10 Jahre Agenda 2010 – Kein Grund zum Feiern

Heute vor 10 Jahren verkündete Gerhard Schröder im Bundestag die Grundzüge der „Agenda 2010“ und leitete damit eine radikale Wende in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland ein. Parteifunktionäre, Wirtschaftsbosse und Arbeitgeberlobbyisten mögen in diesen Tagen mit Sekt und Champagner anstoßen. Den Menschen, die Opfer dieser Politik wurden, wird nicht zum Feiern zumute sein – und im Hartz-IV-Regelsatz ist ohnehin nur Mineralwasser vorgesehen.

Beschäftigungsbilanz der Agenda 2010

Auch wenn sich die Medienlandschaft in den vergangenen Jahren ein wenig gewandelt haben mag und nun auch vereinzelt  in den Mainstream-Medien Kritik an der Agenda-Politik vernommen werden kann, ist immer wieder – und zwar nicht nur von entschiedenen Befürwortern der Agenda 2010 – zu hören, es sei „immerhin unbestreitbar“, dass durch die Agenda-Politik “im Vergleich zu anderen Ländern Deutschland so gut durch die Finanzmarktkrise” gekommen sei. Hinterfragt wird dies nicht – neoliberale Meinungsmache setzt nicht auf argumentative Beweisführung, sondern auf die selben immer und immer wieder wiederholten apodiktischen Slogans. Ein objektivierterer Blick auf die Bilanz der Agenda 2010 findet heute woanders statt, etwa in Blogs wie auch in nicht wirtschaftsliberal dominierten Teilen der Wissenschaft.

minilohnSo hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung Beschäftigungseffekte der Agenda 2010 untersucht. Dabei ist festzustellen: Die Erwerbstätigenzahl ist in den vergangenen Jahren zweifelsohne stark gestiegen (eines der stärksten Argumente der Agenda-Befürworter). Jedoch hat dabei das Arbeitsvolumen, die Zahl der geleistet Arbeitsstunden, stagniert (dieser Befund wurde auch von der Bundesregierung bestätigt). Es gibt mehr Beschäftigte, aber auch weniger regulär Beschäftigte, mehr Teilzeitstellen und Minijobs. Im Wirtschaftsaufschwung nach der Agenda-Politik wurden zwar mehr Arbeitsplätze geschaffen als in dem vor der Agenda – jedoch nur, weil dieser auch länger dauerte. Die Beschäftigungsintensität (der Beschäftigungszuwachs pro Wirtschaftswachstum) war vor der Agenda sogar etwas höher. Vor allem die gute Konjunktur führte also zur Zunahme der Beschäftigung. Hauptverantwortlich für die heutige Beschäftigtenzahl ist aber – ausgerechnet – die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009; denn in dieser nahm die Beschäftigung, im Gegensatz zu fast allen anderen betroffenen Ländern, sogar leicht zu. Woran lag das? An der Stabilisierungspolitik, Konjunkturprogrammen, Kurzarbeit sowie an Arbeitszeitkonten in Unternehmen, die eine hohe Flexibilität ermöglichten und Entlassungen vermieden. Zusammenfassendes Ergebnis der Studie: “Hartz & Co. haben weder das Wachstum noch die Beschäftigung erkennbar beeinflusst.” (more…)

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Für einen Euro mehr

Die Bundesregierung plant, die Zuschüsse für die sogenannten „Ein-Euro-Jobs“ zu kürzen und strengere Richtlinien für diese aufzustellen. Dadurch wird deren Zahl zukünftig stark eingeschränkt werden. Dieses Vorhaben ist ein richtiger Schritt, da in der Vergangenheit dieses arbeitsmarktpolitische Instrument sehr oft nicht in seinem eigentlichen Sinne benutzt wurde und Erfolge nahezu komplett ausblieben. Zudem stellt sich aber nun um sehr mehr auch die Frage, ob die Ein-Euro-Jobs und die hinter ihnen stehenden Ideen überhaupt sinnvoll sind – oder nicht gleich ganz abgeschafft gehören.

Konzept und Ziele der Ein-Euro-Jobs

Die im offiziellen Neusprech “Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung” genannten Ein-Euro-Jobs wurden in Deutschland seit 2005 im Zuge der Hartz-Gesetze stark ausgebaut. Dabei handelt es sich um Arbeitsmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger, die für drei bis zwölf Monate für 15 bis 30 Stunden die Woche bestimmte Tätigkeiten, die „im öffentlichen Interesse liegen“, ausführen. Sie erhalten dafür zusätzlich zu den Hartz-IV-Bezügen einen Stundenlohn von meist zwischen 1 und 1 Euro 50. Es kann sich dabei beispielsweise um Tätigkeiten wie Park- oder Landschaftspflege, Hausmeistertätigkeiten oder Hilfe in Pflegeeinrichtungen handeln. Die Beschäftigungsträger der Ein-Euro-Jobber, bei denen es sich meist um Kommunen, Verbände, öffentliche Unternehmen oder (auch private) Wohlfahrtskonzerne handelt, erhalten für die “sozialpädagogische Betreuung” der Teilnehmer zudem bis zu 500 Euro im Monat. Als Grund wird angeführt, dass vor allem solche Personen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben, durch diese Maßnahmen, wie man sich ausdrückt, “gefördert” werden sollen.

Diese “Förderung” ist jedoch nicht freiwillig: Bei Ablehnung droht eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II für drei Monate um mindestens 30%. Solche Sanktionen kommen keineswegs selten vor. So wurden im letzten Jahr 102.631 Sanktionen ausgesprochen, weil die Betroffenen sich weigerten, eine als zumutbar eingestufte Arbeit, Ausbildung oder einen Ein-Euro-Job anzunehmen. Der Begriff “Zwangsarbeit” wäre also für Ein-Euro-Jobs zumindest nicht immer unangebracht. Als Ziel der Ein-Euro-Jobs wird angegeben, vor allem Langzeitarbeitslose an den Arbeitsalltag und einen Tagesrhythmus zu gewöhnen, die Arbeitsdisziplin zu stärken und ähnliches. Jede Art von Arbeit für Arbeitslose steigere deren Beschäftigungsfähigkeit und ihre sozialen Fähigkeiten, so eine der Ansichten dieses im Gedankengebäude des Workfare entwickelten Konzepts. Zudem könne ein zusätzlicher Nutzen durch Arbeiten für die Gesellschaft entstehen, für die keine Nachfrage in der Privatwirtschaft gegeben ist. Sie werden zudem statistisch nicht als Arbeitslose gezählt – was ein weiterer Grund sein dürfte.

Mit pro Jahr 600.000 bis 700.000 teilnehmenden Personen sind Ein-Euro-Jobs das am häufigsten eingesetzte Aktivierungsinstrument im Rechtskreis des SGB II. Im März 2011 lag laut Bundesagentur für Arbeit die Zahl der Ein-Euro-Stellen bei 172.400. Dies ist schon deutlich weniger als in den letzten Jahren, in Spitzenzeiten gab es bis zu 300.000 Teilnehmer. Die Gesamtkosten sind dadurch trotz der äußerst niedrigen Verdienstmöglichkeiten recht hoch: Im Jahr 2010 wurden für Ein-Euro-Jobs insgesamt 1,7 Milliarden Euro ausgegeben. Bei derartigen Ausgaben stellt sich die Frage, wie die Realität der Ein-Euro-Jobs aussieht und ob sie effektiv sind. (more…)

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Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts

Wenn er einmal etwas anderes hören wolle, als was 90% der Ökonomen in Deutschland erzählen, solle er Heiner Flassbeck einladen – dann könne man sich selbst ein Bild davon machen, wer Recht hat. So leitete Felix Hofmann vom AStA der Universität Trier einen Vortrag von Heiner Flassbeck zum Thema “Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts” ein. In einem prall gefüllten Hörsaal sprach dieser am Montag über die Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert, über internationale Krisen der Wirtschaft und der Umwelt, und über Maßnahmen jenseits des neoliberalen Mainstreams in den deutschen Wirtschaftswissenschaften. Eine Aufzeichnung des Vortrages (MP3) ist hier zu finden.

