzenlose Privatisierungen wie ein Götze verehrt werden. Auf dem Gebiet der Bürgerrechte hingegen macht es keinen großen Unterschied, ob sich die Parteien konservativ oder liberal nennen (oder sich selbst einer “Sozialdemokratie ” der “neuen Mitte” zurechnen). Das gilt auch für Cecilia Malmström, auch bereits als “Cencilia” oder “Censilia” bezeichnet. Denn ein genauerer Blick auf ihre politischen Tätigkeiten lässt sie schnell als Schönwetterliberale erscheinen.

Foto: AK Zensur / Lizenz: CC-BY

Wer ist Cencilia?

Vor ihrer Tätigkeit in der EU-Kommission galt Cecilia Malmström durchaus als große EU-Befürworterin, fiel aber in Europa zunächst eher mit ein paar Aktiönchen wie einer Initiative für Brüssel als einzigen Sitz des Europa-Parlaments auf. Sie trieb dann aber mit der konservativ-liberalen schwedischen Regierung  den Lissabon-Vertrag voran, besonders nach dem ablehnenden ersten Votum der Iren. Sie tat dies in Schweden, wo sie für die Ratifizierung eintrat und für das sie auch den Beitritt zur Währungsunion anstrebt, und auch in anderen europäischen Ländern, wo etwa Druck auf die polnische und tschechische Regierung ausgeübt wurde. Angesichts der im Lissabon-Vertrag vorgesehenen Möglichkeiten etwa zur Einschränkung der Grundrechte schon mal ein schlechtes Zeichen.

War sie vor ihrer Tätigkeit in der EU-Kommission eine heftige Kritikerin der EU-Direktive zur Vorratsdatenspeicherung, will sie diese nun lediglich (im Zeitraum bis September) hinsichlich rechtlicher Aspekte überprüfen lassen. Sie sah aber in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland auch keinen Widerspruch zur EU-Richtlinie, die “großen Spielraum lasse” und eine Umsetzung erlaube, “die mit den Grundrechten der deutschen Verfassung konform geht”. Eine grundsätzliche Kritik sieht ander aus, wirklicher Liberalismus sieht anders aus. Das geplatzte SWIFT-Abkommen mit den USA verteidigte sie ebenfalls. Es sei zwar nicht ideal, beinhalte aber genügend Einschränkungen und Auflagen (“begründeter Verdacht” und ähnliches). Beim Vorgehen zu SWIFT wurden alle demokratishen Defizite der EU bis aufs Äußerste ausgereizt – und darüber hinaus.  Nach der Ablehnung durch das Parlament will sie nun eine neue Vereinbarung “mit ambitionierten Sicherheitsstandards für die Privatsphäre und den Datenschutz erreichen”. Wenn man solche Phrasen hört, wird es klar, wo bei der Frage vermeintliche Sicherheit versus Freiheit die Prioritäten liegen. Malmström trat zwar letztes Jahr für eine Erweiterung der Europäischen Union auf die Balkanstaaten und die Türkei ein, legte aber unlängst einen Vorschlag zur Neuorganisation der umstrittenen EU-Grenzschutzagentur Frontex vor, der “ein einheitliches und hohes Kontroll- und Überwachungsniveau” gewährleisten soll. Er sieht etwa neue Hubschraubern, Schiffen oder auch Drohnen zur “Migrationsabwehr” und auch das Sammeln und Prozessieren von Personendaten vor. Malmström treibt damit den Ausbau der Festung Europa voran.

Ein “liberales” Bild ergibt sich eher in einem anderen Blickwinkel, wenn man nämlich auf die wirtschaftspolitischen Positionen schaut. Auf die “Liberalen” kann man sich immer noch verlassen, solange e nicht um die Interessen der Bürger, sondern der Wirtschaftselite der Industrieländer geht. Der Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer lehnte Malmström im November (in ihrer Zeit als schwedische Euopaministerin) ab. Sie sei global nicht einzuführen, auf EU-Ebene “eher kontraproduktiv” und schade der Wirtschaft. Kritik an ihr kam auch auf bei einem Angebot auf dem Klimagipfel in Kopenhagen, das Malmström als  Beweis der “Führungsrolle der EU” bezeichnete. Dabei hatten die EU-Regierungen den Entwicklungs- und Schwellenländern aber lediglich 6,7 Milliarden Euro zusagen wollten, was jedoch als viel zu gering eingeschätzt wurde. Malmström hatte dagegen immer wieder betont, wie wichtig ihr der Umweltschutz sei.

Die “liberalen” Positionen von Cenculia Malmsträm erscheinen also insgesamt gesehen ziemlich leicht wandelbar – wie die der “liberalen” Parteien in der EU. Das liberale Europa ist tot.

Wie geht es weiter?

Über die Richtlinie würde der EU-Ministerrat abstimmen, aber eine qualifizierte Mehrheit würde reichen. Die Maßnahmen wären dann verpflichtend. Im Europäischen Parlament signalisiert sich Ablehnung von weiteren Teilen, aber für ein genaues Stimmungsbild ist es noch zu früh. Die CDU-/CSU-Europagruppe will sich dem Vorschlag anschließen. Es könnte also zum Streit in der Koalition kommen, in dem bei einer FDP, die sich zur Zeit stark selbst geschwächt hat,  extrem fraglich, ob sie sich wird durchsetzen können. Und wie nicht anders zu erwarten, steigen auch die deutschen Medien wieder in die Kampagne ein, so unseriös, uninformiert und schlicht falsch wie letztes Jahr bereits (allen voran das neue CDU-Staatsfernsehen und Springer).

Zudem muss man auch betrachten, dass viele Staaten inzwischen Zensurgesetze eingeführt haben – und dort, genau wie die Gegner derartiger Gesetze warnen, nicht nur kinderpornografische Seiten gesperrt werden. Die demokratischen Möglichkeiten in der EU sind außerdem weniger weit als auf nationaler Ebene, die Politik, auch beim Entstehen dieses Entwurfs, findet meist hinter verschlossenen Türen statt. Neben dem Parlament wird viel davon abhängen, ob sich die Europäische Zivilgesellschaft zu vernetzen und Einfluss auszuüben vermag – die besseren Argumente sind auf ihrer Seite.

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Kombilöhne: sinnvoll oder nicht?

Hartz IV und die Agenda 2010 haben in den letzten Monaten viel an Zustimmung verloren. Auch die urprünglichen Architekten in der SPD sind von vielen Punkten abgerückt. Die Höhe der Leistungen steht dabei, sicher auch zu Recht, im Zentrum der Kritik. Doch wie sieht es mit anderen Aspekten der Hartz-Gesetze aus? Wie sind sie, v.a. aus arbeitsmarktpolitischer Sicht, zu bewerten? Gehören auch sie auf den Prüfstand? Hier soll als ein Punkt zunächst einmal das Konzept der staatlichen Kombilöhne betrachtet werden.

 

Konzept und Praxis von Kombilöhnen

Kombilöhne beschreiben eine staatliche Subvention von Niedriglöhnen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: entweder werden die Niedriglöhne direkt für den Arbeitnehmer durch staatliche Transfers aufgestockt, oder der Arbeitgeber erhält Lohnkostenzuschüsse oder Abschläge bei Sozialversicherungsbeiträgen als Subventionen vom Staat zur  Einstellung/ Beschäftigung, z.B. auch von bestimmten Arbeitnehmerzielgruppen (etwa Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen).

In Deutschland gibt es die Zuschüsse zweiten Typs nur zu Beginn neuer Beschäftigungsverhältnisse. Der erste stellt sich so dar, dass es Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Bezug des ALG II gibt. Die Zahl dieser “Aufstocker” liegt in Deutschland bei über einer Million, die meisten davon arbeiten als geringfügig Beschäftigte in Mini-Jobs oder Teilzeitarbeit. Zudem besteht die Möglichkeit, dass Arbeitslose verpflichtet werden, für eine befristete Zeit Arbeitsgelegenheiten, die “im öffentlichen Interesse liegen” zur “Sicherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit”  bei einem äußerst geringen Zuverdienst wahrnehmen zu müssen (“1-Euro-Jobs”).

