Soll der Kampf gegen den Rechtsextremismus kriminalisiert werden? (UPDATE)

Tausende Exemplare dieses Plakats wurden beschlagnahmt

“Gemeinsam blockieren”, heißt es auf den Protest-Plakaten gegen den größten Naziaufmarsch Europas in Dresden am 13. Februar. Darunter die Logos von Grünen, Attac, Piratenpartei, der Linken, Gewerkschaften und anderen Gruppen. Doch was für Nazi-Gegner eine Selbstverständlichkeit ist, klingt nach Ansicht der Sicherheitsbehörden nach einem Aufruf zu Straftaten. Am Dienstagmittag durchsuchten die Polizei daraufhin in Dresden die Landesgeschäftsstelle der Partei die Linke, in Berlin traf es ein Ladengeschäft linker Gruppen. Tausende Plakate, Flyer und Sticker wurden beschlagnahmt. Aber auch Computer nahmen die Beamten mit.

“Die Polizei möchte offenbar unseren Protest im Keim ersticken. Das wird ihr aber nicht gelingen – im Gegenteil. Stattdessen werden die Behörden der Öffentlichkeit erklären müssen, warum ihnen der reibungslose Ablauf des größten Neonazi-Aufmarschs so am Herzen liegt”, sagte Lena Roth, Sprecherin des Bündnisses.

Der ganze Beitrag: Zeit Online Störungsmelder: Polizei geht gegen Dresden-Plakat vor

Der Kampf gegen den Rechtsextremismus, für Freiheit, Toleranz und Demokratie wird kriminalisiert? Sollten die öffentlichen Stellen und die staatliche Gewalt diesen nicht so gut sie können unterstützen, sollten sie nicht die Courage fördern, gegen den menschenverachtenden Faschismus und Rassismus auf die Straße zu gehen? Stattdessen werden die Organisatoren (aus juristisch höchst zweifelhaften Gründen) mit Repressalien überzogen.

Achja, die neue Bundesfamilienministerin Kristina Köhler hat ja “erkannt”, dass die wahren Gefahren ganz woanders herkommen – nämlich von linksextremistischer und islamistischer Gewalt (vor nicht allzu langer Zeit sprach sie auch von angeblicher deutschenfeindlicher Gewalt von Ausländern in Deutschland) und weitet die Programme gegen Rechtsextremismus dementsprechend aus, trotz der Warnungen von unterschiedlichsten Seiten, dass sie damit Rechts- und Linksextremismus gleichsetzt (Michael Sommer), die beschämende Zahl der Todesopfer rechtextremistischer Gewalt vergisst (Claudia Roth) und aus ideologischen Gründen die Gefahren durch Rechtsextremismus unterschätzt (SPD-Innenexperte Sebastian Edathy). Die innenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion Ulla Jelpke sagte, die Bundesregierung wolle kapitalismuskritisches und antifaschistisches Gedankengut ächten. Stellt Dresden dafür den Anfang dar? (20. Januar 2010)

UPDATE (23. Januar 2010):

Man geht  nun offensichtlich in die nächste Runde: nachdem Jugendliche und sogar Bundestagsabgeordnete, die die Plakate aufhängten, verhaftet wurden, hat nun das LKA Sachsen dem Provider der Internetseite Dresden-Nazifrei.de eine Verfügung zugestellt, die die Abschaltung der Seite fordert, da über diese angeblich zu Straftaten aufgerufen werde. Damit meinen sie den Mut zu zivilem Ungehorsam, sich Nazis in den Weg zu stellen. Doch ist fraglich, ob sie ihr Ziel erreichen, diesen zu kriminalisieren, mit Razzien, Verhaftungen und Verboten immer mehr ein Klima der Angst vor Zivilcourage zu schaffen, wo man irgendwann gar nicht mehr auf Demonstrationen geht, wo Blockaden Gewalt sind und man gleich in den Verdacht gerät, linksextremer Terrorist zu sein, nur weil man gegen Rechtsextreme demonstriert – oder sie nicht in Wahrheit eine noch größere Mobilisierung verursachen.

Und wer immer noch der Meinung ist, dass die Verbeitung von Rassimus und Antisemitismus, die Bekämpfung von Freiheit und Menschenrechten irgendetwas mit Meingsfreiheit zu tun hat, dem sei dieser Artikel empfohlen: Nazis und die Meinungsfreiheit.

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10 Jahre Attac Deutschland

10 Jahre Attac – 10 von vielen!

Heute vor 10 Jahren wurde Attac Deutschland gegründet. Das globalisierungskritische Netzwerk setzt sich seitdem für einen gerechten Welthandel und für eine Solidarität mit den Entwicklungsländern ein. Es kämpft dafür, dass die Globalisierung allen Menschen zu Gute kommt, gegen weltweite Ungerechtigkeit, gegen Umweltzerstörung,  gegen Privatisierungen und Sozialabbau ein, und dies ohne Hierarchien und ohne Geklüngel, sonden mit kreativen Protestaktionen und durchdachter konzeptioneller Arbeit.

Grund auch für mich, die allerherzlichsten Glückwünsche auszusprechen – war es doch gerade Attac, wo ich selbst erstmals politisch aktiv wurde, wo ich gegen den Irak-Krieg oder Hartz IV demonstriert hatte und wo ich – vielleicht sogar in allererster Linie – sehr viel über politische Inhalte gelernt habe. Doch die 10 Jahre Attac sind nur ein kleiner Zwischenschritt – haben sich doch die Verhältnisse, die Attac seit seiner Gründung kritisiert und für die es Lösungsvorschläge erarbeitet, seitdem nicht grundlegend verändert.

Brauchen wir Attac noch?