Jahrhundert der Krisen

Flassbeck erläuterte zunächst, dass die Welt zurzeit mehrere ernste Krisen durchlaufe, so beispielsweise eine Umwelt-, eine Schulden-, eine Handels-, eine Arbeitsmarkt- und eine Finanzkrise. Die Finanzkrise habe eine der schlimmsten weltweiten Krisen überhaupt dargestellt. Dennoch, so merkte er an, habe es in Folge der Finanzkrise, anders als bei anderen vergleichbaren Ereignissen, nicht etwa Untersuchungskommissionen gegeben, und noch nicht einmal Diskussionen über die Ursachen oder etwa über die “Systemrelevanz“ von Banken. Vor zweit Jahren seien alle auf einmal Keynesianer gewesen. Heute wollen viele davon nicht mehr wissen und vertrauen wieder der neoliberalen Lehre.

Ein zentrales Thema des Vortrages waren die internationalen Finanzmärkte. Die meisten internationalen Rohstoffpreise sind nicht von realem Angebot und realer Nachfrage bestimmt, sondern “financialized”, werden auf Finanzmärkten bestimmt, und sind damit auch für Spekulationen anfällig. Die Spekulation auf Nahrungsmittel hatte im Jahr 2008 zu einer weltweiten Hungerkrise und zu Toten geführt. Anders, als es die Finanzinstitute ursprünglich vorhatten, als sie sich auf den Rohstoffmarkt ausbreiteten, diversifizierten sie nicht das Risiko, sondern potenzierten es im Gegenteil. Ob Rohstoffpreise, Devisen, Staatsanleihen, Aktien: Sie alle werden auf Finanzmärkten gehandelt – und sie alle folgen in ihrem Trend fast haargenau den gleichen Zyklen. Gibt es auf einem Markt eine Krise, geht die mit Krisen auf allen anderen einher, gibt es einen Aufschwung ebenso. Seit März 2009 geht es auf ihnen allen wieder bergauf – die Frage ist jedoch, wie lange, bis dass die nächste Spekulationsblase platzen wird. (more…)

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20 Euro Anreiz

Mit den neuen Regelungen für Zuverdienstmöglichkeiten zu Hartz IV ist der Bundesregierung kein großer Wurf gelungen. Sie sind so ausgestaltet, dass sie weiter den Niedriglohnsektor fördern und kaum mehr Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung schaffen werden.

Das Kombi-Lohn-Modell ist schon an sich sehr problematisch. Es bedeutet eine staatliche Subvention von Niedriglöhnen. Neue Arbeitsplätze werden kaum geschaffen, vielmehr werden reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze durch staatlich unterstützte Beschäftigung durch Niedriglöhner ersetzt. Das Lohnniveau wird allgemein gesengt. Außerdem führt das Modell kaum zu einer Integration der Teilnehmenden in den normalen Arbeitsmarkt. Zuverdienstmöglichkeiten zusätzlich zum Arbeitslosengeld II sind im Grunde sinnvoll, bei der derzeitigen Ausgestaltung und den äußerst niedrigen Anrechnungsmöglichkeiten jedoch eher schädlich.

Daran nun wird aber durch die Neuregelung der schwarz-gelben Bundesregierung kaum etwas verbessert. Bis zu 100 Euro Hinzuverdienst wird man weiterhin komplett  behalten dürfen, von Bruttoeinkommen von 100 bis 800 Euro nur 20 %. Einzig von Einkommen von 800 bis 1000 Euro bleiben künftig 20 statt 10% in der Tasche des Arbeitenden; von 1000 bis 1200 weiterhin nur 10%. Im Höchstfall ergibt sich also ein Mehrbetrag von 20 Euro (10% vom Bruttoverdienst von 800 bis 1000 Euro, also von 1000-800= 200 Euro). Diese Regelung betrifft mit 300.000 Personen nur etwa 20% der Arbeitslosen, die neben Hartz IV einer Beschäftigung nachgehen. (more…)

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Sensationelle Entwicklung oder simple Täuschung?

Die angeblichen Wunder um den Rückgang der Erwerbslosenzahlen in Deutschland im April 2010 sind relativ einfach zu entzaubern: es handelt sich um eine bloßen statistischen Trick. Statt durch eine Erholung ist der deutsche Arbeitsmarkt in Wirklichkeit durch mehr Prekarität gekennzeichnet.

Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt?

Die deutschen Medien jubeln, dass die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sensationell sei. Eine Schlagzeile jagt die nächste. Staunen, Wunder, Euphorie. Alle scheinen völlig aus dem Häuschen zu sein. Und alles kam völlig überraschend! Ein unfassbar starker Rückgang der Arbeitslosigkeit wird verlautbart, die Wirtschaft kommt wieder in Schwung – und das haben wir alles nur unserer klugen und umsichtigen Regierung zu verdanken! Klingt ja erstmal ganz gut, könnte man denken. Macht die Regierung ja doch vielleicht mal was richtig. Doch wie sieht es wirklich aus?

178.000 Erwerbslose wurden diesen April weniger gezählt als im April 2009, so meldet man. Doch hinterfragt wird nicht. Wieso auch? Heißt das etwa nicht, 178.000 Erwerbslose weniger, fragt man sich jetzt zu Recht? Um die Pointe vorwegzunehmen: Nein, das heißt es nämlich nicht! Das Stichwort lautet: Schönrechnen. Dabei ist es hier noch einfacher als bei vielen anderen der üblichen Verdrehungnen und Verzerrungen, hinter den nackten Zahlen die tatsächliche Entwicklung zu erkennen. Eigentlich schon zu einfach, ist es doch nur ein wirklich ganz billiger Statistiktrick.

Ein simpler Rechentrick

Denn, tadaa!, alle Arbeitslosen, die bei privaten Arbeitsvermittlern gemeldet sind, zählt man 2010 einfach nicht mehr zu den Arbeitslosen! Laut Schätzungen sind dies etwa 200.000. Schauen wir noch mal auf den angeblichen Rükgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vergangenen Jahr. Wie hoch soll der noch mal gewesen sein? Ach ja, 178.000. Und schon hat man statt tatsächlich mehr Arbeitslosen sogar offiziell weniger! Und der angeblich so überraschende “Rückgang” im Vergleich zum Vorjahr ist dann keineswegs mehr überraschend (und ja noch nicht einmal ein Rückgang). So einfach kann man sich Erfolge stricken, so einfach kann man von katastrophalen Entscheidungen in der Wirtschaftspoliik ablenken.

Wenn diese Tatsache in den meisten Berichterstattungen mal gar nicht erwähnt wird, weiß man schon, was man hinsichlich journalistischer Qualität von diesen zu halten hat. Offenbar freut man sich in vielen Redaktionen so sehr, endlich mal wieder etwas Positives über die Regierung schreiben zu können, dass man alle Einwände, auch wenn sie noch so offensichtlich sind, schnell unter den Teppich kehrt. Hat ja hoffentlich keiner bemerkt. Ok, wäre diese Maßnahme wenigstens irgendwie statistisch sinnvoll, meinetwegen (trotzdem hätte man es erwähnen müssen). Aber wieso soll denn bitte ein Arbeitsloser, der bei einer privaten Job-Agentur nach einem Arbeitsplatz sucht, weniger arbeitslos sein als jemand, der bei der Bundesagentur gemeldet ist? Nein, so eine Zählweise ist nur verschleiernd und gar kontraproduktiv, erschwert sie doch eine für politische Progamme notwendige umfassende Bestandsaufnahme des Arbeitsmarktes.