 

Argumente pro Kombilöhne

Laut der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland deshalb entstanden, da die Löhne im Niedriglohnbereich über der Grenzproduktivität dieser Arbeiten lag. Die Gewerkschaften hätten zu hohe Löhne für Geringqualifizierte durchgesetzt, (wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass diese über einem reinen Marktlohn lägen), deshalb seien in diesem Bereich Beschäftigungshemmnisse enstanden. Durch eine stärkere “Spreizung der Löhne nach unten” könne mehr Beschäftigung gefördert werden. Zu gewährleisten, dass man “von seiner Arbeit leben könne”, sei nicht Aufgabe der Wirtschaft, sondern eine staatliche Aufgabe. Deshalb müsse dieser die Löhne von Geringqualifizierten wenn nötig bis zum Existenzminimum aufstocken.

Durch die Beschäftigung von 1-Euro-Jobbern kann außerdem ein Nutzen durch Arbeiten für die Gesellschaft entstehen, für den keine Nachfrage in der Privatwartschaft gegeben ist. Jede Art von Arbeit für Arbeitslose steigere außerdem deren Beschäftigungsfähigkeit und ihre sozialen Fähigkeiten. Gerne werden auch Parolen wie “keine Leistung ohne Gegenleistung” verwandt, doch stellen diese eher Populismus als echte Argumente dar (diese wurden vorher aufgezählt).

 

Argumente gegen Kombilöhne

Ein Risiko wäre, dass es für ALG II-Empfänger rational erscheinen könnte, aufzustocken, statt einer regulären Beschäftigung nachzugehen. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten sind in der Tat äußerst schlecht. Bis 100 Euro kann man zwar dazuverdienen, ohne dass dies angerechnet wird. Für Bruttoeinkommen von 100 bis 800 Euro jedoch beträgt der Grenzsteuersatz jedoch 80%, für 800 bis 1200 Euro sogar 90%. Der Grenzsteuersatz ist hier also viel höher als der Spitzensteuersatz von 42%. Geringfügige Beschäftigungen bis 100 Euro/ Monat lohnen sich also eher, aber die Anreize, eine Beschäftigung anzunehmen, sind dann monetär gesehen eher gering, da nur ein kleiner Teil des Hinzuverdienstes behalten werden darf (außer wieder, wenn sie so gut entlohnt ist, dass man kein ALG II mehr beziehen muss). Eine Intergration in reguläre Beschäftigung ist in der Realität nicht gegeben: laut einer aktuellen Studie des IAB gehen nur 0-3% mehr der Arbeitslosen, die in 1-Euro-Jobs gearbeitet haben als die, die es nicht haben, 28 Monate nach Beginn der Maßnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Zudem seien die Maßnahmen nicht zielgruppengenau (siehe dazu auch: Telepolis: Diffamierung von Erwerbslosen, freiwillige Arbeitsangebote oder Workfare).

Groß ist auch das Risiko, dass Unternehmen die Löhne im Bereich geringfügiger Beschäftigung stark senken. Das Einkommen der Beschäftigten muss dann immer mehr durch den Staat gesichert werden, die Unternehmen enziehen sich ihrer “gesellschaftlichen Verantwortung”. Betriebe, die durch Lohnsenkungen ihre Gewinne steigern wollen, finanzieren dies auf Kosten der Staatskasse, und in diesen Lohndruck werden auch andere Unternehmen und höhere Lohnbereiche mit hineingezogen.

Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit den Agenda-Reformen extrem gewachsen und inzwischen nach den USA der gößte aller Industrieländer. Jedoch legen Untersuchungen nahe, dass dies auf Kosten der regulären Arbeit geschah und der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit der Agenda stärker auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen war. Durch die Vergößerung des Niedriglohnsektors sinkt die Binnenachfrage, was (insbesondere zu Zeiten, in denen der Export stark einbricht) zu weniger Produktion und zu weniger Arbeitsplätzen führt. Die sozialen Folgen sind außerdem äußerst negativ – es wurde von der Politik gezielt ein prekärer Gesellschaftsbereich geschaffen.

 

Fazit

Maßnahmen der Agenda 2010, auch die Kombilöhne, haben zu einem Anstieg des Niedriglohnsektors geführt, ohne viele neue Arbeitsplätze geschaffen zu haben. Sie haben damit ihr vorgegebenes Ziel verfehlt. Stattdessen stieg lediglich die Gewinnquote (auf Kosten der Lohnqute). Die Lohnspirale nach unten wird durch Kombilöhne gefördert. Natürlich gibt es auch gute Gründe für die Annahme, dass tatsächlich diese breiten Lohnsenkungen im Interesse der Agenda-Maßnahmen standen (auch wenn sich manche davon wirklich die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen versprochen hatten).

Im Grunde kann die Möglichkeit, bei Empfang von Arbeitslosenleistungen hinzuverdienen zu können, sinnvoll sein, aber nicht in der derzeitigen Ausgestaltung. Dazu müssen auf jeden Fall die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert werden. Dies dient auch dem sicherlich zu unterstützenden Ziel, dass “sich Arbeit lohnen muss”. Dafür, und zur Vermeidung einer Ausplünderung des Staates durch Unternehmen, die reguläre Beschäftigung durch Niedriglöhner ersetzen, ist eine weitere Senkung der Hartz-IV-Sätze kein geeignetes Mittel. Vielmehr wäre für diese Ziele die Einführung eines Mindestlohns sinnvoll.

 

[Dieser Beitrag ist auch beim Oeffinger Freidenker und beim binsenbrenner.de erschienen.]

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Rettet Europa vor Deutschland!

Die Bundesregierung scheint weiter unter einer hartnäckigen Form des Dunning-Kruger-Effekts zu leiden. Trotz der von vielen verschiedenen Seiten zu hörenden und gut begründeten Kritik an Deutschlands einseitiger Lohndumpings- und Exportdopings-Politik und ihren negativen Folgen – für Europa, aber auch für Deutschland selbst – will Wirtschaftsminister Brüderle nun eine Außenhandelsoffensive starten. Natürlich, wie es sich für eine schwarz-gelbe Regierung gehört, will man auch der Rüstungsindustrie bei der Auftragsgewinnung helfen und den Export von Atomtechnologie vorantreiben. Auch wenn die gesamte Initiative dabei nicht besonders durchdacht sei (hätte das denn noch wirklich jemand erwartet?), könne sie schon durch ihr unangemessenes Timing und Brüderles “trotzig-arrogante Reaktion auf Kritik” großen Schaden anrichten, schreibt die Financial Times Deutschland. Als ob Deutschlands Brachial-Position zur Griechenland-Frage nicht reichen würde.

Naja, was soll man schon von einer Regierung erwarten, deren Chefin allen Ernstes als einen großen Erfolg angibt, dass die Regierung einen Haushalt verabschiedet hat? Auf wirkliche Einsicht wird man bei Schwarz-Gelb nicht hoffen können, noch weniger auf sinnvolle Taten, wenn Ignoranz und Arroganz zusammentreffen. Nein, die deutsche Regierung hat offenbar vielmehr vor, auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik der Taktik von George W. Bush nachzueifern: wie dieser sich von Gott berufen sah, der Welt ohne Rüksicht auf Verluste “Frieden” mit dem Schwert zu bringen, so ist die Bundesregierung gewillt, Europa, notfalls auch alleine, die Segnungen einer straffen Haushaltsführung und von hohen Unternehmergewinnen zu bescheren, auch wenn dies eine schwächelnde Gesamtwirtschaft, sinkende Löhne, europaweite Instabilitäten und vielleicht selbst den Staatsbankrott eines Landes zur Folge hat (das einzige, was sie daran stören würde, wäre wohl, dass damit der zweitgröße Importeur deutscher Waffen pleite ginge).