Selbst von den Seiten gerade der Politiker und der Presse, die Attac früher gerne wahlweise als randalierende und gewalttätige Autonome, verblendete Linksextreme (ganz egal, dass dort etwa auch Heiner Geißler Mitglied ist)  oder halluzinierende Sozialromantiker diffamiert hat, hört man nun tatsächlich, dass Attac eigentlich immer schon Recht hatte (inwiefern dies auf echter Einsicht in Folge der Ereignisse um das Entstehen und den Verlauf der Finanzkrise beruht, sei mal dahingestellt).

http://www.flickr.com/photos/stoller/ / CC BY 2.0

Die Finanzmärkt müssen reguliert werden, dass fordert Attac seit seiner Gründung, daher der Name, und das hat sich nun für alle offensichtlich als richtig erwiesen. Denn daran besteht kein Zweifel: der völlig entfesselte Finanzmarktkapitalismus hat uns die größte Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit beschert. Doch dieser ist nur ein Teil des neoliberalen Projekt, dass seit nunmehr fast 30 Jahren die weltweite Armut und Ungleichheit vergrößert, zu einer instabilen Wirtschaft geführt und Armut und Hunger vergrößert hat. Eine Finanztransaktionststeuer wird nun zwar von fast überall (selbst von Seiten der Union gefordert), aber ob diese wirklich (und v.a. weltweit) umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Auch wenn Obama sehr sinnvolle Regeln für die Finanzmärkte plant – eine Steuer auf Finanztransaktionen ist nicht vorgesehen. Es läuft bisher weitgehend weiter wie vor der Krise. Und in Deutschland wird außer ein paar leeren Phrasen der Regierungspolitiker nichts geschehen. Viele reden inzwischen ähnlich wie Attac, wenige handeln entsprechend. Außerdem: sollten in einem Feld wirklich Forderungen von Attac zumindest teilweise erfüllt werden, was wir alle nur wünschen können, ist dies eben genau kein Grund, deshalb nachzulassen, sondern es zeigt, dass sich kompetent erarbeitete richtige Analysen und sinnvolle Ideen tatsächlich durchsetzen können – und dass eine andere Welt nicht nur wünschenswert, sondern in der Tat auch möglich ist.

Quelle: Attac

Doch es gibt noch viel zu tun: Der Klimagipfel von Kopenhagen hat keine Fortschritte gebracht, die Probleme sind dringender denn je. Wenn es so bleibt, wird der Klimawandel mit all seinen verheerenden Auswirkungen nicht einmal geringfügig eingedämmt werden können. Die Machthabenden der Welt haben ein schier unglaubliches Maß an Egoismus, kurzfristigem Denken und Unverantwortlichkeit an den Tag gelegt. Der Vertrag von Lissabon macht die EU zur Bastion des neoliberalen Kapitalismus. Die Privatisierungswelle für alles, was man zu Geld machen kann, und sei es auch das Trinkwasser, schreitet weltweit weiter voran, und sie ist auch in Deutschland nicht beendet. Die neue Bundesregierung hat ein Programm aufgelegt, dass allen Vorstellungen von sozial gerechter, wirtschaftlich sinnvoller oder auch nur rational gestalteter Politik Hohn spricht: Hartz IV-Verschärfungen, Kopfpauschale, lupenreine Klientelpolitik sind nur ein paar Besispiele der derzeitigen Situation. Und nicht zuletzt in Zeiten, in denen ein radikal-wirtschaftsliberaler wie Dirk Niebel Entwicklungsminister ist, kann Attac nicht überflüssig werden.

Eine andere Welt ist möglich

Attac Norwegen unter CC-BY-SA 3.0

Die Regulierung der Finanzmärkte ist zwar sinnvoll, doch gehen die Vorstellungen von Attac weiter: die Einnahmen aus dieser Steuer sollen für Entwicklungszwecke verwendet werden. Denn die Entwicklungsländer leiden nicht nur unter Naturkatastrophen, sondern auch unter ungerechten Strukturen im Welthandel, und diese bestehen nach wie vor. Sie bestehen etwa aus hohen Agrarsubventionen und tarifären wie nichttarifären Handelshemnisse der Industrieländer, die die wirtschaftlichen Chancen des Südens unterminieren. Der Norden dominiert die Bretton-Woods-Organisationen, die WTO funktioniert immer noch als einer der ersten Agenten des Marktradikalismus und als Vehikel der Interessen transnationaler Konzerne.

Die Welt wird immer reicher, doch der Abstand zwischen Arm und reich nimmt (innerhalb der Staaten, zwei- bis dreimal so viel aber zwischen ihnen) zu. Gerade die Entwicklungsländer in Afrika und Südasien haben – so ist das Ergebnis aller Studien zu dem Thema – nicht von der Globalisierung der Weltwirtschaft profitiert, oft hat sie ihnen sogar eher geschadet.

Dabei bietet die  Globalisierung, wenn sie gerecht gestaltet ist, durchaus auch Chancen für die Entwicklungsländer, denn sie ist kein unveränderbares Naturgesetz, sie ist von Menschen historisch gestaltet und beeinflusst worden und sie ist immer noch gestalt- und veränderbar. Die Globalisierung kann als Prozess kaum aufgehalten werde, aber es liegt an uns, sie so gut wie möglich auf das Ziel zu gestalten, dass ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen auf der Welt realisiert werden kann, und eines, in dem wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören. Eine andere Welt ist möglich.

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Die größten Gefahren für Deutschland: Islamismus, Linksextremismus und Google

Wenn die Bundesregierung die Programme gegen Rechtsextremismus auf Linksextremismus und Islamismus ausweitet, geht sie dabei Hand in Hand mit den Vereinfachungen der Vertreter der kruden “Extremismustheorie”, und sie verharmlost nach Meinung der Opposition damit den Rechtsextremismus mit seiner Rekordzahl an Gewalttaten.

Manche Medien sind da aber schon deutlich weiter, etwa der Deutschlandfunk in einem Interview mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (ja, so wird er natürlich geschrieben, aber ich hab unten die falsche Schreibweise von der Homepage des DLF belassen, weil ich von dort zitiere). Nicht nur eine Gleichsetzung – der Linksextremismus und der Islamismus sind dort eine so große Gefahr, dass der Rechtsextremismus nicht mal einer Erwähnung bedarf:

Spengler: Jetzt sind wir schon bei der Bedrohungslage in der Bundesrepublik. Geht eigentlich noch die größte Gefahr von islamistischen Zirkeln aus, oder richten Sie Ihr Augenmerk nach vielen Anschlägen insbesondere in Berlin und Hamburg wieder verstärkt auf die linksextremistische Szene?