Eher Wandlung statt Zunahme der Arbeitsplätze

Natürlich, bleiben wir fair, gab es dennoch einen relativ großen Rückgang im Vergleich zum Vormonat. Worauf ist dieser nun zurückzuführen? Das Kurzarbeitergeld war im Prinzip richtig und hat viele Jobs gerettet, keine Frage (aber natürlich hätten gößere Konjunkturprogramme auch mehr bewirken und die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sich schneller erholen lassen). Aber: die Kurzarbeit, sowie die oft erfolgte Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen (s.u.), hat dazu geführt, dass zwar vielleicht nicht die Zahl der Beschäfigten, aber die Arbeitsleistung insgesamt (in Stunden) zurückgegangen is, auch das muss man betrachten. Und andere Faktoren, die zu den Arbeitslosenwerten im April beigetragen haben, wie saisonale und demographische, darf man auch nicht vernachlässigen.

Andere wichige Eckpunkte des Arbeitsmarktes, die die Bundesagentur bekanntgab, werden in der medialen Berichterstattung meist einfach verschwiegen: Die Zahl der Unterbeschäftigten blieb im vergangenen Jahr weitgehend konstant (4,6 Millionen). Die gemeldeten offenen Stellen sind nicht viel mehr geworden. Es gibt deutlich mehr Hartz-IV-Bezieher (6,7 Millionen), darunter auch viele “Aufstocker”, die nur Niedriglöhne verdienen. Im letzten Jahr gab es 300.000 Vollzeitstellen weniger und 200.000 Teilzeitsarbeitsstellen mehr. Die Zeitarbeit hat deutlich zugenommen. Insgesamt gab es deutlich mehr prekäre Beschäftigungsformen und nur wenig tatsächliches Wachstum der Arbeitsplätze. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden durch prekäre ersetzt. Wahrlich kein Grund, in voreiligen Jubel auszubrechen.

[Quellen: Arbeitsmarkt: Wo das “deutsche Job-Wunder” herkommt (Frankfurter Rundschau), Arbeitsmarkt im April (NachDenkSeiten)]

Deutschland, Land der Niedriglöhne

Das Wachsen prekärer Arbeitsformen und die zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft wird auch von ganz unerwarteter Seite bestätigt. Die Bertelsmann-Stiftung (!) stellt in einer neuen Studie (“Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit. Benchmarking Deutschland: Befristete und geringfügige Tätigkeiten, Zeitarbeit und Niedriglohnbeschäftigung”; Autoren: Werner Eichhorst, Paul Marx, Eric Thode; Zusammenfassungen: Taz, Bertelsmann, S. 5-7 der Studie) fest, dass in Deutschland zwischen 2000 und 2007 von 17 OECD-Ländern die Lohnungleichheit am meisten gewachsen ist. Untersucht wurden in der Studie die EU- und die OECD-Staaten. Auch im europäischen Vergleich gebe es in Deutschland eine “ausgeprägte Lohnspreizung”. Außerdem ist es hier sehr schwer, in jeweils höhere Lohngruppen aufzusteigen.

Niedriglöhne haben sich hierzulande sehr stark verbreitet. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Frauen, junge Arbeitnehmer und Ausländer sowie der Bau- und der Dienstleistungssektor. Der Niedriglohnanteil unter den beschäftigen Frauen ist sogar der zweithöchse unter allen Industrieländern (nach Südkorea, noch vor den USA). Der deutsche Niedriglohnsektor hat außerdem am meisten zugenommen und lag 2007 bei einer Größe von 17,5% der Beschäftigten. Ursachen sind eine abnehmende Tarifbindung, mehr “Aktivierungsbemühungen von Transferbeziehern” und eine Zunahme von Mini-Jobs, Teilzeitarbeit und Aufstockern.

Wachsende Prekarität

Ein weiteres Ergebnisse der Studie: atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit (auch Zeitarbeit genannt), befristete Beschäftigung und Mini-Jobs haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen, oft auf Kosten regulärer Beschäftigung. Zeitarbeit wird dabei nicht primär genutzt, um den Beschäftigungsstand der Auftragslage anzupassen, sondern als eigenständige prekäre Beschäftigungsform (vor allem in der Industrie). Sie führt – ähnlich bei befriseter Beschäftigung – außerdem nicht zu mehr Übergängen in reguläre Beschäftigung. Und: die Bertelsmann-Stiftung  empfiehlt eine Angleichung der Bezahlung und Arbeitsbedingungen von Zeitarbeit und regulärer Beschäftigung. Außerdem stellt sie fest, dass Minijobs zu niedrigeren Löhnen und mehr Belastung für die Sozialsysteme führen. Diese sowie andere Kombilohn-Modelle sollten nicht ausgeweitet werden. Der Kündigungsschutz solle bei unbefristeter wie bei befristeter Beschäftigung (und auch bei der Leiharbeit) von der Beschäftigungsdauer abhängig gemacht werden. Außerdem fordert sie eine Pflichtversicherung für Selbstständige und eine Verstärkung von qualifizierenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht neu, auch ich habe auf Guardian of the Blind schon auf entsprechende Untersuchungsergebnisse (z.B. zur Lohnungleichheit und zur Leiharbeit oder zu Kombilöhnen) hingewiesen. Jedoch ist es auch, so wenig man die Bertelsmann-Stiftung mögen muss, gut zu sehen, dass mal nicht alle Neoliberalen vor den ökonomischen Tatsachen die Augen verschließen – und vor allem, dass sie diesmal sogar bereit sind, wenigstens teilweise die Konsequenzen zu ziehen und den Befunden entsprechnde Forderungen zu stellen. Würden unsere Politiker wenigstens ab und zu mal zu solchen Einsichten fähig sein, wäre schon viel geholfen. Mit einer anderen Interpretation könnte man sagen: Die Wandlungen in der deutschen Gesellschaft sind so groß, dass sie nicht mehr geleugnet werden können, auch nicht von den neoliberalen Vordenkern. Auch wenn sie oft zögern, das Wort Prekarität in den Mund zu nehmen, sondern lieber von Strukturwandel oder ähnlichem sprechen. Irgendwie muss man wohl doch noch versuchen, Schlechtes schönzureden.

Aufkommende Krise und deutsche Verantwortung

Wie dem auch sei, die Fakten sprechen für sich, und sie zeigen wenig Erfreuliches. Statt einer Zunahme von regulären, sicheren, gut bezahlten Arbeitsplätzen wurden diese oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch Unsicherheit, schlechte Bezahlung und schlechtere Arbeitsbedingungen abgelöst. Die Kurzarbeit mag Schlimmeres verhindert haben, doch sie verschleiert auch teilweise das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise. Solche Tatsachen zu benennen wäre Aufgabe eines kritischen und sachgerechten Journalismus, und nicht das blinde Zujubeln zu Regierungsverlautbarungen. Doch das will man offenbar gar nicht, wie auch die Berichterstattung zu Griechenland zeigt.

Die aufkeimende Euro-Krise, für die Angela Merkel durch ihr verantwortungslose Handeln die Hauptverantwortliche ist, wird in Europa zu fatalen Folgen führen, und, das ist abzusehen, sie wird auch an der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Arbeitsmarkt nicht spurlos vorbeiziehen. Doch sei es drum, hat man ein paar Wähler in Nordrhein-Westfalen durch die von den Mainstream-Medien bejubelte “harte Haltung” zu Griechenland und die “sensationellen Erfolg am Arbeitsmarkt” (die ja, wie gezeigt, nur sehr wenig sensationell sind), gewonnen, dann ist ja das Ziel erreicht. Auch wenn solche möglichen Wahlerfolge aufgrund der drohenden Krisen relativ klein und unbedeutend erscheinen könnten. Doch auch große Lawinen werden von kleinen Erschütterungen ausgelöst.