Vielleicht bleibt tatsächlich nur noch ein Mittel, um die Ungleichgewichte in der deutschen und der europäischen Wirtschaft zu reduzieren und die Stabilität in Europa zu gewährleisten: Deutschland aus der Eurozone rauszuschmeißen. 😀

Bildquelle:

Anderson Mancini / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

[Auch erschienen beim binsenbrenner.de]

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Petition gegen Gentechnik in Nutzpflanzen

Gestern hat die EU-Kommission erneut den Einsatz von Gentechnik in Nutzpflanzen europaweit zugelassen. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass die langfristigen Folgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt jedoch noch längst nicht genügend erforscht sind.

Im Internet kann man eine Petition unterschreiben, deren Ziel es ist, eine Million Unterschriften zu sammeln, um die Einführung genmanipulierter Nahrungsmittel so lange zu verbieten, bis ausreichende Forschungsergebnisse vorliegen (bisher [23. März, 23:53] liegen über 285.000 Unterschriften vor). Der Text der Petition lautet:

An den Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso:
Wir fordern Sie auf, ein Moratorium für die Einführung von genmanipulierten Nutzpflanzen in Europa zu erlassen, eine ethisch und wissenschaftlich unabhängige Forschungskommission ins Leben zu rufen, die die Auswirkungen von gentechnisch veränderten Lebensmitteln untersucht, sowie strenge Auflagen zu erlassen.

(Danke an Duckhome für den Hinweis!)

Ich halte die Petition für unterstützenswert. Die EU muss endlich für die Interessen ihrer Bürger und nicht die von undurchsichtigen Lobbys arbeiten. Gesundheit und die Bewahrung der Natur dürfen nicht unabsehbaren Risiken ausgesetzt werden, um ein paar wenigen Unternehmen (wie dem höchst sympatischen Monsanto, dem Stern am Himmel der Unternehmensethik und der sauberen Geschäfte – *hust*) Gewinne zu ermöglichen. Also, schaut es euch bitte mal an!

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Der Programmentwurf der Linken – eine kritische Betrachtung

Am Samstag hat die Partei Die Linke den  Entwurf für ihr erstes Grundsatzprogramm öffentlich vorgestellt (Stefan Sasse hat bereits einige Punkte betrachtet). Ein Grundsatzprogramm ist für eine Partei sicherlich notwendig und es ist zu begrüßen, dass die Sache nun einmal angegangen wird. Doch war das Echo auf den Programmentwurf in den Medien eher negativ: die „Hardliner“ in der Partei hätten sich offensichtlich durchgesetzt. Ist das so? Im Folgenden soll das Programm (v.a. mit Hinsicht auf problematische Aspekte) etwas genauer analysiert werden.

Präambel (S. 3-4)

In der Präambel versucht die Linke zu erklären, für und gegen welche politischen Ziele und Werte sie eintritt. Insgesamt gefällt mir persönlich dieser Teil recht gut. Eine wichtige Frage wird jedoch eher widersprüchlich beantwortet: Wird Kapitalismus allgemein negativ bewertet oder eine Form des Kapitalismus, die man als „Neoliberalismus“ und „Finanzmarktkapitalismus“ beschreiben kann. Etwa hier:

Wir kämpfen für einen Systemwechsel, weil der Kapitalismus, der auf Ungleichheit, Ausbeutung, Expansion und Konkurrenz beruht, mit diesen Zielen unvereinbar ist.

Ist der Kapitalismus an sich oder eine Form des Kapitalismus gemeint? Diese Unklarheit zieht sich durch das ganze Programm. Die meisten genannten Kritikpunkte sind Kritikpunkte an der neoliberalen Ausgestaltung des Kapitalismus, doch dazwischen gibt es auch Sätze wie

Wir kämpfen für einen Richtungswechsel der Politik, der den Weg zu einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft öffnet, die den Kapitalismus überwindet.

Diese widersprüchlichen Formulierungen sind sicher Ausdruck einer Partei, in der es ziemlich divergierende Positionen über diese Frage gibt. Auch bei den Vorschlägen der Linken ist dieser Widerspruch enthalten. Einerseits werden etwa kleinere und mittlere Unternehmen durchaus auch positiv bewertet und man will auch einen Privatsektor erhalten, andererseits spricht man de facto von Planung der Wirtschaft:

DIE LINKE kämpft für eine andere, demokratische Wirtschaftsordnung, die die Marktsteuerung von Produktion und Verteilung der demokratischen, sozialen und ökologischen Rahmensetzung und Kontrolle unterordnet. Sie muss dazu auf öffentlichem und demokratisch kontrolliertem Eigentum in der Daseinsvorsorge, an der gesellschaftlichen Infrastruktur, in der Energiewirtschaft und im Finanzsektor sowie der demokratischen Vergesellschaftung weiterer strukturbestimmender Bereiche auf der Grundlage von staatlichem, kommunalem, genossenschaftlichem oder Belegschaftseigentum beruhen und den privatwirtschaftlichen Sektor strikter Wettbewerbskontrolle unterwerfen.

Staatliche Rahmensetzung und Kontrolle, verschiedene Eigentumsformen, Ausweitung des öffentlichen Sektors, Wettbewerbskontrolle, alles sinnvoll.  Es wird aber nicht ganz klar, wieweit man sich eine Steuerung des wirtschaftlichen Geschehens über einen Markt, wieweit über einen Plan vorstellt. Ein staatliches Eingreifen in den privatwirtschaftlichen Sektor mit Planvorgaben etwa zu Preisen und Mengen, Produktion und Verteilung, würde einen extrem hohen bürokratischen Aufwand verlangen und wäre äußerst ineffizient.

I. Woher wir kommen, wer wir sind (S. 5-7)

DIE LINKE knüpft an linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung und aus anderen emanzipatorischen Bewegungen an.

Gegensätzliche Haltungen zur Revolution in Deutschland und später auch zur Sowjetunion vertieften die Spaltung der Arbeiterbewegung. Die USPD, die KPD und linkssozialistische Bewegungen gehören heute ebenso zum historischen Erbe der LINKEN wie die Geschichte der Sozialdemokratie.

Es ist durchaus problematisch, zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte als Vorbild zu sehen: die demokratisch-sozialistische/ sozialdemokratische, reformorientierte und die kommunistische, marxistisch-leninistische, revolutionäre Richtung. Auch wenn die Partei historisch durchaus Erbe beider Bewegungen ist: die Grundkonzepte und -ansichten waren in der Vergangenheit, und sind auch heute grundverschieden.  Ich hätte mir hier von der Partei eine deutliche Distanzierung vom antidemokatischen Leninismus erwartet (auch wenn dies der Kommunistischen Plattform der Partei sicher nicht gefallen hätte) und nicht nur vom Stalinismus:

Ohne Demokratie kein Sozialismus. Deshalb gehörte zum Gründungskonsens der PDS – einer der Vorläuferparteien der LINKEN – der unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus.

Ja, ohne Demokratie kein Sozialismus, doch das schließt auch eine Diktatur des Proletariats, schließt die sich “kommunistisch” nennende Tadition, schließt schließlich die Entwicklungen des real existierenden Sozialismus aus.

II. Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation (S. 7-10)

Hier werden größtenteils nicht negative Seiten des Kapitalismus an sich, sondern des Neoliberalismus und des Finanzmarktkapitalismus beschrieben. Diese sind dabei jedoch im allergrößten Umfang zutreffend beschrieben. Auch die Wortwahl und Stil finde ich hier insgesamt sehr angemessen.

III. Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert (S. 11-13)

In einer solidarischen Wirtschaftsordnung, wie DIE LINKE sie anstrebt, haben verschiedene Eigentumsformen Platz: staatliche und kommunale, gesellschaftliche und private, genossenschaftliche und andere Formen des Eigentums. Die Belegschaften, die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Repräsentanten der Gemeinwohlinteressen sollen eine starke demokratische Mitsprache
haben und an den wirtschaftlichen Entscheidungen direkt partizipieren.

Dies halte ich für einen sinnvoll zusammengefassten Ansatz für ein alternatives Wirtschaftskonzept.