Ja, genau, das fragen wir uns doch alle täglich, ist denn nun die ganz konkrete, unmittelbare und allseitige Bedrohung durch den  Islamismus immer noch die größte Gefahr für unser aller Leib und Leben, oder brauchen wir etwas Neues, vor dem wir uns fürchten müssen, etwa den linken Linksextremismus von links? Man kann nirgends mehr um eine Straßenecke gehen, ohne dass einen ein Muslim oder ein Linksautonomer – ja was denn eigentlich? Der Rechtsextremismus mit mit seinen rassistischen, anti-semitischen, menschenverachtenden Ansichten, mit seinen Gewalttaten, mit seinen Morden? Ach was! Die Autos! Kann denn nicht einer mal an die Autos denken?! Auch wenn dabei nach Polizei-Angaben zu 50% gar kein politisches Motiv zu erkennen ist – egal! Die tatsächliche Bedrohung spielt keine Rolle. Wichtig ist die, die eingeredet und vielleicht irgendwann, wenn man Erfolg hat, dann auch empfunden wird.

Allem Anschein nach wurde dann aber die Richtung, in die dieser Qualitätsjournalist offensichtlich gehen wollte, selbst für unseren Innenminister etwas zu dubios, und er bringt wenigstens ein bisschen mehr Nüchternheit hinein:

Spengler: Der Verfassungsschutz sollte bis Mitte des Monats eine Bewertung des Linksextremismus vorlegen. Ist das geschehen und zu welchem Ergebnis ist er gekommen?

de Maiziére: Bis Februar, Herr Spengler, habe ich eine solche Analyse erbeten. Wir haben noch nicht Februar und dann werden wir die Konsequenzen ziehen. Wir haben es hier auch damit zu tun, dass wir es regional sehr unterschiedlich haben. Wir haben diese Phänomene insbesondere in Berlin und Hamburg. Deswegen wird mit den beiden Ländern natürlich dort in besonderer Weise zu untersuchen sein, was zu tun ist. Das ist ein langer Weg. Wir haben es auch gesehen bei der politischen Gewalt, die von Rechtsextremen ausgeht. Insgesamt ist die Anwendung von Gewalt nicht gestiegen, aber bei denen, die Gewalt anwenden, ist die Hemmschwelle, intensiv Gewalt auszuüben, gesunken und das macht mir Sorgen.

Und schließlich kommt noch eine dem kritischen Journalismus würdige Frage zur Netzpolitik:

Spengler: Herr de Maiziére, letztes Stichwort: das Internet, von dessen Sicherheit wir ja alle zunehmend abhängen. Die Regierung will eine eigene Kommission zur künftigen Netzpolitik berufen. Für wie groß halten Sie die Bedrohung durch die beherrschende Stellung von privaten Unternehmen, etwa von Google, die mehr über den Bürger wissen zu scheinen als die über sich selbst?

de Maiziére: (…)  Aber immer ist mit Freiheit auch Gefährdung verbunden und Verantwortung, und deswegen ist es wichtig und richtig, dass wir diejenigen, die große Datenbanken ansammeln – und das sind mehr die Privaten als der Staat -, auch in die Verantwortung nehmen, mit diesen Daten sorgsam umzugehen, und wir müssen erwarten, dass auch die Bürger mit ihren eigenen Daten vorsichtiger umgehen als in der Vergangenheit. (…)

Nun, das ist die bekannte Masche der Politik seit einiger Zeit: Google ist böse. Und die staatliche Vorratsdatenspeicherung, die Online-Durchsuchungen, die Internetzensur (die im Moment nur ausgesetzt ist), das alles wird verschwiegen. Aber dass nicht einmal dieser “Journalist” sie erwähnt und stattdessen so eine Frage stellt, zeugt einmal natürlich von kompletter Ahnungslosigkeit auf diesem Gebiet, aber auch wiedermal vom Niedergang der ehemaligen “vierten Gewalt”.

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Was ich an der katholischen Kirche sympathisch finde

Im Gefolge dieses Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber darstellt. Dieser ungehemmte Liberalismus führte zu jener Diktatur, die Pius XI. mit Recht als die Ursache des finanzkapitalistischen Internationalismus oder des Imperialismus des internationalen Finanzkapitals brandmarkte. Man kann diesen Mißbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, daß die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat. Aber wenn es auch wahr ist, daß viele Übel, Ungerechtigkeiten und brudermörderische Kämpfe, deren Folgen heute noch zu spüren sind, sich von einer bestimmten Abart dessen, was man “Kapitalismus” nennt, herleiten, so würde man doch zu Unrecht der Industrialisierung als solcher die Übel anlasten, die in Wahrheit den verderblichen Auffassungen von der Wirtschaft zur Last zu legen sind, die neben dem wirtschaftlichen Aufschwung herliefen. Ganz im Gegenteil ist der unersetzbare Beitrag anzuerkennen, den die Organisierung der Arbeit und der industrielle Fortschritt zur Entwicklung geleistet haben.

Aus der Enzyklika Populorum progressio (Über die Entwicklung der Völker) von Paul VI., 1967, Absatz 26

Ich bin ja Agnostiker und sehe die Rolle von Kirchen und Religionsgemeinschaft durchaus kritisch. Da sie aber zweifelsohne (noch?) eine große Gruppe von Menschen repräsentieren und  für diese auch Normen und ethische Werte liefern, sollte man ihre Rolle nicht unterschätzen. Und man sollte wissen, welche Normene diese Religionsgemeinschaften vertreteten und lehren.