Bilder:

Eigene Screenshots; Merkel: http://www.flickr.com/photos/30698512@N04/4414905694/ / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

[Dieser Artikel wurde auch beim binsenbrenner.de und beim Oeffinger Freidenker veröffentlicht.]

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Kombilöhne: sinnvoll oder nicht?

Hartz IV und die Agenda 2010 haben in den letzten Monaten viel an Zustimmung verloren. Auch die urprünglichen Architekten in der SPD sind von vielen Punkten abgerückt. Die Höhe der Leistungen steht dabei, sicher auch zu Recht, im Zentrum der Kritik. Doch wie sieht es mit anderen Aspekten der Hartz-Gesetze aus? Wie sind sie, v.a. aus arbeitsmarktpolitischer Sicht, zu bewerten? Gehören auch sie auf den Prüfstand? Hier soll als ein Punkt zunächst einmal das Konzept der staatlichen Kombilöhne betrachtet werden.

 

Konzept und Praxis von Kombilöhnen

Kombilöhne beschreiben eine staatliche Subvention von Niedriglöhnen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: entweder werden die Niedriglöhne direkt für den Arbeitnehmer durch staatliche Transfers aufgestockt, oder der Arbeitgeber erhält Lohnkostenzuschüsse oder Abschläge bei Sozialversicherungsbeiträgen als Subventionen vom Staat zur  Einstellung/ Beschäftigung, z.B. auch von bestimmten Arbeitnehmerzielgruppen (etwa Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen).

In Deutschland gibt es die Zuschüsse zweiten Typs nur zu Beginn neuer Beschäftigungsverhältnisse. Der erste stellt sich so dar, dass es Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Bezug des ALG II gibt. Die Zahl dieser “Aufstocker” liegt in Deutschland bei über einer Million, die meisten davon arbeiten als geringfügig Beschäftigte in Mini-Jobs oder Teilzeitarbeit. Zudem besteht die Möglichkeit, dass Arbeitslose verpflichtet werden, für eine befristete Zeit Arbeitsgelegenheiten, die “im öffentlichen Interesse liegen” zur “Sicherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit”  bei einem äußerst geringen Zuverdienst wahrnehmen zu müssen (“1-Euro-Jobs”).

 

Argumente pro Kombilöhne

Laut der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland deshalb entstanden, da die Löhne im Niedriglohnbereich über der Grenzproduktivität dieser Arbeiten lag. Die Gewerkschaften hätten zu hohe Löhne für Geringqualifizierte durchgesetzt, (wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass diese über einem reinen Marktlohn lägen), deshalb seien in diesem Bereich Beschäftigungshemmnisse enstanden. Durch eine stärkere “Spreizung der Löhne nach unten” könne mehr Beschäftigung gefördert werden. Zu gewährleisten, dass man “von seiner Arbeit leben könne”, sei nicht Aufgabe der Wirtschaft, sondern eine staatliche Aufgabe. Deshalb müsse dieser die Löhne von Geringqualifizierten wenn nötig bis zum Existenzminimum aufstocken.

Durch die Beschäftigung von 1-Euro-Jobbern kann außerdem ein Nutzen durch Arbeiten für die Gesellschaft entstehen, für den keine Nachfrage in der Privatwartschaft gegeben ist. Jede Art von Arbeit für Arbeitslose steigere außerdem deren Beschäftigungsfähigkeit und ihre sozialen Fähigkeiten. Gerne werden auch Parolen wie “keine Leistung ohne Gegenleistung” verwandt, doch stellen diese eher Populismus als echte Argumente dar (diese wurden vorher aufgezählt).

 

Argumente gegen Kombilöhne

Ein Risiko wäre, dass es für ALG II-Empfänger rational erscheinen könnte, aufzustocken, statt einer regulären Beschäftigung nachzugehen. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten sind in der Tat äußerst schlecht. Bis 100 Euro kann man zwar dazuverdienen, ohne dass dies angerechnet wird. Für Bruttoeinkommen von 100 bis 800 Euro jedoch beträgt der Grenzsteuersatz jedoch 80%, für 800 bis 1200 Euro sogar 90%. Der Grenzsteuersatz ist hier also viel höher als der Spitzensteuersatz von 42%. Geringfügige Beschäftigungen bis 100 Euro/ Monat lohnen sich also eher, aber die Anreize, eine Beschäftigung anzunehmen, sind dann monetär gesehen eher gering, da nur ein kleiner Teil des Hinzuverdienstes behalten werden darf (außer wieder, wenn sie so gut entlohnt ist, dass man kein ALG II mehr beziehen muss). Eine Intergration in reguläre Beschäftigung ist in der Realität nicht gegeben: laut einer aktuellen Studie des IAB gehen nur 0-3% mehr der Arbeitslosen, die in 1-Euro-Jobs gearbeitet haben als die, die es nicht haben, 28 Monate nach Beginn der Maßnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Zudem seien die Maßnahmen nicht zielgruppengenau (siehe dazu auch: Telepolis: Diffamierung von Erwerbslosen, freiwillige Arbeitsangebote oder Workfare).

Groß ist auch das Risiko, dass Unternehmen die Löhne im Bereich geringfügiger Beschäftigung stark senken. Das Einkommen der Beschäftigten muss dann immer mehr durch den Staat gesichert werden, die Unternehmen enziehen sich ihrer “gesellschaftlichen Verantwortung”. Betriebe, die durch Lohnsenkungen ihre Gewinne steigern wollen, finanzieren dies auf Kosten der Staatskasse, und in diesen Lohndruck werden auch andere Unternehmen und höhere Lohnbereiche mit hineingezogen.

Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit den Agenda-Reformen extrem gewachsen und inzwischen nach den USA der gößte aller Industrieländer. Jedoch legen Untersuchungen nahe, dass dies auf Kosten der regulären Arbeit geschah und der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit der Agenda stärker auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen war. Durch die Vergößerung des Niedriglohnsektors sinkt die Binnenachfrage, was (insbesondere zu Zeiten, in denen der Export stark einbricht) zu weniger Produktion und zu weniger Arbeitsplätzen führt. Die sozialen Folgen sind außerdem äußerst negativ – es wurde von der Politik gezielt ein prekärer Gesellschaftsbereich geschaffen.

 

Fazit

Maßnahmen der Agenda 2010, auch die Kombilöhne, haben zu einem Anstieg des Niedriglohnsektors geführt, ohne viele neue Arbeitsplätze geschaffen zu haben. Sie haben damit ihr vorgegebenes Ziel verfehlt. Stattdessen stieg lediglich die Gewinnquote (auf Kosten der Lohnqute). Die Lohnspirale nach unten wird durch Kombilöhne gefördert. Natürlich gibt es auch gute Gründe für die Annahme, dass tatsächlich diese breiten Lohnsenkungen im Interesse der Agenda-Maßnahmen standen (auch wenn sich manche davon wirklich die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen versprochen hatten).

Im Grunde kann die Möglichkeit, bei Empfang von Arbeitslosenleistungen hinzuverdienen zu können, sinnvoll sein, aber nicht in der derzeitigen Ausgestaltung. Dazu müssen auf jeden Fall die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert werden. Dies dient auch dem sicherlich zu unterstützenden Ziel, dass “sich Arbeit lohnen muss”. Dafür, und zur Vermeidung einer Ausplünderung des Staates durch Unternehmen, die reguläre Beschäftigung durch Niedriglöhner ersetzen, ist eine weitere Senkung der Hartz-IV-Sätze kein geeignetes Mittel. Vielmehr wäre für diese Ziele die Einführung eines Mindestlohns sinnvoll.

 

[Dieser Beitrag ist auch beim Oeffinger Freidenker und beim binsenbrenner.de erschienen.]

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Neoliberalismus, Agenda 2010 und Hartz IV: was würden Marx und Engels sagen?