Die Daseinsvorsorge, die gesellschaftliche Infrastruktur, die Finanzinstitutionen und die Energiewirtschaft gehören in öffentliche Hand und müssen demokratisch kontrolliert werden. Sie dürfen nicht nach dem Profitkalkül privater Unternehmen geführt werden.

Strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft wollen wir in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen überführen und kapitalistisches Eigentum überwinden.

Eine Kommunalisierung/ Verstaatlichung von Großkonzernen ist durchaus in den Fällen sinnvoll und notwendig, wenn es sich um Aufgaben der öffentlichen Infrastruktur und der Wohlfahrt handelt (bspw. Krankenhäuser, Wasse- und Energieversorgung u.ä.) oder wenn öffentliche Anbieter effizienter (im Sinne der allgemeinen Wohlfahrt und nicht der Gewinne für wenige Privatpersonen) handeln könnten (Bsp. Verkehr, Energie). In anderen Bereichen aber, ob bei kleineren und mittleren Unternehmen oder auch bei größeren, die nicht in diesen Bereich fallen,  ist eine Steuerung über den Markt viel effizienter und auch gesamtgesellschaftlich von größerem Nutzen.

Die Beschäftigten müssen realen Einfluss auf die betrieblichen Entscheidungen bekommen. Wir setzen uns dafür ein, dass Belegschaften ohne Lohnverzicht an dem von ihnen erarbeiteten Betriebsvermögen beteiligt werden.

Hier fehlt eine genaue Festsetzung. Beschäftigte können an einem Unternehmen über Erfolgs- oder über Kapitalbeteiligungen beteiligt werden. Beides ist aus vielen Gründen sehr sinnvoll. Wenn dies aber ohne Lohnverzicht geschehen soll, würde dies aber auf eine Enteignung hinauslaufen. Dazu gebe es bessere Alternativen.

Regionale und sektorale Wirtschaftspolitik muss auf der Grundlage einer demokratischen Rahmenplanung und einer strategisch gestaltenden Strukturpolitik steuernden Einfluss auf die Investitionsentscheidungen der Unternehmen nehmen.

Wie soll dies aussehen? Durch allgemeine Investitionsanreize etwa? Das wäre durchaus zu befürworten. Oder auch direkte Eingriffe in Unternehmensentscheidungen? Dies wäre dann abzulehnen.

IV. Linke Reformprojekte – Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung (S. 14-23)

Hier werden relativ konkrete Konzepte der Linken für die Bereiche Finanzen/ Wirtschaft/ Arbeit/ Soziales, Demokratie/ Gesellschaftspolitik (inklusive Bereichen der Innenpolitik), Ökologie sowie Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik erläutert.

1 . Wie wollen wir leben? Gute Arbeit, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit

Gerade in diesem Teil finden sich viele Konzepte, die extrem stark in die Wirtschaft eingreifen würden, obwohl die Möglichkeiten, die angestrebten Ziele durch Anreizsysteme zu erreichen, oft viel sinnvoller wären.

Leiharbeit muss strikt begrenzt und wie die Arbeit der regulär Beschäftigten zuzüglich einer Flexibilitätsvergütung bezahlt werden. Der Kündigungsschutz muss verbessert und Befristungen müssen gesetzlich eng eingeschränkt werden.

Diese Flexibilitätsvergütung ist durchaus sinnvoll und wird auch in anderen Ländern bezahlt. Wo wir aber beim Stichwort wären: Flexibilität. Flexibilität und Sicherheit müssen durchaus kein Gegensatz sein – jedoch haben gerade international Länder (Dänemark, Niederlande, Schweden), die Sicherheit v.a. durch hohe Einkommensersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit (und zusätzlich umfangreiche Qualifizierungsmaßnahmen und aktive Arbeitsmarktpolitik) gewährleisten, deren Arbeitsmarkt aber flexibel ist („Flexicurity-Modell) in fast allen Bereichen besser ab als Deutschland: sie haben weniger Arbeislosigkeit, v.a. weniger Langzeitarbeitslose, höhere wirtschaftliche Dnamik – und das Sicherheitempfinden, die Sozialleistungen und die gesellschaftliche Solidaität sind höher als in Deutschland. Ein unflexibler Arbeitsmarkt führt zwar dazu, dass die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse sicherer sind, er führt aber auch dazu, dass man, einmal in Arbeislosigkeit, nur schwer einen neuen Job findet.

Die Managergehälter müssen auf das 20fache der untersten Lohngruppen im Unternehmen begrenzt, die Vergütung mit Aktienoptionen sowie übermäßige Abfindungen müssen verboten werden.

Für die Vermeidung eines Auseinanderklaffens der Einkommensschere wäre eine Forttführung der Steuerprogression über die bisherige Spitzensteuerschwelle sicher sinnvoller (auch fiskalisch gesehen) als eine gesetzliche Regelung. Das Verbot von Vegütungen mit Aktienoptionen an sich ist kaum sinnvoll – gerade wenn Manager am eigenen Unternehmen beteiligt sind, können sie einen höheren Anreiz haben, die langfristige Unternehmensperformance auch zu ihrem eigenen zentralen Interesse bei ihren eigenen Entscheidungen zu machen (wenn dies gesetzlich richtig ausgestaltet ist).

Die Arbeitszeiten müssen gemäß den Bedürfnissen der Menschen bei vollem Lohnausgleich verkürzt werden.

Eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung wurde in Frankreich durchgeführt (35-Stunden-Woche) und hat dort nicht zu weniger Arbeitslosigkeit, sondern eher zu mehr Problemen und einer größeren Belastung der Haushalte (durch Zuschüsse des Staates) geführt. Mehr Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung klingt zwar gut, würde aber auch voraussetzen, dass die Unternehmen mehr Mitarbeiter einsetzen. In der Praxis läuft dies aber oft darauf hinaus, dass sich entweder die Arbeitsintensivität erhöht, dass kleine Unternehen keine neuen Angestellten einstellen könne (einfach aufgrund der kleinen Angestelltenzahl) oder dass Unternehmen durch hohe Transaktionskosten (v.a. Kündigungsschutz) an Neueinstellungen gehindert werden. Dies muss man anerkennen.

Eine aktive staatliche Industrie- und Dienstleistungspolitik ist erforderlich, um De-Industrialisierung zu verhindern und Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe, im Handel und in anderen Dienstleistungsbereichen zu sichern.

Eine Politik, die einen Strukturwandel hin zu den Bereichen, in denen man produktiver tätig sein kann (höhere komparative Kostenvorteile hat), verhindert, führt zu weniger Produktivität, weniger Wirtschaftswachstum, mehr Arbeitslosigkeit. Wenn man De-Industrialisierung verhindern will, heißt das, den Wandel zum Dienstleistungssektor systematisch staatlich zu bremsen. Dies wäre wohl nur mit dem Interessen an Wählerstimmen in diesem Bereich zu erklären, aber wirtschaftspolitisch völlig falsch.

Wir fordern ein Verbot von Massenentlassungen in Unternehmen, die nicht insolvenzgefährdet sind. Das wird in großem Umfang sozial abgesicherte Übergänge von Beschäftigten aus schrumpfenden in zukunftsfähige Branchen einschließen.

Gerade das ja nicht. Wenn Entlassungen nicht möglich sind, wird ja gerade ein Strukturwandel in Zukunfsbranchen verhindert.

Private Banken müssen deshalb verstaatlicht, demokratischer Kontrolle unterworfen und auf das Gemeinwohl verpflichtet werden.

Dass Banken sich mehr auf ihre Kernaufgaben (Kreditvergabe) konzentrieren und weniger mit Spekulationsgeschäften tätig sein sollten, ist sicher sinnvoll. Aber deshalb gleich eine Abschaffung aller Privatbanken? Ich hab mich noch nicht so detailliert mit dem Modell, das Obama vorgeschlagen hat, beschäftigt, aber in seinen Ansätzen erscheint es doch recht begrüßenswert und geeigneter.

Wir fordern die Wiedereinführung der Vermögenssteuer in Form einer Millionärsteuer in Höhe von fünf Prozent jährlich auf private Millionenvermögen.