Schauen wir uns einmal bestimmte Normen an. Für mich besonders interessant sind dabei z.B. die Meinungen, die bezüglich der Rolle und Betrachtung der Wirtschaft und des (Sozial-)Staates vertreten werden. Und schauen wir uns dieses Feld an, so ist mir – abgesehen nun also mal von den ganzen religiösen und metaphysischen Lehren und abgesehen auch von dem oft rückwärtsgewandten Ansichten in anderen politischen und gesellschaftlichen Bereichen – die Katholische Soziallehre in diesen Gebiet deutlich sympathischer als etwa die Protestantische Arbeitsethik (und auch näher an ihrer eigenen Überlieferung). Sicher, ich glaube nicht, dass eine aufgeklärte Gesellschaft Religion braucht. Wenn diese aber nun mal vorhanden sind, wäre es schon zu begrüßen, wenn sie solche Positionen energischer vetreten würden als andere, die bei ihnen derzeit im Vordergrund stehen (wie ihr diskriminierendes Gesellschaftsbild). Und wenn z.B. in den sich “christlich” nennenden Parteien sich wieder mehr Vertreter dieser Anschauungen finden würden, wäre diese auf jedem Fall dem derzeit dominierenden Neoliberalismus vorzuziehen.

Als Beispiele für diese Soziallehre möchte ich noch mal ein paar Stellen aus der Sozialenzyklika “Populorum progressio” von Paul VI. (diese beschäftigt sich v.a. mit der Armut in Entwicklungsländern und fordert die Industrieländer zu Hilfe für diese, zu einem gerechten Welthandel und der Förderung internationaler Organisationen auf) zitieren (die Nummern stellen die Absätze dar):

9. (…) Und zu allem kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt “fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind.

23. (…) “Es ist nicht dein Gut”, sagt Ambrosius, “mit dem du dich gegen den Armen großzügig erweist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dur nur herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.” Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand ist befugt, seinen Überfluss ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt. “Das Eigentumsrecht darf also nach der herkömmlichen Lehre der Kirchenväter und der großen Theologen niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt werden.” (…) [In Absatz 24 wird dargestellt, dass das Gemeinwohl manchmal Enteignungen verlangt, Guardian of the Blind]

34. (…) Die Technokratie von morgen kann genau so schwere Fehler begehen wie der Liberalismus von gestern. Wirtschaft und Technik erhalten ihren Sinn erst durch den Menschen, dem sie zu dienen haben. (…)

44. Diese Pflicht betrifft an erster Stelle die Begüterten. Sie wurzelt in der natürlichen und übernatürlichen Brüderlichkeit der Menschen, und zwar in dreifacher Hinsicht: zuerst in der Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann in der Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund ist, abzustellen; endlich in der Pflicht zur Liebe zu allen, zur Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und empfangen können, ohne daß der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist. (…)

47. (…) Es geht darum, eine Welt zu bauen, wo jeder Mensch, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Abstammung, ein volles menschliches Leben führen kann, frei von Versklavung seitens der Menschen oder einer noch nicht hinreichend gebändigten Natur; eine Welt, wo die Freiheit nicht ein leeres Wort ist, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann. (…)

49. (…) Der Überfluß der reichen Länder muß den ärmeren zustatten kommen. (…)

59. (…) eine Verkehrswirtschaft kann nicht mehr allein auf die Gesetze des freien und ungezügelten Wettbewerbs gegründet sein, der nur zu oft zu einer Wirtschaftsdiktatur führt. Der freie Austausch von Gütern ist nur dann recht und billig, wenn er mit den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit übereinstimmt.

61. (…) Was von der Volkswirtschaft gilt, was man unter den hochentwickelten Ländern gelten läßt, muß auch von den Handelsbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern gelten. Ohne den freien Markt abzuschaffen, sollte man doch den Wettbewerb in den Grenzen halten, die ihn gerecht und sozial, also menschlich machen. (…)

64. Diese Situation voll dunkler Drohungen für die Zukunft bedrückt Uns zutiefst. Wir hegen jedoch die Hoffnung: schließlich wird sich doch die immer stärker spürbare Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, der immer wacher werdende Sinn für Solidarität über alles Unverständnis und allen Egoismus durchsetzen. (…)

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Das Menschenbild der Neokonservativen

Roland Koch fordert eine Arbeitspflicht für Arbeitslose, zur Not auch in Billig-Jobs (siehe auch). Er fordert also Zwangsarbeit. Die Rhetorik, die Koch hier benutzt,  verdeutlicht aber auch noch ganz exemplarisch, welches Menschenbild hinter der neokonservativen Workfare-Ideologie steht, die Koch (und damit ist er leider bei weitem nicht alleine) hier propagiert.

Jedes Sozialsystem brauche ein Element der Abschreckung, so Koch. Anders sei “das für die regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen mit den Unterstützungssätzen vergleichen, unerträglich”. Deshalb müsse man Druck ausüben, niemand solle das Leben mit Hartz IV als “angenehme Variante” ansehen. Die Politik müsse Härte zeigen. Dass sich aber die Rede vom “angenehmes Leben” mit Hartz IV als billiger Trick erweist, zeigt sich beinahe im selben Atemzug. Denn Roland Koch ist dabei völlig klar, was Hartz IV bedeutet:

Wir haben ja zwei Gruppen: jene, die durch die Unbilden des Lebens, völlig ohne eigene Schuld, in Not geraten sind. Denen möchte man Hartz IV eigentlich nicht zumuten. Und wir haben Menschen, die mit dem System spielen und Nischen ausnutzen. Wenn man das nicht beschränkt, wird das System auf Dauer illegitim. (Roland Koch zur Wirtschaftswoche)

Das ist mal wieder die übliche Propagada der Neokonservativen und Neoliberalen. Die meisten Arbeitslosen seien ja selber schuld, sie wollten ja nur nicht arbeiten. Zahlen o.ä. legen sie dabei nie vor. Und selbst, wenn wir einmal davon ausgehen würden, dass es ein paar Leute gibt, die nicht arbeiten wollen, hat das Bild vom Menschen und der Gesellschaft, das hier zum Vorschein kommt, weder etwas mit Sozialstaatlichkeit und Solidarität, noch überhaupt etwas mit Humanismus oder Ethik zu tun. Hier geht es nicht darum, dass wer mehr arbeitet auch mehr verdienen soll; dem kann man zweifellos zustimmen, ohne die Workfare-Prinzipien oder gar Zwangsarbeit gutzuheißen – und nicht nur bei der Forderung nach Zwangsarbeit kann man mit gutem Recht davon sprechen, dass Koch und Co. hier tatsächlich in voraufklärerische Zeiten zurück wollen. Aber es geht auch nicht primär um Roland Koch, der sich mal wieder eine neue Gruppe ausgesucht hat, die man für die Probleme unserer Gesellschaft verantwortlich machen kann.