Kann man moderne Erscheinungen auf Grundlage einer marxistischen Theorie, v.a. der Marxschen Werttheorie, deuten? Mal ein Gedankenspiel: wie würden Karl Marx und Friedrich Engels z.B. den Wandel des Kapitalismus hin zu einer neoliberalen Variante erklären? Was würden sie, um etwas noch Aktuelleres zu nehmen, zur Agenda 2010 und zu Hartz IV sagen?

Beispiel 1: Neoliberalismus

Marx und Engels beklagten das Denken in Tauschverhältnissen. In den kapitalistischen Systemen herrscht aufgrund der die gesellschaftlichen Beziehungen dominierenden Wertstrukturen eine Tauschrationalität, der nur Gleichwertiges gilt, die von konkreten Eigenschaften abstrahiert.

Heute werden immer mehr gesellschaftliche Bereiche unter Marktmechanismen (als Kapitalverwertungsprozesse) unterworfen; der Ökonomisierungsprozess, den bereits Marx prognostiziert hat, nimmt immer weitere Ausmaße an. Der Spätkapitalismus hat sich vom Wohlfahrtsstaat und organisierten Kapitalismus gewandelt und mehr Züge eines liberalen, finanzmarktgesteuerten, marktbasierten Kapitalismus angenommen. Es gibt kaum einen Bereich mehr, in dem nicht die Kategorien des Marktes und der Konkurrenz gelten. Die Beschäftigten sind nicht mehr nur für den Gebrauchswert-, sondern auch für den Verwertungsapekt ihrer Arbeit zuständig. Die Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ist eher noch stärker geworden. Wie Arbeit (und zwar für Kapitalisten wie Arbeiter) immer öfter nur noch Mittel zur Produktion von mehr Geld – als mehr Tauschwert – ist, so werden auch die Beziehungen der Menschen immer mehr von einer Tauschrationalität erfasst. Die Marktbeziehungen und ihre Rationalität weiten sich auf immer mehr gesellschaftliche eaus. Die Grundstrukturen des Kapitalismus sind nicht auf Produktion und Distribution beschränkt.

„Zweckrationales“, manipulatives Denken, Atomisierung und Egoismus kennzeichnen die Industriegesellschaften nach der geistig-moralischen Wende zum Neoliberalismus, die sich als alternativlose darstellen wollen. Angesichts dieser Entwicklungen bieten sich an die Marxsche Analyse der Wertform anlehnenden Konzepte (etwa der Kritischen Theorie) wertvolle Hilfen zur Deutung dieser Vorgänge, auch wenn die Gegenmittel, die sie bieten kann, aufgrund ihrer Radikalität immer schwieriger durchsetzungsfähig erscheinen.

Beispiel 2: Agenda 2010 und Hartz IV

Nach der neoklassischen Wirthschaftslehre, der die Konstrukteure und Befürworter von Maßnahmen wie der Agenda 2010 und Hartz IV folgen, entsteht Arbeitslosigkeit, wenn die Lohnhöhe über der Grenzproduktiität der Arbeit liegt. Durch Hartz IV wurde gezielt das Lohnniveau gedrückt, im Niedriglohnbereich auf eben das gesunkene Niveau der Sozialleistungen, aber auch in den anderen Bereichen kam es oft zu Reallohnsenkungen. Der Niedriglohnsektor ist massiv expandiert. Und selbst auf einem Niveau, das kaum über dem von Hartz IV liegt, werden die Menschen nun gezwungen, jede Arbeit anzunehmen. Und da nun die Löhne, wie beabsichtigt, so stark gesenkt wurden, dass sie oft auf Hartz IV-Niveau liegen, sollen wiederum die Sozialleistungen gesenkt werden. Begründet wird dies dann mit dem “Lohnabstandsgebot”. Doch gerade so ein Vorgehen wurde auch mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe plus der Senkung verfolgt. “Arbeit muss sich wieder lohnen”. Doch wenn die Löhne fallen, ist die Folge für die marktradikalen Agitatoren und die Mietmäuler der Arbeitgeber-Lobbys nicht eine (wie auch immer zu erreichende) Erhöhung der Löhne, sondern wiederum eine nochmalige Senkung der Sozialleistungen. Ein Teufelskreis in den Abgrund.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/dunechaser/104968057/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

Die Politik folgte bei Hartz IV altbekannten Mustern des Kapitalismus, zumal seiner neoliberalen, marktradikalen Ausprägung. Marx hatte erkannt, dass der Arbeitsmarkt ein besonderer Markt ist, da die Arbeiter, da nicht im Besitz von Produktionsmitteln, nur ihre Arbeit zu verkaufen hätten:

Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner
Arbeitskraft nötigen Sachen.
(Das Kapital Band I, Erstes Buch, Viertes Kapitel)

Marx sagte, dass das Kapital dazu tendieren wird, der Arbeit nur das zu bezahlen, was sie zu ihrer Erhaltung und Reproduktion (sprich: zum Überleben und sich Vermehren) benötigt (den übrigen Wert, den die Arbeiter schaffen, eignen sich die Kapitalisten als Mehrwert an und schaffen dadurch Kapital). In Zeiten, in denen das Reserveheer der Arbeitslosen im Millionenbereich liegt, tritt selbst dieser Minimalaspekt in den Hintergrund. Der Wert, den das Kapital der Arbeit zu zahlen bereit ist, hat laut Marx immer ein historisches und moralisches Element. In den letzten Jahrzehnten sind in Deutschland trotz kontinuierlichem Wirtschaftswachstums die Löhne real gesunken (von 2000 bis 2007 etwa als dem einzigen EU-Land), hat die Lohnquote massiv abgenommen. Das Kapital hat es geschafft, seine Gewinneinkünfte massiv zu steigern. Diese Gewinne aber werden zu einem sogar abnehmenden Teil für Investitionen verwendet, sondern gehen immer mehr in Spareinkommen und suchen sich Betätigungfelder auf den Finanzmärkten. Auf diesen nun ist der Tauschwert (das Geld) vollkommen vom Gebrauchswert (der Nützlichkeit der Verwendung von Gütern) entkoppelt, der Fetischismus des Geldes zur höchsten Stufe erklommen.

Auch die Bezahlung der Arbeit ist von ihrem Gebauchswert, von ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit entkoppelt. Der Arbeitslohn resultiert aus Knappheit, dass ist richtig. Doch alle Knappheit ist nebensächlich, wenn die daher hochbezahlte Arbeit tatsächlich gesellschaftlich nicht nützlich, sogar schädlich ist, und die ganze Irrationalität dieser kapitalistischen Struktur zeigt sich, wenn Studien beweisen, dass niedrig bezahlte Tätigkeiten wie KRankenschwester oder Müllmann deutlich wertvoller für die Gemeinschaft sind, als etwa Steuerberater oder Börsenmakler (die nicht nur keine Gebrauchswerte, keine nützlichen Dinge schaffen, sondern sogar insgesamt Geld, also Tauschwerte, vernichten. Die größten Vertreter des Kapitalismus zerstören gesamtgesellschaftlich also das, worauf der Kapitalismus aufbaut – es wäre ja lustig, wenn die Folgen nicht die Gemeinschaft zu tragen hätte).

Die Flexibilierung des Arbeitsmarktes, die Erleichterung der Leiharbeit, die Senkungen der Sozialleistungen und die anderen Maßnahmen der Agenda 2010 verstärkten den Arbeitsmarkt als einen “nicht perfekten Markt”. Man hat nicht mehr die Möglichkeit, über die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit frei zu entscheiden, wenn man andernfalls mit Sanktionen bedroht ist. Die Subsumtion der Arbeit unter das Kapital wurde nur vertieft.