Hier muss man zwischen den Formen des Vermögens unterscheiden, und 5% erscheinen sehr hoch.

Wir fordern die kräftige Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer.

Gute Forderung, wenn der Spitzensteuersatz dann ab einer höheren Grenze als der derzeitigen gilt (wenn also die Steuerprogression über die derzeitige Schwelle fortgeführt wird, Bsp. Steuersystem Skandinaviens).

2. Wie wollen wir entscheiden? Demokratisierung der Gesellschaft

Hier sind die meisten Punkte unproblematischer (aber auch meist weniger konkret).

Darüber hinaus tritt DIE LINKE für eine Strukturreform der Ausbildungsförderung hin zu einer öffentlich finanzierten Erwachsenenbildungsförderung ein, die allen in Aus- oder Weiterbildung befindlichen Volljährigen eine elternunabhängige Förderung bei jeweils individuellem Bedarf sichert, ohne neue soziale Benachteiligungen entstehen zu lassen.

Ich bin gegen elternunabhängige Förderungen. Will man es populistisch ausdrücken, könnte man es so sagen: warum soll das Kind eines Milliardäres staatliche Zuschüsse erhalten? Ausbildungsförderung soll ja gerade Förderung für die Benachteiligten, abhängig vom tatsächlichen sozialen Bedarf sein. Wenn man einerseits etwa gegen ein gleiches Kindergeld für alle eintritt, sondern dafür, dass dieses abhängig vom Einkommen gezahlt wird, ist diese Forderung inkonsequent. Auch wenn sie von vielen linken Gruppen verreten wird (mir persönlich erscheinen da Begründung wie „stärkere Emanzipation“ eher vorgeschoben).

3. Wie erhalten wir Natur und Gesellschaft? Sozial-ökologischer Umbau

Die Punkte würde ich fast alle so unterschreiben.

4. Wie schaffen wir Frieden? Abrüstung, kollektive Sicherheit und gemeinsame Entwicklung

Gut finde ich, dass die Linke hier klar für eine grundsätzlich reformierte Europäische Union eintritt. Die Journaille wird ihre Märchen von der angeblichen „EU-Feindschaft“ zwar weitererzählen – aber die wirkliche Programmsetzung ist hier kargemacht.

Für DIE LINKE ist Krieg kein Mittel der Politik. Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands. Wir fordern ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta.

Die ist nun ein Punkt, wo ich grundsätzliche Differenzen zur Linken habe. Ich halte unter bestimmten, durchaus sehr begrenzten, Umständen friedenserhaltende Maßnahmen für gerechtfertigt – und auch prinzipiell, als ultima ratio Kriege im Sinne der UN-Charta. Gerade die UNO sollte in dieser Hinsicht gestärkt werden.

V. Gemeinsam für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft (S. 23-25)

Die Zuspitzung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme verstehen wir vor allem als Ergebnisse neoliberal geprägter Antworten auf die neuen Herausforderungen unter dem Einfluss von Kapitalinteressen sowie als Ausdruck von Krisenprozessen und Widersprüchen, die die kapitalistische Ökonomie hervorbringt.

Na was denn jetzt? Probleme des Neoliberalismus oder Probleme der Grundwidersprüche des Kapitalismus? Das sind zwei verschiedene Deutungsmuster. Aber wie gesagt, die Frage wird insgesamt nicht einheitlich beantwortet.

DIE LINKE strebt nur dann eine Regierungsbeteiligung an, wenn wir hierdurch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen erreichen können. Sie wird sich an keiner Regierung beteiligen, die Privatisierungen vornimmt, Sozial- oder Arbeitsplatzabbau betreibt. Darüber hinaus wird sich DIE LINKE auf Bundesebene nicht an einer Regierung beteiligen, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt. Notwendige Bedingungen sind weiterhin die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns und der Kampf gegen Lohndumping und untertarifliche Bezahlung.

Solch eine äußerst rigide Festlegung ist für ein Grundsatzprogramm höchst problematisch. Man wird in einer Regierung nie sein ganzes Programm durchsetzen können. Natürlich ist es gut, wenn die Partei zu ihren Grundprinzipien steht. Aber nehmen wir mal ein Beispiel: ist denn z.B. Arbeitsplatzabbau wirklich immer, ausnahmslos, negativ? Was ist, wenn man etwa bei öffentlichen Stellen mit dem Geld Sinnvolleres anfangen kann, vielleicht auch neue, vielleicht sogar mehr Arbeitsplätze schaffen? Oder: Warum spricht man im Programm zuerst von einer Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes, jetzt auf einmal von einem gesetzlichen Mindestlohn, gar als unabdingbare Bedingung für Regierungsbeteiligungen? Gerade dieser Abschnitt sollte dringend überdacht werden in der Hinsicht, den jeweiligen Verbänden in den Ländern mehr Entscheidungsspielräume für jeweilie Koalitionen zu lassen, und auch in der Bundespolitik Koalitionen realitischer zu machen, ohne den Kern der Überzeugungen aufgeben zu müssen. Und dies wäre, denke ich, durchaus möglich. Die Partei muss zeigen, ob sie dies will.

Fazit der Analyse

Die im Programmentwurf vorzufindenden Diagnosen der derzeitigen Probleme sind durchdacht, fundiert und gut dargestellt. Auch der allgemeine Rahmen der Gegenkonzepte erscheint sinnvoll. Oft hat die Linke in den angesprochenen Punkten die richtigen Ziele im Auge, aber nicht unbedingt immer die richtigen Mittel. V.a. Im Bereich der Wirtschaftspolitik würden einige Punkte nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern nur zu einer sinkenden Wirtschaftskraft führen. Weniger Dirigismus, mehr Anreizsysteme, weniger Planwirtschaft, mehr Keynes wäre hier zu wünschen gewesen. Gerade die Verstaatlichungspläne sind geradezu abenteuerlich. In den anderen Bereichen dürften die meisten Konzepte weniger strittig sein – bis auf die Außenpolitik, wo die Linke durch ihre vollständige Ablehnung des Kapitel VII der UN-Charta ziemlich alleine steht (aber ich habe hier durchaus Respekt, dass die Linke bei diesem Punkt bei ihren Überzeugungen, auch wenn ich diese nicht teile, bleibt).

Für einen Anhänger rot-rot-grüner Koalitionen stellt der Programmentwurf einige Enttäuschungen bereit. Die Bedingungen für Regierungsbeteiligungen sind nicht nur unrealistisch, sondern auch inhaltlich nicht in allen Punkten nachzuvollziehen. Und für diejenigen, die sich ganz klar in der demokratisch-sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition sehen, ist die fehlende Abgrenzung von, ja gar die Bezugnahme auf leninistische Strömungen und die real-sozialisitsche Praxis nur schwer verdaulich.

Es wäre insgesamt sehr wünschenswert, dass sich die “gemäßigteren”, reformorientierten Teile der Partei in der weiteren Diskussion um das Programm durchsetzen werden.  Bliebe die Linke vollständig bei diesem, dürfte es ihr schwer fallen, viele neue Wähler anzusprechen – und sie würde wohl auch viele bisherige Unterstützer und Anhänger verlieren.

NACHTRAG:

Auch die NachDenkSeiten beschäftigen sich mit dem Programmentwurf der Linken. Dabei meinen auch sie, dass in diesem zu viele aktuelle Probleme allgemein der Kapitalverwertungslogik zugeschrieben werden und wichtige andere Differenzierungen, etwa Unterschiede zwischen verschiedenen Kapitalismusformen, vernachlässigt werden. Viele Gegenvorschläge könnten nur dann verwirklicht werden, wenn der Kapitalismus abgeschafft ist. Es bestehe “die Gefahr, dass diese grundsätzliche Alternative nicht mit den obwaltenden Gegebenheiten in ihren Widersprüchlichkeiten vermittelt werden kann”. Das Programm könnte dann in der Realpolitik in den Hintergrund geraten. Im Programm fehlten außerdem Gegenentwürfe zum derzeitigen Mainstream der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, zum Steuer- und Bildungssystem, zur Medienordnung und zur Stärkung der Gewerkschaften.