Hier geht es um Fundamentaleres. Hartz IV möchte man “Unschuldigen” eigentlich nicht zumuten, so Koch. Ja, Hatz IV ist unmenschlich, es ermöglicht eben kein angenehmes, kein menschenwürdiges Leben. Diejenigen aber, die “uns” nur ausnutzen, diese ganzen Parasiten, sollen “unsere” ganze Härte zu spüren kriegen.  Sie sollen gezwungen werden, zu arbeiten, hart zu arbeiten, für einen niedrigen oder keinen Lohn, um des Arbeitens willen. Für sie soll das Leben nicht angenehm sein.

Härte, Unbarmherzigkeit, Menschen das Leben so unangenehm wie möglich machen, und all das von einem Politiker einer Partei, die sich “christlich” nennt. Dies ist aber die Gesellschaft, die hinter der neokonservativen Politik steht, wo ein angenehmes Leben nur für die “Leistungsträger” ermöglicht werden soll. Diese müssen sich aber auch immer anstrengen in einem nie enden und nie nachlassenden wollenden Kampf um Geld und Status und Karriere, damit sie nicht abrutschen zu denen, die sie verachten, gegenüber denen sie “Härte zeigen”, die Härte der Leistungsträger, die es einfach nicht ertragen können, wenn Menschen, die sich ihrem pervertierten Leistungsdrucksystem nicht stellen wollen oder können, ein Leben führen, das auch nur halbwegs menschenwürdig ist. Dass unsere Gesellschaft durch den technischen Fortschritt es ermöglichen würde, dass alle Bürger ein Leben führen könnten, welches frei ist von materieller Not, dass sie die unmittelbaren menschlichen Bedürfnisse für alle in einer nie gekannten Art befriedigen könnte und die Voraussetzung für ein angenehmes Leben für alle bieten könnte, ist für sie eine abwegige Vorstellung.

Nein, der Mensch soll immer in Angst leben, und sei es nicht die Angst vor irrealen Gefahren, dann die Angst, in ein abschreckendes System sozialer Kälte einer gnadenlosen Gesellschaft abzustürzen. Druck muss überall spürbar sein. Jeder muss sich behaupten, jeder muss immer und überall kämpfen, und der Feind muss besiegt werden. Der Feind, das ist nicht nur “der Terrorist”, das ist auch der Konkurrent um den Arbeitsplatz, und das sind die “Arbeitsunwilligen”, sind die Hilfsbedürftigen, sind die Schwächeren, gegen die man triumphieren muss und gegenenüber denen man keine Gnade oder Menschlichkeit kennen darf.  Nur der Stärkere setzt sich durch.

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Zensursula im Ministerium für Arbeit und Soziales: das fängt ja schon mal gut an …

Was die neue Bundesregierung unter “Veränderungen von Hartz IV” wirklich versteht, zeigt die neue Arbeitsministerin Zensursula von der Leyen jetzt ganz deutlich. Und dabei ist von den angeblich angedachten “Verbesserungen” außer Floskeln nichts zu sehen – im Gegenteil. Auf Artikel in der Springer-Presse zu verlinken ist natürlich immer so ne Sache, aber dieser zeigt ganz deutlich, was die Bundesregierung und ihre medialen Unterstützer wirklich wollen: Wer nicht arbeiten will, soll härter bestraft werden (BILD) (via).

Zensursula will, so sagt sie in einem Interview mit diesem Blatt, eine umfangreichere und härtere Anwendung von Sanktionen gegen “arbeitsunwillige” Hartz IV-Empfänger. Sozialleistungen soll es nur gegen Arbeitszwang geben.

– Genau, das Problem ist nicht, dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt, nein, diese faulen Schmarotzer wollen ja alle nur nicht arbeiten!! Dann muss man sie eben zwingen! Und notfalls sollen sie auch für 1 Euro oder sogar weniger arbeiten, schließlich soll man doch auch nichts geschenkt bekommen! Es gibt noch nicht genug Sanktionen – die Leistungen komplett, zu 100%, streichen, reicht noch nicht! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!!1!! –

Und Zensursula zeigt außerdem, dass sie nicht nur nichts von Arbeitsmarkt-, sondern auch nichts von Wirtschaftspolitik versteht:  “Da wir so viel exportieren, muss die weggebrochene Nachfrage aus dem Ausland wieder steigen”, wird sie in dem Artikel zitiert.

Klar. Und wie sollen wir das machen? Sollten wir nicht stattdessen eher die Binnennachfrage steigern, dafür sorgen, dass eben durch höhere Sozialleistungen, höhere Löhne und weniger Arbeitslosigkeit der Konsum steigt? Aber nein, das würde nicht ins Konzept einer neoliberalen Politik passen. Auch wenn es sinnvoll wär, egal.

Welche Vorstellungen und welches Gesellschaftsbild diesen Vorstellungen zugrunde liegt, erläutert derweil das Zeit-Essay “Armutsdebatte: Ab in die Dienerschule”:

Die Allianz der Leistungsträger träumt von einer neuen Gesellschaft, in der die Schwachen sich selbst überlassen bleiben

Und es zeigt, was von den Vorstellungen Sloterdijks und Co. zu halten ist,, warum in Wirklichkeit eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet und wie wir derzeit einen Klassenkampf von oben erleben, was vom angeblichen “Leistungsprinzip” zu halten ist und warum Gerechtigkeit und Chancengleichheit wichtig sind.