Aufgabe einer progressiven Politik und Aufgabe der “Arbeit” (also all derjenigen, die nicht im Besitz der Produktionsmittel sind) ist der Kampf um die Steigerung der Entlohnung der Arbeit, um die gesellschaftliche Aneignung des Mehrwerts. Das Mittel dazu ist in diesem Fall klar: eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze. Und auch Mindestlöhne können ein Weg sein. Der historische und moralische Kampf um ein menschenwürdiges Existenzminimum wurde vor Gericht nicht entschieden – er ist also um so mehr ein Kampf gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

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5 Jahre Hartz IV: 5 Jahre zuviel

Seit dem 1. Januar 2005 besteht das “Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt”, mit dem die neoliberalen Workfare-Prinzipien, Menschen ohne Arbeit das Leben so schwer wie möglich zu machen, in Deutschland eingeführt wurden. Mit ihm erreichten in kurzer Zeit Armut und Unsicherheit in Deutschland ein neues Rekordhoch. Die Ensoldidarierung der  Gesellschaft wurde vorangetrieben und, mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, geradezu zur Tugend erhoben. Kein Geburtstag also, den man feiern könnte – und auch die deutsche Witschaft kann dies nicht.

Die Folge dieses auch als “Hartz IV” bekannten Gesetzes war für einen großen Teil der Bevölkerung, für Millionen von Menschen, v. a. auch für Frauen und Kindern, ein Abgleiten in die Armut, in eine von Politik und veröffentlichter Meinung geschaffene und zudem stigmatisierte Schicht, aus der es kaum ein Entkommen gibt. Weitere Auswirkungen sind eine wachsende soziale Ungleichheit, der mittlerweile zweitgrößte Niedriglohnsektor aller Industrieländer, die massive Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, soziale Unsicherheit und nicht zuletzt ein Wandel im gesellschaftlichen Klima. Galt es früher eher, Arbeitslosen zu helfen, eine neue Beschäftigung zu finden, auch denen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, die nicht arbeiten können, und auch die wenigen, die wirklich nicht arbeiten wollen, nicht verhungern zu lassen, so sollen heute, ganz wie von den geistigen Vätern und den unmittelbarern Schaffern und Umsetzern der neoliberalen Agenda beabsichtigt, Hart IV- Bezieher leiglich “faulenzende Sozialschmarotzer” darstellen, die der Gemeinschaft nur Geld kosten, die man zwingen muss, zu arbeiten, notfalls auch unbezahlt, denen man noch ein paar Mittel zugesteht, die vielleicht gerade noch das Überleben sichern, mehr aber auch nicht. Die Sanktionen nach §31 SGB ermöglichen es, bis zu 100% der Leistungen nach Hartz IV zu streichen – Leistungen, die ein soziales Existenzminimun darstellen sollen (wenn sie nicht darunter liegen – mit dieser Frage wird sich in Kürze ja das Bundesverfassungsgericht befassen). Erstmals seit vielen Jahrzehnten gibt es daduch wieder Hunger in Deutschland.

Der Arbeitsmarkt wurde ebenfalls nicht belebt. Hartz IV und die ganze Agenda 2010 schaffen werder Flexibilität des Arbeitsmarktes, noch soziale Sicherheit oder höhere Einkommen, und auch keine neue Beschäftigung. Kaum verfolgt die aktive Förderung oder (Weiter-)Qualifizierung von Arbeitslosen oder eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Dabei erscheint gerade die in Deutschland verfolgte neoliberale Politik nach dem Vorbild der angelsächsischen Staaten, die statt auf Förderungsmaßnahmen einseitig auf den Abbau sozialer Leistungen und erhöhten Druck gesetzt hat, deutlich weniger erfolgversprechend, als eine Strategie, die Flexibilität des Arbeitsmarktes und eine hohe soziale Sicherheit sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik, nach dem Vorbild etwa Dänemarks oder Schwedens miteinander kombiniert (siehe dazu: Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar). Statt Flexibilität im Arbeitsmarkt schuf Hartz IV nur Druck, Druck Arbeitsstellen anzunehmen, die nicht da sind. Denn Arbeitsplätze kann diese Maßnahme nicht schaffen, und dafür war sie auch nicht gedacht. Der Konsum der Bevölkerung, die Binnennachfrage, wurde durch die massive Minderung der Kaufkraft der von Hartz IV Betroffen stark geschwächt, während die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft wuchs, die Exporterlöse aber, v. a. im Zuge der Weltwirtschaftskrise absackten. Und auch die Unternehmen erhalten kaum mehr Anreize, Beschäfigte einzustellen oder ihre Investitionen auszuweiten. So kommt es, dass die Abnahme der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren fast ausschließlich auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen ist, die tatsächlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit, v. a. die schwache effektive Nachfrage, aber unberührt bleiben

Aber was schreibe ich, die Erkenntnis, dass Lohnsenkungen und damit Sinken der Nachfrage zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen sind bei den neoliberalen Talkshow-Ökonomen, den Lobbyisten der Arbeitgeberverbände und den Politikern, die ihren Ratschlägen wie die Ratte dem Flötenspieler folgen, nicht angekommen – für sie stellen hohe Löhne nu Kostenfaktoren dar, Sozialleistungen mindern nu den gewünschten Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen. Diese Kuzsichtigkeit lässt seit fast 30 Jahen unsere Arbeitslosigkeit ansteigen, die Löhne stagnieren, die soziale Ungleichheit zunehmen, die Investitionsraten der Unternehmen abnehmen. Staatliche Beschäftigungsprogramme zu guten Löhnen, nicht ein durch staatliche Zuschüsse geschaffener Niedriglohnsektor der “Aufstocker” wären ein Weg zu einer steigenden Nachfrage, sinkenden Sozialkosten, niedrigerer Arbeitslosigkeit und einer Belebung der Wirtschaft.

Die Verantwortliche der Hartz IV-Gesetze unterdessen sind, zwar teilweise vorbestraft, so doch in einträglichen Posten untergekommen. Schröder, Clement, Riester, Müller und wie sie alle heißen, sie vertreten nun auch offiziell die Interessen, für die sie in der Vergangenheit Politik gemacht haben. Für sie zumindest hat sich die Einführung von Hartz IV gelohnt. Und die neue Bundesregierung führt, wie sollte es auch anders sein, die Politik, die sie als (Neo-)Konservative und (Neo-)Liberale kaum “besser” hätten umsetzen können, weiter fort.  Sollten vielleicht wenigstens ein paar Unternehmen irgendwann einsehen, dass sich eine niedrige Nachfrage, durch prekäre und stets unsichere Beschäftigungsverhältnisse demotivierte Arbeitskräfte, ein Klima der Angst und des Misstrauens, der Bevormundung und Überwachung, auch für sie negativ auswirken, so wäre vielleicht aus dieser Richtung etwas zu hoffen. Doch danach sieht es leider nicht aus. Gerade in Zeiten des ungebremsten (und von der Realwirtschaft nahezu vollständig entkoppelten) Finazmarktkapitalismus steht mehr denn je die kurzfristige Rendite denn die langfristige Performance eines Unternehmens oder gar einer Volkswirtschaft im Vordergrund.