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Deutschlands Lohndumping-Politik: nicht weiterzuempfehlen!

Was ist von der Kritik Frankreichs an der Ausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik zu halten? Die üblichen Verdächtigen aus der Politik (FDP, CDU), den Wirtschaftslobbys (BDI, Bundesverband für Groß- und Außenhandel) und ihren Mietmäulern (ifo u.a.) sowie der Presse (Springer, Spon, Marc Beise) toben, reden von “Deutschland-Bashing”, meinen, dass die anderen EU-Länder nur “neidisch” wären und “Deutschland ausbremsen” wollten. Wenn sie doch mal den Schaum vorm Mund losgeworden sind, verteidigen sie die deutsche Umverteilungspolitik von unten nach oben als Stärke der deutschen Wirtschaft. Doch was sagen die Fakten?

Jens Berger zeigt, warum die Fixierung der deutschen Wirtschaftspolitik auf Lohndumping zur Exportförderung weder für Deutschland noch für andere europäische Länder zu empfehlen ist. In Deutschland gab es in den letzten 15 Jahren durch Reallohnkürzungen zwar niedrigere Lohnkosten und höhere Exportzahlen, aber auf Kosten des Binnenkonsums. Von den höheren Exporten profitierte ausschließlich das Kapital. Außerdem klappt dieses Konzept natürlich nur, weil die anderen Länder (v.a. in Europa), die keine gezielte Niedriglohnpolitik betrieben haben, deutsche Waren importieren. Wenn alle Länder so wie Deutschland verfahren würden, könnte es nicht funktionieren. Vielmehr wäre es für Deutschland und ganz Europa sinnvoller, wenn Deutschland sich mehr wie seine Nachbarn verhalten und die Niedriglohnpolitik endlich aufgegeben würde.

Laut Heiner Flassbeck hat das systematische deutsche Lohndumping andere EU-Staaten geschwächt und die europäische Geldpolitik destabilisiert. Leistungsbilanzüberschuss und hohe Exporte hätten keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, da die schwache Binnennachfrage dies wieder zunichte mache. Er empfiehlt dagegen Lohnsteigerungen in Deutschland.

Selbst die  EU-Kommission und der IWF forderten, dass Deutschland seine Binnenachfrage (Konsum und Investitionen) stärken soll. Wenn selbst bei den Vorreitern des Neoliberalismus allmählich ein Umdenken , wäre es an der Zeit, dass die deutsche Politik endlich die schädlichen Wirkungen einer Niedriglohn-Ökonomie und einer Abhängigkeit von einem äußerst fragilen Export erkennt. Doch dies wird angesichts der Verpflichtungen der derzeitigen Machthaber gegenüber der Export- und Großindustrie und der Ausrichtung an deren Interessen und wegen dem blinden Anhängen an wirtschaftsliberalen Dogmen kaum wahrscheinlich sein.

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Rationalität versus Vernunft

Heute gerne vermischt, sind “Vernunft” und “Rationalität” (und speziell die heutige Form einer wert- und zweckfreien, formalen Rationalität) durchaus nicht dasselbe. Die fundamentalen Unterschiede haben Vertreter der Kritischen Theorie, v.a. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, klar gemacht.

Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft

Max Horkheimer unterscheidet in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft eine „objektive Vernunft“ als umfassendes System alles Seienden (einschließlich des Menschen und seiner Zwecke) einerseits und andererseits eine „subjektive Vernunft“, als Fähigkeit der Klassifikation, des Schließens, der Deduktion, also des Abstrakten Funktionierens des Denkmechanismus. Nicht die Vernünftigkeit der Ziele, sondern die Angemessenheit von Verfahrensweisen sei deren Gegenstand. Er beschreibt in seinen Werken, v.a. in der Kritik, die instrumentelle Vernunft als Logik der Naturbeherrschung. (Diese wird abgeleitet aus dem Arbeitsprozess und damit aus dem Wertverhältnis. Arbeit gilt als Beherrschung der Natur, und Arbeit gründet im Kapitalismus – als einer Warenwirtschaft – auf der Wertform. Diese bestimmt als Imperativ gesellschaftliche Verkehrsformen wie die Arbeitsteilung und die Klassenverhältnisse.) Diese hat darüber hinaus auch Auswirkungen auf das Denken und die Psyche des Menschen: durch abstraktes Denken werden Herrschaft und Knechtschaft verinnerlicht. Die losgelassene Naturbeherrschung diene als Mittel zur Verewigung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.

Die Krise der Vernunft sieht Horkheimer darin, dass heute eine objektive Vernunft nicht konzipiert oder sogar als Wahn bestritten werde – dagegen erleben wir eine Subjektivierung und Formalisierung der Vernunft. Er plädiert für eine inhaltliche statt nur eine rein formale Logik. Wirklicher Rationalismus sei mehr als eine bloße Form, sondern müsse auch inhaltliche Momente mit einschließen. Wenn keine bestimmte Gesellschaftstheorie im Hintergund sei, bleibe auch jede Erkenntnistheorie formalistisch und abstrakt. Formale Logik (als Analogie zur Mathematik begriffen) sei nur eine Reihe von Tautologien ohne konkrete Bedeutung in der geschichtlichen Wirklichkeit. Durch Trennung von Fakten und Werten werde immer der Status Quo legitimiert. Vernunft ist für Horkheimer, in Tradition von Hegel und Marx, die Fähigkeit, über die bloße Erscheinung hinaus die dialektischen Zusammenhänge als tiefere Wirklichkeit zu erfassen. Da Vernunft auch immer die Versöhnung von Widersprüchen bedeute, möchte Horkeimer eine Versöhnung von objektiver und subjektiver (instrumenteller) Vernunft.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung

Für Theodor Adorno haben formale Logik und mathematisches Denken ein immanentes mystisches Element. Sie seien gekennzeichnet durch eine Ablehnung alles Nichtidentischen. Ihr Dualismus von Form und Inhalt sei falsch. Gemeinsam haben Horkheimer und Adorno ihre Kritik im vielleicht bekanntesten Werk der Kritischen Theorie, der Dialektik der Aufklärung, geschildert. In Dialektik der Aufklärung ist mit „Dialektik“ gemeint, dass die Entwicklung des Kapitalismus zu einer alle Glieder der Gesellschaft ergreifenden Tauschrationalität führt. Die Denkweise der “Aufklärung” sei verwurzelt in Naturbeherrschung, die die Beherschung des Menschen zur Konsequenz habe. Die gesamte logische Ordnung und Organisation der Begriffe (Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, die sie analysieren, sei das Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit; allgemeine Begriffe seien Zeichen verfestigter Herrschaft) gründe in der Arbeitsteilung als entsprechenden Verhältnissen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Arbeitsteilung (und damit die Unterwerfung unter Herrschaft) diene den Beherrschten zu ihrer Selbsterhaltung. Herrschaft trete Einzelnem als das Allgemeine, die Vernunft in der Wirklichkeit gegenüber.

Der ökonomische Apparat statte (selbsttätig) Waren mit Werten aus, die über das Verhalten der Menschen entschieden. Es komme zu einer Versachlichung des Geistes, der Fetischcharakter breite sich über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus; die Massenproduktion und ihre Kultur prägten dem Einzelnen genormte Verhaltensweisen als allein vernünftige auf (was die Versachlichung des Menschen und die Angleichung an seine Funktion verstärkt). Es komme auch geradezu zu einer Selbstentäußerung, zu einem Formen des Denkens des Menschen nach dem technischen Apparat: das Subjekt versachliche sich zu technischem Prozess, die Vernunft selbst wurde zum Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur und agiert starr zweckgerichtet; dies bedeute Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung, die Verwendung des Geistes als Apparat von (Selbst-)Herrschaft. Herrschaft habe sich in der Warenwirtschaft zu Gesetz und Organisation verdinglicht, Gewalt wurde durch Vermittlung des Marktes vervielfacht (in Gestalt der Maschinen trete den Arbeitern eine entfremdete Rationalität gegenüber.) Das Tauschprinzip entspreche der Atomisierung des modernen Menschen, die instrumentelle Manipulation der Natur der von Menschen untereinander. Der Zusammenhang von Herrschaft und Arbeit sei gegründet in der Herrschaft des Menschen über die Natur: die Natur werde in der Aufklärung als bloßes Objekt, und Stoff von Einteilung, als qualitätslos und abstrakt angesehen; sie solle durch Arbeit beherrscht werden.