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Twitter – mehr als nur ein Kaffeekränzchen

Nun sind also auch die Blogger-Kollegen Jens Berger und Frank Benedikt bei Twitter gelandet. Ich bin dort unter dem Account @H0MERSIMPS0N auch seit Mai letzten Jahres vertreten – etwas länger, als es dieses Blog gibt. Doch wozu das Ganze?

Twitter, oder andere Mikroblogging-Dienste wie Identi.ca, bieten – im Gegensatz zu dem Eindruck, der durch die meisten Erwähnungen in der Mainstream-Presse erweckt wird – in der Tat mehr Möglichkeiten, als solche weltbewegenden Meldungen wie “Ich trinke Kaffee.” oder “Ich trinke Tee.” an die Öffentlichkeit zu bringen. Und auch politische Tweets (so nennt man die Statusmeldungen bei Twitter) müssen nicht so aussehen wie “Auf dem Weg zur FDP-Ortvereinsvorstandssitzung Wanne-Eickel” und “Zurück von der FDP-Ortvereinsvorstandssitzung Wanne-Eickel”. Man kann Mikroblogging so nutzen (da ist ja auch nichts gegen einzuwenden) – muss man aber nicht.

Denn: das, was man bei Twitter liest, ist von den Nutzern abhängig, denen man folgt, die Gestaltung der Inhalte, für die diese neuen Technik das Medium bietet, kommt von den Usern selbst. Und so kann man Twitter durchaus sehr gewinnbringend nutzen.

Ich verwende Twitter v.a. zum Austausch von Links und Hinweisen auf z.B. interessante Zeitungsartikel oder Blogbeiträge. Die Hinweise sind bei Twitter gebündelter, aktueller und leichter weiterzuverbreiten, als wenn man sie z.B. über Verlinkungen in verschiedenen Blogs bezieht – und, nutzt man Mikroblogging zusätzlich zum eigenen Blog, kann man dieses besser für eigenene inhatliche Beiträge nutzen. Das Mikroblogging bietet die technische Ausstattung für extrem schnelle und zeitnahe Meldungen über Ereignisse, meist schneller als Webseiten, Blogs oder Feeds. Außerdem nutzen ich Twitter auch, um kurze Kommentare, zu diesen Artikeln, zu politischen Vorgängen usw., zu lesen und natürlich auch selbst zu geben. Möglich ist zudem die direkte Kommunikation der Twitterer untereinander. All dies sind für mich Faktoren, die Mikroblogging zu mehr als eine bloßen Spielerei mit banalen Inhalten zum Zeitvertreib machen können.

Die gerne als “Web 2.0” bezeichneten Möglichkeiten der neuen Technologien wie Blogs und wie Twitter bieten die Möglichkeit, politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Autoritäten und Hierarchien immer besser zu hinterfragen und zum Einsturz zu bringen und zu einer Demokatisierung der gesellschaftlichen Kommikation beizutragen – und das sollte doch jede Skepsis gegenüber “neumodischer Technik” übertrumpfen. 😉

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5 Jahre Hartz IV: 5 Jahre zuviel

Seit dem 1. Januar 2005 besteht das “Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt”, mit dem die neoliberalen Workfare-Prinzipien, Menschen ohne Arbeit das Leben so schwer wie möglich zu machen, in Deutschland eingeführt wurden. Mit ihm erreichten in kurzer Zeit Armut und Unsicherheit in Deutschland ein neues Rekordhoch. Die Ensoldidarierung der  Gesellschaft wurde vorangetrieben und, mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, geradezu zur Tugend erhoben. Kein Geburtstag also, den man feiern könnte – und auch die deutsche Witschaft kann dies nicht.

Die Folge dieses auch als “Hartz IV” bekannten Gesetzes war für einen großen Teil der Bevölkerung, für Millionen von Menschen, v. a. auch für Frauen und Kindern, ein Abgleiten in die Armut, in eine von Politik und veröffentlichter Meinung geschaffene und zudem stigmatisierte Schicht, aus der es kaum ein Entkommen gibt. Weitere Auswirkungen sind eine wachsende soziale Ungleichheit, der mittlerweile zweitgrößte Niedriglohnsektor aller Industrieländer, die massive Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, soziale Unsicherheit und nicht zuletzt ein Wandel im gesellschaftlichen Klima. Galt es früher eher, Arbeitslosen zu helfen, eine neue Beschäftigung zu finden, auch denen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, die nicht arbeiten können, und auch die wenigen, die wirklich nicht arbeiten wollen, nicht verhungern zu lassen, so sollen heute, ganz wie von den geistigen Vätern und den unmittelbarern Schaffern und Umsetzern der neoliberalen Agenda beabsichtigt, Hart IV- Bezieher leiglich “faulenzende Sozialschmarotzer” darstellen, die der Gemeinschaft nur Geld kosten, die man zwingen muss, zu arbeiten, notfalls auch unbezahlt, denen man noch ein paar Mittel zugesteht, die vielleicht gerade noch das Überleben sichern, mehr aber auch nicht. Die Sanktionen nach §31 SGB ermöglichen es, bis zu 100% der Leistungen nach Hartz IV zu streichen – Leistungen, die ein soziales Existenzminimun darstellen sollen (wenn sie nicht darunter liegen – mit dieser Frage wird sich in Kürze ja das Bundesverfassungsgericht befassen). Erstmals seit vielen Jahrzehnten gibt es daduch wieder Hunger in Deutschland.