Nein, Widerstand gegen die witschaftlich schädliche Politik und gegen die unsozialen, menschenverachtenden Praktiken, die mit der Agenda 2010 und besonders mit Hartz IV  zur vollen Entfaltung kamen, muss aus der Bevölkerung kommen: aus den betroffenen Gruppen, aus den Gewerkschaften, aus sozialen Gruppierungen, von der Straße, aber auch von kritischen Seiten der Wissenschaft und der Medien – und, da diese versagen, aus der Gegenöffentlichkeit zum Mainstream, die die Möglichkeiten des Internets in vollem Umfang nutzen muss. Während die Mainstream-Medien, offenbar verschämt über die offensichtlichen Misserfolge und die durch die Hartz-Gesetze verstärkten oder erst geschaffenen Missstände über das “Gbeurtstagskind” Stillschweigen bewahren, gibt es dort sehr treffende Analysen, die den Geist und die Folgen von Hartz IV beleuchten. Hier eine kleine Auswahl von lesenswerten Beiträgen:

Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2005 (Christoph Butterwegge auf den NachDenkSeiten):

Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das Gesicht der Bundesrepublik seither prägt. (…) Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet. (…) Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. (…)

Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Dass heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Betriebsrät(inn)en in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat. (…) Da trotz des irreführenden Namens „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ auch immer mehr (voll) Erwerbstätige das Alg II als sog. Aufstocker, d.h. im Sinne eines „Kombilohns“ in Anspruch nahmen bzw. nehmen mussten, um leben zu können, etablierte Hartz IV ein Anreizystem zur Senkung des Lohnniveaus durch die Kapitalseite. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt die Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Kardinalproblems beizutragen. Mittlerweile hat die Bundesrepublik unter den entwickelten Industriestaaten den breitesten Niedriglohnkorridor nach den USA. (…)

Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Stress und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. (…) Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, dass Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. (…)

Jenseits der Schmerzgrenze (Der Freitag):

Fünf Jahre Hartz IV bringen vor allem eines: mehr Armut. Das entspricht dem Geist, aus dem die „Reform“ entsprang. Betroffene sprechen von “Überlebenstraining” (…)

Beides entspringt einer Vorstellungswelt, die vor fünf Jahren mit Hartz IV ihre bürokratische Entsprechung fand. Danach gibt es gar keine Erwerbslosigkeit, nur der Preis der Ware Arbeitskraft ist zu hoch. Politik aus diesem Geist heraus ist „Räumung des Marktes“, bedeutet Manipulation der Statistik, heißt Ein-Euro-Jobs und nötigt dazu, jede Tätigkeit anzunehmen. Hartz IV hat das Einkommensniveau gedrückt und den Zwang erhöht, sich für Löhne unter dem Existenzminimum zu verkaufen. 1,3 Millionen Erwerbstätige sind mittlerweile auf ergänzende Hartz-Leistungen angewiesen. (…)

Die Grundformel der Arbeitsmarktpolitik heißt „Aktivieren“ – was sich freilich auch mit Bestrafung derjenigen, die mit dieser „Aktivierung“ nicht einverstanden sind, übersetzen lässt. Die Arbeitsagenturen kontrollieren und sanktionieren aber mittlerweile nicht nur das Tun, sondern auch die Haltung, die Einstellung der Langzeiterwerbslosen, wie etwa eine Studie des Siegener Soziologen Olaf Behrend gezeigt hat: Hartz IV wirkt als Mittel zur sozialen Disziplinierung. (…)

5 Jahre Hartz IV – Kein Grund zum Jubeln (Lowestfrequency):

(…) Doch den Betroffenen redete man ein, sie sollten jede Arbeit annehmen, es sei besser, für einen Hungerlohn zu arbeiten, als sich aus dem Lohnerwerb zu verabschieden. Ihnen geht es ja gut. Woanders wäre es schlechter. Schon im alten Griechenland wusste man: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, und dagegen ist es doch wunderbar. (…) Und schauen sie doch, sie bekommen sogar Arbeit, unbezahlt vielleicht, meist nicht ausreichend, um doch ein bisschen weniger Fremder zu sein, aber denen drüben, denen ergeht es noch schlechter, haben die Faulpelze da in der Ferne, jenseits des Stiefels oder des Ural, haben die ein Fahrrad? Urlaubsanspruch? Medizin? Nun sehen Sie doch, es geht immer noch schlechter. Nein, hier ist es gut, solange man den Vergleich gut wählt. (…)

Die ganze Agenda 2010, der Überbau durch das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, ein Sammelsurium aus Angst, Druck und Rückzügen in vorkriegsähnliche Zustände, was die Arbeitslasten an betrifft. Mehr Niedriglohn, warum eigentlich notwendig? Weniger Leistung, nur noch das Allernötigste und dann noch sanktionierend streichen. Arbeit als Pflicht zu jedem Preis, also unter Zwang, um nicht unter das Existenzminimum zu rutschen (…)

Es ist halt nicht zum Nulltarif, immer ein Arbeitsheer haben zu wollen, eine stehende Armee an Hungerleidern, denen eingedroschen wurde, sie sollten, müssten tun, was ihnen gesagt, besser noch als zu fragen, welchen Wert sie haben. (…)

Zwei Geburtstagskinder (binsenbrenner.de) (zur Erklärung: das andere “Geburtstagskind” ist ELENA):

(…) Dass die Zahl der Gratulanten für Hartz IV nicht eben überbordend sein würde, war absolut absehbar, dass die geistigen Väter und derzeitigen Erzieher sich sehr geschmeidig an klaren Stellungnahmen vorbeidrücken würden, erstaunt da schon mehr. Das eine oder andere sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut veröffentlichte „Ja, aber…“-Gutachten zur Wirkung von Hartz IV, die an der Durchführung Beteiligten, also Arbeits- und Sozialverwaltung hielten sich, außer mit einem schmallippigem Bekenntnis, dass man (nach fünf Jahren!) die Kinderkrankheiten ausgemerzt habe, sehr zurück (…)

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Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar

Das Thema Kündigungsschutz steht seit einigen Jahren hoch in der Debatte um die richtige Arbeitsmarktpolitik. Laut einer Arbeitgeberbefragung der Europäischen Kommission seien in Deutschland der häufigste Grund für Nichtneueinstellungen prozeduale Vorschriften bei der Entlassung. Diese und ähnliche Fakten haben die Debatte um die Reform des Arbeitsrechtes zusätzlich angefacht, bei der der Kündigungsschutz nicht selten im Mittelpunkt steht. Kritiker werfen ihm vor, dass er, entgegen seinem Ziel, Arbeitsplätze zu schützen, insgesamt mehr Arbeitsplätze vernichte.

Bei den Vertretern der neoliberalen Ökonomie ist er gern der Prügelknabe für alle Defizite des deutschen Arbeitsmarktes. Dabei erscheint gerade die in Deutschland verfolgte neoliberale Politik, die statt auf Förderungsmaßnahmen einseitig auf den Abbau sozialer Leistungen und erhöhten Druck gesetzt hat, deutlich weniger erfolgversprechend, als eine Strategie, die Flexibilität des Arbeitsmarktes und eine hohe soziale Sicherheit sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik miteinander kombiniert.

 

Der Kündigungsschutz: Ausgleich zwischen Abeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen

 

Den Kündigungsschutz kann man verstehen als die Menge der rechtlichen Vorschriften, die die Entlassung von Arbeitnehmern regeln. Dies ist möglich durch die Arbeitsgesetzgebung und/ oder durch individuelle oder kollektive Vereinbarungen. Bestandteile des Kündigungsschutzes können etwa Abfindungszahlungen, Abgaben auf Entlassungen, Kündigungsfristen, die Notwendigkeit der Zustimmung zu einer Entlassung durch staatliche Stellen oder eine Pflicht zu vorherigen Verhandlungen mit den Gewerkschaften sein.

Es erscheint, da Beziehungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern asymmetrischer Natur zuungunsten der Arbeitnehmer sind, notwendig, die Risiken weg von den Arbeitnehmerm zu verlagern. Kündigungsschutzregelungen sollen einen Ausgleich zwischen dem Bedürfnis der Firmen, sich sich verändernden Marktbedingungen anzupassen, und dem Interesse der Arbeitnehmer nach Sicherheit ihres Arbeitsplatzes darstellen. Der Kündigungsschutz fungiert in der Theorie wie in der Praxis v.a. als Schutz der Arbeitnehmer vor willkürlichen Entlassungen seitens der Arbeitgeber.