“[D]ie Macht ist auf der einen, der Gehorsam auf der anderen Seite. Die wieder- kehrenden, ewig gleichen Naturprozesse werden den Unterworfenen (…) als Rhythmus der Arbeit nach dem Takt von Keule und Prügel eingebläut, der in jeder barbarischen Trommel, in jedem monotonen Ritual widerhallt. Die Symbole nehmen den Ausdruck des Fetischs an. Die Wiederholung der Natur, die sie bedeuten, erweist s im Fortgang stets sich als die von ihnen repräsentierte Permanenz des gesellschaftlichen Zwangs..“ (Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969, S. 27)

Die formale Logik beinhalte eine Vereinheitlichung, eine Berechenbarkeit der Welt durch Zahl, kurz eine Quantifizierung. Dieselben Gleichungen sind für Horkheimer und Adorno beim Warenaustausch die vorherrschenden und prägenden. Die bürgerliche Gesellschaft sei beherrscht vom Äquivalent, von der Reduzierung auf abstrakte Größen, wodurch Ungleiches vergleichbar gemacht und Qualitäten zerstört würden. Die Funktionalisierung, die Eliminierung der Qualitäten und Umrechnung in Funktionen gehe von Wissenschaft durch rationalisierte Arbeit über auf den Alltag, auf den einzelne Menschen. Außerdem liefern sie eine Kritik der formalen Logik, die sehr ähnlich zu der der instrumentellen Vernunft ist. Natur sei nur in der Epoche Aufklärung ausschließlich mathematisch zu Erfassendes. Begriffe würden durch Formeln verdrängt. Indem Denken und Mathematik gleichgesetzt werden, würde das Denken verdinglicht, mechanisiert, Denken fungiere als Sache, als Herrschaft. Die Unterordnung alles Seienden unter einen abstrakten, logischen, mathematischen Formalismus führe zur Unterordnung der Vernunft unter unmittelbar Vorfindliches, unter die Tatsachen (als bloße abstrakte raumzeitliche Beziehungen), ohne jede Hoffnung. Gesellschaftliches Unrecht gilt dann als unveränderlich. Die instrumentelle, subjektive, manipulative Vernunft und die durch sie bewirkte Eliminierung der Negation aus der Sprache gilt als Erfüllungsgehilfe technologischer Herrschaft, da sie ohne Zwecke ist und nur durch Machtbeziehungen gekennzeichnet; sie führe, logisch zu Ende gedacht, zu den barbarischen Gräueln des 20 Jahrhunderts.

Herbert Marcuses Kritik der technologischen Rationalität

Herbert Marcuse beschreibt Vernunft folgendermaßen:

„Die Vernunft ist in ihrem tiefsten Wesen Widerspruch, Opposition, Negation, solange die Vernunft noch nicht möglich ist“ (Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, Neuwied/ Berlin 1962, S. 370.)

Er differenziert zwischen einem Begriff der Rationalität (dies sei heute meist deine technologische Rationalität) und einem Begriff der Vernunft. Vernunft sei das eigentliches Sein, in dem alle entscheidenden Gegensätze (Subjektz-Objekt, Wesen-Erscheinung, Denken-Sein) vereinigt sind, sie sei Einheit von Faktizität und Wahrheit, Ding und Begriff, Realität und Idee, Existenz und Wesen. Seiendes aber ist nicht unmittelar vernünftig, sondern müsse zur Vernunft gebracht werden. Denn es bestehe eine rationale Alternative als negative Möglichkeit der bestehenden irrationalen Gesellschaft. Vernunft ist das Ziel dieser (idealen) Gesellschaft, für die Kritik an der bestehenden Gesellschaft ist Vernunft der Maßstab.

Von der Vernunft unterscheidet Marcuse (ähnlich wie Horkheimer objektive und subjektive Vernunft) eine wissenschaftliche, formale, „technologische Rationalität“. Die moderne Wissenschaft befreie die Natur von allen Zwecken, die Materie aller Qualitäten. Im Vordergrund stehe Operationalisierbarkeit, praktische Verwertbarkeit. Die wissenschaftliche Rationalität ist wertfrei, sie setzt keine Zwecke fest, ist ihnen gegenüber neutral, ist ihrem Wesen nach bloße Form, die beliebigen Zwecken unterworfen werden kann. „Technologisches Apriori“ bedeutet bei Marcuse, die Natur nur noch als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation, zu sehen. Sie gilt als wertfeie Materie, bloßes Material, Rohmaterial für ausbeuterische Verwaltung, ihr ist kein Sinn, Plan oder Zweck immanent. „Technologische Rationalität“ heißt, Dinge, Natur, und auch Menschen, als Mittel an sich zu betrachten. Die Natur wird dieser auf die Erfordernisse des Kapitalismus zugeschnittenen technologischen, instrumentalistischen Vernunft unterworfen, und diese Auffassung setzt sich jedoch auch im Menschen, in der Natur des Menschen, in den Grundtrieben durch in der Anpassung an Erfordernisse des bestehenden Systems. Die Beherrschung der Natur mit Beherrschung des Menschen verbunden, beide werden zu ersetzbaren Objekten. Es gibt hier eine Analogie zur formalen Rationalität Max Webers als Rationalität der angewendeten Mittel für beliebige Zwecke. Marcuse sagt, bei Weber gehe diese formale Rationalität in eine kapitalistische über. (Formale) wissenschaftliche Rationalität hat einen instrumentalischen Charakter, sie ist das Apriori einer Technologie als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft. Sein als Sein als Solches weicht einem Instrumentsein. Das technologische ist auch ein politisches Apriori: die Umgestaltung der Natur hat die des Menschen zur Folge. Vortechnische und technische Vernunft sind verbunden durch die Herrschaft des Menschen über den Menschen als historische Gemeinsamkeit. Technologie bewirkt, dass die Instrumentalisierung der Dinge zur Instrumentalisierung des Menschen wird, Technik dient als Vehikel der Verdinglichung. In der technologischen Wirklichkeit erscheint die Welt der Objekte und Subjekte als eine Welt von Mitteln.

Die formale, positivistische Wissenschaft „transzendiert“ die Realität nicht mehr, qualitativ andere Sichtweisen, neue Beziehungen Mensch-Mensch und Mensch-Natur werden nicht ins Auge gefasst. Da wissenschaftliche Rationalität die Rationalität des Bestehenden ist, Vernunft aber Alternative zum Bestehenden darstellt, ist diese Rationalität unvernünftig. Es handelt sich bei einer nur noch auf bestehendes beschränkten Vernunft um eine Irrationalität, eine Unvernunft, aber im Gewandt der Vernunft und der Rationalität; Vernunft dient als Vehikel der Mystifikation. Wir haben den vollendeten Schein einer rationalen Gesellschaft, der (technologische) Rationalität zur Ideologie werden lässt, denn technologische Rationalität befördert unbemerkt neue Ideologie, die im Produktionsprozess selber steckt. Der Arbeitsprozess wird auf Naturbeherrschung (als Ausdruck der instrumentellen Vernunft) reduziert, dadurch kann Technik eine entscheidende und bestimmende Rolle einnehmen. Es kommt hier bei zu einer Verselbsttändigung des Arbeitsprozesses (und damit des Wertverhältnis) gegenüber den Produzenten. Unfreiheit erscheint als Unterwerfung unter den technischen Apparat, die Menschen werden durch den Produktionsapparat aber in Wiklichkeit regelrecht versklavt.