Der Arbeitsmarkt wurde ebenfalls nicht belebt. Hartz IV und die ganze Agenda 2010 schaffen werder Flexibilität des Arbeitsmarktes, noch soziale Sicherheit oder höhere Einkommen, und auch keine neue Beschäftigung. Kaum verfolgt die aktive Förderung oder (Weiter-)Qualifizierung von Arbeitslosen oder eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Dabei erscheint gerade die in Deutschland verfolgte neoliberale Politik nach dem Vorbild der angelsächsischen Staaten, die statt auf Förderungsmaßnahmen einseitig auf den Abbau sozialer Leistungen und erhöhten Druck gesetzt hat, deutlich weniger erfolgversprechend, als eine Strategie, die Flexibilität des Arbeitsmarktes und eine hohe soziale Sicherheit sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik, nach dem Vorbild etwa Dänemarks oder Schwedens miteinander kombiniert (siehe dazu: Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar). Statt Flexibilität im Arbeitsmarkt schuf Hartz IV nur Druck, Druck Arbeitsstellen anzunehmen, die nicht da sind. Denn Arbeitsplätze kann diese Maßnahme nicht schaffen, und dafür war sie auch nicht gedacht. Der Konsum der Bevölkerung, die Binnennachfrage, wurde durch die massive Minderung der Kaufkraft der von Hartz IV Betroffen stark geschwächt, während die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft wuchs, die Exporterlöse aber, v. a. im Zuge der Weltwirtschaftskrise absackten. Und auch die Unternehmen erhalten kaum mehr Anreize, Beschäfigte einzustellen oder ihre Investitionen auszuweiten. So kommt es, dass die Abnahme der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren fast ausschließlich auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen ist, die tatsächlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit, v. a. die schwache effektive Nachfrage, aber unberührt bleiben

Aber was schreibe ich, die Erkenntnis, dass Lohnsenkungen und damit Sinken der Nachfrage zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen sind bei den neoliberalen Talkshow-Ökonomen, den Lobbyisten der Arbeitgeberverbände und den Politikern, die ihren Ratschlägen wie die Ratte dem Flötenspieler folgen, nicht angekommen – für sie stellen hohe Löhne nu Kostenfaktoren dar, Sozialleistungen mindern nu den gewünschten Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen. Diese Kuzsichtigkeit lässt seit fast 30 Jahen unsere Arbeitslosigkeit ansteigen, die Löhne stagnieren, die soziale Ungleichheit zunehmen, die Investitionsraten der Unternehmen abnehmen. Staatliche Beschäftigungsprogramme zu guten Löhnen, nicht ein durch staatliche Zuschüsse geschaffener Niedriglohnsektor der “Aufstocker” wären ein Weg zu einer steigenden Nachfrage, sinkenden Sozialkosten, niedrigerer Arbeitslosigkeit und einer Belebung der Wirtschaft.

Die Verantwortliche der Hartz IV-Gesetze unterdessen sind, zwar teilweise vorbestraft, so doch in einträglichen Posten untergekommen. Schröder, Clement, Riester, Müller und wie sie alle heißen, sie vertreten nun auch offiziell die Interessen, für die sie in der Vergangenheit Politik gemacht haben. Für sie zumindest hat sich die Einführung von Hartz IV gelohnt. Und die neue Bundesregierung führt, wie sollte es auch anders sein, die Politik, die sie als (Neo-)Konservative und (Neo-)Liberale kaum “besser” hätten umsetzen können, weiter fort.  Sollten vielleicht wenigstens ein paar Unternehmen irgendwann einsehen, dass sich eine niedrige Nachfrage, durch prekäre und stets unsichere Beschäftigungsverhältnisse demotivierte Arbeitskräfte, ein Klima der Angst und des Misstrauens, der Bevormundung und Überwachung, auch für sie negativ auswirken, so wäre vielleicht aus dieser Richtung etwas zu hoffen. Doch danach sieht es leider nicht aus. Gerade in Zeiten des ungebremsten (und von der Realwirtschaft nahezu vollständig entkoppelten) Finazmarktkapitalismus steht mehr denn je die kurzfristige Rendite denn die langfristige Performance eines Unternehmens oder gar einer Volkswirtschaft im Vordergrund.

Nein, Widerstand gegen die witschaftlich schädliche Politik und gegen die unsozialen, menschenverachtenden Praktiken, die mit der Agenda 2010 und besonders mit Hartz IV  zur vollen Entfaltung kamen, muss aus der Bevölkerung kommen: aus den betroffenen Gruppen, aus den Gewerkschaften, aus sozialen Gruppierungen, von der Straße, aber auch von kritischen Seiten der Wissenschaft und der Medien – und, da diese versagen, aus der Gegenöffentlichkeit zum Mainstream, die die Möglichkeiten des Internets in vollem Umfang nutzen muss. Während die Mainstream-Medien, offenbar verschämt über die offensichtlichen Misserfolge und die durch die Hartz-Gesetze verstärkten oder erst geschaffenen Missstände über das “Gbeurtstagskind” Stillschweigen bewahren, gibt es dort sehr treffende Analysen, die den Geist und die Folgen von Hartz IV beleuchten. Hier eine kleine Auswahl von lesenswerten Beiträgen:

Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2005 (Christoph Butterwegge auf den NachDenkSeiten):

Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das Gesicht der Bundesrepublik seither prägt. (…) Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet. (…) Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. (…)

Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Dass heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Betriebsrät(inn)en in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat. (…) Da trotz des irreführenden Namens „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ auch immer mehr (voll) Erwerbstätige das Alg II als sog. Aufstocker, d.h. im Sinne eines „Kombilohns“ in Anspruch nahmen bzw. nehmen mussten, um leben zu können, etablierte Hartz IV ein Anreizystem zur Senkung des Lohnniveaus durch die Kapitalseite. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt die Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Kardinalproblems beizutragen. Mittlerweile hat die Bundesrepublik unter den entwickelten Industriestaaten den breitesten Niedriglohnkorridor nach den USA. (…)

Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Stress und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. (…) Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, dass Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. (…)

Jenseits der Schmerzgrenze (Der Freitag):

Fünf Jahre Hartz IV bringen vor allem eines: mehr Armut. Das entspricht dem Geist, aus dem die „Reform“ entsprang. Betroffene sprechen von “Überlebenstraining” (…)

Beides entspringt einer Vorstellungswelt, die vor fünf Jahren mit Hartz IV ihre bürokratische Entsprechung fand. Danach gibt es gar keine Erwerbslosigkeit, nur der Preis der Ware Arbeitskraft ist zu hoch. Politik aus diesem Geist heraus ist „Räumung des Marktes“, bedeutet Manipulation der Statistik, heißt Ein-Euro-Jobs und nötigt dazu, jede Tätigkeit anzunehmen. Hartz IV hat das Einkommensniveau gedrückt und den Zwang erhöht, sich für Löhne unter dem Existenzminimum zu verkaufen. 1,3 Millionen Erwerbstätige sind mittlerweile auf ergänzende Hartz-Leistungen angewiesen. (…)