 

Kernpunkte des Kündigungsschutz in Deutschland und in Europa

 

In Deutschland ist der bestimmende Faktor des Arbeitsrechts die arbeitsgerichtliche Praxis der Auslegung des Kündigungsschutzgesetzes, die teilweise schon eine Art Selbstständigkeit erreicht hat. Hier spielen v.a. die Abfindungen die entscheidende Rolle. Dies hat zu einer starken Ausweitungen von vor der Kündigung geregelten Abfindungsvereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geführt. Bei befristeter Beschäftigung ist, v.a. seit 2004, ein Trend zu einer starken Flexibilisierung erkennbar.

Im europäischen Vergleich kann man folgende Gruppen zur Typisierung der Staaten hinsichtlich ihrer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Regulierung unterscheiden:

  1. liberale, angelsächsische Länder zeichnen sich durch eine hohe Lohnspreizung, das Prinzip des workfare state, wenig soziale Sicherheit mit strenger Bedürftigkeitsprüfung bei Sozialleistungen, die sehr niedrig ausfallen, und die staatlichen Förderungen privater Versicherungen aus. Sie haben einen niedrigen Kündigungsschutz, es gelten keine Beschränkungen für Leiharbeit und diese macht einen hohen Anteil der Beschäftigten aus.
  2. Kontinentaleuropa: geprägt durch ein (konservatives) Bismarcksches Sozialversicherungsmodell, eine relativ hohe soziale Absicherung mit relativ hohen Arbeitslosengeldzahlungen und Renten. Bei ihnen kann man oft einen hohen Kündigungsschutz feststellen. All diese Punkte haben in Deutschland in den letzten Jahren freilich deutlich abgenommen.
  3. In Südeuropa gibt es meist nur eine rudimentäre soziale Sicherung. Die Arbeitsmarktpolitik konzentrierte sich stark auf Frühverrentungen. Quasi als Ersatz für die niedrige Sozialfürsorge wurden starke Arbeitnehmerschutzrechte etabliert. Außerdem herrscht ein hohe Arbeitsmarktsegmentation.
  4. Skandinavien/ Sozialdemokratisches Modell: Hier herrscht ein sehr hohes Maß an sozialer Sicherheit mit universalistischen Versicherungen (nach dem Beveridge-Modell) und hohen Sozialleistungen. Es gibt eine starke aktive Arbeitsmarktpolitik und einen hohen Anteil an staatlicher Beschäftigung. Es herrscht geringe Lohnspreizung. Der Arbeitsmarkt ist flexibel. Beim Kündigungsschutz jedoch ist das Bild nicht eindeutig. So haben Schweden und Norwegen einen hohen, Dänemark andererseits hat einen geringen Kündigungsschutz.
  5. Das dänische Modell und teilweise das niederländische (schwächer das schwedische) werden aufgrund ihrer Verbindung von Sicherheit (hohe Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit) und Flexibilität (hohe Arbeitsmarktdynamik) auch dem Flexicuritiy- Modell zugeordnet. Auch die Europäische Kommission tritt für eine Anwendung von Konzepten der Flexicurity ein.

 

Obwohl es in allen Ländern der OECD Kündigungsschutzregelungen gibt, unterscheiden diese sich, v.a. im Hinblick auf die Vorgaben zu befristeter Beschäftigung (bei dieser lassen sich in den letzten 20 Jahren Annäherungstendenzen nach unten hin feststellen).

 

Wirkungen des Kündigungsschutzes

Ein höherer Kündigungsschutz führt empirisch gesehen zu einer längeren Arbeitsdauer und sichert somit die bestehenden Arbeitsverhältnisse. Er kann jedoch auch zu einer steigenden Dauer der Arbeitslosigkeit und damit zu einem steigenden Anteil von Langzeitarbeitslosen beitragen. In Ländern mit niedrigem Kündigungsschutz gibt es in erster Linie Kurzzeitarbeitslosigkeit. Die Arbeitsmarktdynamik wird durch einen hohen Kündigungsschutz geschwächt und die Zugänge zur sowie die Abgänge aus der Arbeitslosigkeit gesenkt, die Beschäftigungsschwelle steigt. Ein hoher Kündigungsschutz (für reguläre Beschäftigung) kann in einer Segmentierung des Arbeitsmarktes und zur Verbreiterung prekärer Beschäftigungsformen zu Lasten schwacher Gruppen resultieren. Er begünstigt die insiders und schadet den outsiders des Arbeitsmarktes.

Es ist aber zu betonen, dass der Effekt des Kündigungsschutzes auf die Arbeitslosigkeit insgesamt nicht eindeutig festzustellen ist (der Effekt ist allenfalls schwach). Auch in der Theorie ist dieser umstritten.

 

Lehren aus anderen Ländern: Flexibilität UND Sicherheit sind möglich

 

Eine Reform des Kündigungsschutzes erscheint als ein notwendiger Schritt, er ist aber nicht als der alleinig ausreichende. Denn insgesamt spricht wenig dafür, dass mit einer weiteren Lockerung des Kündigungsschutzes in Deutschland unmittelbar ein Abbau der Arbeitslosigkeit einhergeht. Denn außerdem sind dazu v.a. aktive Beschäftigungspolitiken und eine effektive Aktivierungspolitik sowie eine bessere berufliche Weiterbildung notwendig. Diese Politiken können dabei auch als Ergänzung zur Sicherung der Arbeitnehmer gegen Arbeitsmarktrisiken gesehen werden. Auch der empirische Vergleich macht deutlich, dass niedrige Arbeitslosigkeit v.a. bei Ländern mit größeren Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitiken und mit weniger Rigidität bei der Arbeitsmarktregulierung vorhanden ist.

Die Balance zwischen den verschiedenen politischen Alternativen zur Regulierung des Arbeitsmarktes, die Elemente wie die Höhe des Kündigungsschutzes, die Höhe des Arbeitslosengeldes und die Art der Arbeitsmarktpolitiken beinhaltet, hängt eng mit den vorhandenen Institutionen, der Geschichte und der politischer Kultur der jeweiligen Länder zusammen. Reformen müssen diese immer berücksichtigen, wenn sie nicht auf den Widerstand der Bevölkerung stoßen und politisch erfolgreich sein wollen.

Neoliberale Reformen in der Richtung der angelsächsischen Staaten erscheinen wenig erfolgversprechend. Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Fairness dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Und diese sind auch nicht, wie es uns die durch die Talkshows tingelden sich einen wissenschaftlichen Anstrich verpassenden Mietmäuler der Wirtschaftslobby verkaufen wollen, unvereinbar mit wirtschaftlicher Dynamik und Flexibilität.

Das Flexicurity-Modell mit seinen bemerkenswerten beschäftigungspolitischen Erfolgen etwa hat gezeigt, dass auch bei einem niedrigen Kündigungsschutz und einer hohen Arbeitsmarktdynamik eine hohe soziale Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleistet sein kann. Sowohl eine hohe Beschäftigungsicherheit mit einer sehr niedrigen Arbeitslosenzahl und einer nur kurzen Dauer der Arbeitslosigkeit, als auch mit hohen Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit. Außerdem gibt es eine aktive Arbeitsmarktpolitik zur schnellen Wiedereingliederung von Arbeitslosen und äußerst umfangreiche Praktiken der Witerbildung, Qualifizierung und des lebenslangen Lernens zu übernehmen. Will man sich diesem Modell annähern, und vieles spricht dafür, sollte man dies nicht nur im Bereich der Flexibilität tun. Eine Einbeziehung der Dimension der sozialen Sicherheit , die zweifelsohne hohe staatliche (in Skandinavien Steuer-) Mittel erfordern würde, wäre in Deutschland zwar nicht ohne Widerstände durchzusetzen, würde aber wohl auch zu einer Abmilderung der sozialen Spaltung und einer stärkeren Solidarität in der Gesellschaft beitragen.

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