Da die Technologie indifferent gegenüber jeglichen Produktionszweckenist, werden die gesellschaftliche Produktionsweise die bestimmenden. Der Logos der Technik wird zum Logos der Herrschaft: Technologie dient als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft. Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung stabilisiert das gesellschaftliche System und legitimiert die dadurch aufrechterhaltenen Herrschaftsbeziehungen, sie ist statisch und konservativ. Es kommt auch immer mehr zu einer Verschmelzung von technologischer und politischer Rationalität (Herrschaft über Natur und über Menschen), der technsiche Apparat bestimmt die Orientierung der Politik, der Maßstab ist die Notwendigkeit seiner Erhaltung. Bürokratie und Technologie werden in der spätkapitalistischen Gesellschaft selbst zu Herrschaftsinstanzen, Herrschaft erweitert sich als Technologie, die Organisation der Gesellschaft erfolgt unter den Erfordernissen der Beherrschung. Zweck ist die Selbsterhaltung des Apparates. Er unterliegt keiner Kontrolle, auch nicht der herrschenden Klasse, mehr. Er erfasst alle Lebensbereich, wirkt totalitär. Sie sind miteinander verflochten und als scheinbar objektives, verdinglichtes System Instrumente zur Beherrschung von Natur und Menschen. Technologie erweckt den Anschein einer obektiven Ordnung der Dinge. Wesen und Entwicklungssstand des Kapitalismus seien vom Stand der Technik bestimmt, er erhält sich dadurch, dass er den technischen Fortschritt im Rahmen von Klassenherrschaft hät. Durch die technische Leistungsfähigkeit und den hohen Lebensstandard helfe er der Integration in das System und der Stabilisierung Kapitalismus. Die heutige Technik sei dem Kapitalismus eigentümlich, aber durch diesen nicht begrenzt. Auch den Nationalsozialismus und den Sowjetmarxmismus sieht Marcuse als eindimensionale Gesellschaft mit einer technologischen Rationalität, in der die Bewahrung von Herrschaft zentral sei.

Die Kritik der technologischen Rationalität dient als theoretischer Ausgangspunkt einer umfassenden Gesellschaftskritik Marcuses. Er analysiert Auswirkungen des technologischen Apriori auf auf Sprache, Kultur, Philosophie, Denken und Bewusstsein. All diese stehen im Spätkapitalismus unter der Prämisse. Erhaltung des Apparates. In Sprache und Denken gibt es nur noch eine empirische Dimension: die transzendentale, oppositionelle, negative Dimension wird ausgeblendet. Widerspruch gegen Bestehendes erscheint irrational. Die Folge ist eindimensionales Denken und Verhalten.

Sieht Marcuse Alternativen zur technologischen Rationalität?

Marcuse hatte also eine starke Skepsis gegenüber einem Zusammenhang von menschlicher Emanzipation, technologischem Fortschritt und instrumenteller Rationalismus, wie ihn der klassische Marxismus erhofft. Da die technologische Rationalität dazu tendiere, politisch zu werden, müsse man die Marxsche Vorstellung von der Neutralität der Technik aufgeben. Marcuse sieht Technologie an anderen Stellen keineswegs einseitig. Das Verhältnis sei dialektisch: sie biete sowohl Möglichkeit der Befreiung wie Versklavung. (Er schreibt gar, es gebe nichts in der Technologie, dass menschlliche Freiheit notwendig schmälern würde) Marcuse sieht aber immer die Möglichkeit einer qualitativ anderen Technologie (jenseits von Naturbeherrschung und Wertestruktur). Diese neue Technik würde Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität als Leitprinzipien der Technikanwendung, Technikfolgenabschätzung im Hinblick auf befriedetes Dasein beinhalten Marcuse will kein Zurück zu einer vortechnischem Zustand, sondern eine andere Anwendung von Technik zur Befreiung von Mensch und Natur, weg von Ausbeutung und Zerstörung. Er will eine „menschliche Aneignung“, die gewaltlos und nicht zerstörerisch ist. Der Natur wird bei ihm eine eigene, ideale Zweckmäßigkeit zugespochen. Unter einem wirklichen Sozialismus wäre auch die menschliche Natur verändert, es würde andere (sozialistische) Rationalität herrschen, keine Rationalität der Ausbeutung, keine instrumentalistische Rationalität des Kapitalismus.

Eine Rationalität für einen transzendenten Entwurf der Gesellschaft habe aber zur Bedingung, dass der Entwurf seine eigene höhere Rationalität belegen muss (etwa indem er die produktiven Errungenschaften der Zivilisation erhalten und verbessern und beine bessere Möglichkeit für eine Verwirklichung der Befriedung des Daseins, ein Leben ohne Angst und eine freie Entfaltung der menschlichen Bedürfnisse bieten würde); eine solche „rationale Phantasie“, für die er plädiert, köne zum gesellschaflichen Apriori werden. Er schreibt aber auch etwa, eine von ausbeuterischen Zügen befreite technologische Rationalität könne als Maßstab und Wegweiser für Planung und Entwicklung der verfügbaren Ressourcen für alle dienen.

Und heute?

Die instrumentelle Vernunft, das Denken der Aufklärung und die technologische Rationalität sind wertfreies, formalistisches, instrumentelles Denken, Rationalität ohne Zwecke, ohne Vernunft. Karl Marx und die Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule beklagten das Denken in Tauschverhältnissen, man kann vielleicht auch sagen in Marktkategorien. In den kapitalistischen Systemen herrscht aufgrund der die gesellschaftlichen Beziehungen dominierenden Wertstrukturen eine Tauschrationalität, der nur gleichwertiges gilt, die von konkreten Eigenschaften abstrahiert.

Heute werden immer mehr gesellschaftliche Bereiche unter Marktmechanismen unterworfen. Es gibt kaum einen Bereich mehr, in dem nicht die Kategorien des Marktes und der Konkurrenz gelten Wie Arbeit immer öfter nur mehr Mittel zur Produktion von mehr Geld als mehr Tauschwert (und zwar für Kapitalisten wie Arbeiter) ist, so werden auch die Beziehungen der Menschen immer mehr von einer Tauschrationalität erfasst. Die Marktbeziehungen und ihre Rationalität weiten sich auf immer mehr gesellschaftliche Bereich aus. Die Grundstrukturen des Kapitalismus sind nicht auf Produktion und Distribution beschränkt. „Zweckrationales“, manipulatives Denken, Atomisierung und Egoismus kennzeichnen die Industriegesellschaften nach der geistig-moralischen Wende zum Neoliberalismus, die sich als alternativlose darstellen wollen.

(C) Markus Weber

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Kathedralen der spätkapitalistischen Dekadenz

Aus einer wieder mal richtig genialen Folge von “Neues aus der Anstalt”:



http://www.youtube.com/watch?v=gwoKeSXXhnQ

UPDATE: Warum hat das ZDF das Video aus dem Netz genommen? Hat das was mit diesem furchtbaren Rundfunkstaatsvertrag zu tun? Oder hat das die CDU verboten? Naja, egal, dann so:

http://www.youtube.com/watch?v=7F9CiuaIFVY

Ach, und sehr hörenswert ist auch die letzte Blue Moon-Folge mit Robert Misik als Gast (der Podcast ist aber leider nur bis nächsten Montag online).

Ängstliche Konservative versuchen die Deutungshoheit über unsere Gesellschaft an sich zu reißen. Dazu bedienen sie sich einer “Politik der Paranoia”. Sagt der österreichische Autor Robert Misik in seinem gleichnamigen Buch. Sie verlangen seit langem »weniger Staat«, zumindest in der Wirtschaft; wenn es um die Bespitzelung der Bürger geht, sehen sie das nicht so eng. Sie haben die Finanzströme dereguliert, die Sozialsysteme betrachten sie als unmoralisch, weil die Faulen dadurch belohnt werden. Misiks Plädoyer zeigt, dass eine moderne Politik der sozialen Gerechtigkeit den konservativen Konzepten überlegen ist. Robert Misik kommt heute im Blue Moon vorbei, um zu erklären, was er damit meint und wie man das Problem möglichweise lösen kann.

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