Die Grundformel der Arbeitsmarktpolitik heißt „Aktivieren“ – was sich freilich auch mit Bestrafung derjenigen, die mit dieser „Aktivierung“ nicht einverstanden sind, übersetzen lässt. Die Arbeitsagenturen kontrollieren und sanktionieren aber mittlerweile nicht nur das Tun, sondern auch die Haltung, die Einstellung der Langzeiterwerbslosen, wie etwa eine Studie des Siegener Soziologen Olaf Behrend gezeigt hat: Hartz IV wirkt als Mittel zur sozialen Disziplinierung. (…)

5 Jahre Hartz IV – Kein Grund zum Jubeln (Lowestfrequency):

(…) Doch den Betroffenen redete man ein, sie sollten jede Arbeit annehmen, es sei besser, für einen Hungerlohn zu arbeiten, als sich aus dem Lohnerwerb zu verabschieden. Ihnen geht es ja gut. Woanders wäre es schlechter. Schon im alten Griechenland wusste man: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, und dagegen ist es doch wunderbar. (…) Und schauen sie doch, sie bekommen sogar Arbeit, unbezahlt vielleicht, meist nicht ausreichend, um doch ein bisschen weniger Fremder zu sein, aber denen drüben, denen ergeht es noch schlechter, haben die Faulpelze da in der Ferne, jenseits des Stiefels oder des Ural, haben die ein Fahrrad? Urlaubsanspruch? Medizin? Nun sehen Sie doch, es geht immer noch schlechter. Nein, hier ist es gut, solange man den Vergleich gut wählt. (…)

Die ganze Agenda 2010, der Überbau durch das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, ein Sammelsurium aus Angst, Druck und Rückzügen in vorkriegsähnliche Zustände, was die Arbeitslasten an betrifft. Mehr Niedriglohn, warum eigentlich notwendig? Weniger Leistung, nur noch das Allernötigste und dann noch sanktionierend streichen. Arbeit als Pflicht zu jedem Preis, also unter Zwang, um nicht unter das Existenzminimum zu rutschen (…)

Es ist halt nicht zum Nulltarif, immer ein Arbeitsheer haben zu wollen, eine stehende Armee an Hungerleidern, denen eingedroschen wurde, sie sollten, müssten tun, was ihnen gesagt, besser noch als zu fragen, welchen Wert sie haben. (…)

Zwei Geburtstagskinder (binsenbrenner.de) (zur Erklärung: das andere “Geburtstagskind” ist ELENA):

(…) Dass die Zahl der Gratulanten für Hartz IV nicht eben überbordend sein würde, war absolut absehbar, dass die geistigen Väter und derzeitigen Erzieher sich sehr geschmeidig an klaren Stellungnahmen vorbeidrücken würden, erstaunt da schon mehr. Das eine oder andere sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut veröffentlichte „Ja, aber…“-Gutachten zur Wirkung von Hartz IV, die an der Durchführung Beteiligten, also Arbeits- und Sozialverwaltung hielten sich, außer mit einem schmallippigem Bekenntnis, dass man (nach fünf Jahren!) die Kinderkrankheiten ausgemerzt habe, sehr zurück (…)

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Eingesperrt ohne Verdacht – der deutsche Rechtsstaat 2009?

Juli Zeh und Rainer Stadler schreiben im Süddeutsche Zeitung Magazin über den Fall eines marrokanischen Studenten, der während des Oktoberfestes ohne Verdacht inhaftiert wurde. Dieser Bericht zeigt wiedermal, wie weit die Bürgerrechte in Deutschland schon mit Hilfe einer Terror-Panik abgebaut wurden und wie weit die fundamentalsten Grundsätze des Rechtsstaats missachtet, umgedreht oder pervertiert werden:

Um ihren massiven Eingriff zu rechtfertigen, gibt sich die Polizei alle Mühe, Samir als höchst gefährlich erscheinen zu lassen. Seine Freunde heißen in dem Observationsbericht »Kontakt- und Vertrauenspersonen«; sein Bekanntenkreis ist ein »Geflecht«. Dass er sich in der Moschee mehrmals mit einem Bekannten unterhielt und beide das Gebäude »jeweils getrennt voneinander« verließen, wird als verdächtig eingestuft; ebenso wie der Umstand, dass Samir sich von der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden belästigt fühlte. »Der Betroffene zeigte sich äußerst misstrauisch« und »versuchte, seine Verfolger abzuschütteln«. Weil Samir sich nicht in aller Ruhe von Unbekannten fotografieren und verfolgen ließ, schließen die Ermittler daraus, dass er »Freiraum für Aktivitäten gewinnen« wollte. Die Tatsache, dass Samir vor seiner Festnahme zweimal bei der Polizei anrief, um Hilfe gegen seine Verfolger zu erbitten, fehlt in dem Bericht.

Doch auch die Richterin hat sich das präventive Prognose-Denken zu eigen gemacht: In ihrem Beschluss wiederholt sie, was die Polizei zu Samirs angeblichen Kontakten zur Islamisten-Szene vorgebracht hat. Und schreibt: »Weitere Kontakte können nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden.« (…) Schließlich heißt es in dem Beschluss: »An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« Auf den Präventivstaat angewendet bedeutet dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ist das Szenario für einen Anschlag nur verheerend genug, haben die Sicherheitsbehörden weitgehend freie Hand.

Noch mehr haarsträubende Details zu den angeblichen “Verdachtsmomenten” in diesem Fall gibt es auch beim Stern unter “Angst vor einem Anschlag: Vorsorglicher Terrorverdacht”:

(…) waren Ermittler des bayerischen Staatsschutzes. Sie hatten den Mann seit längerem im Visier und dabei offenbar nicht mehr festgestellt, als dass er bis zum Mai dieses Jahres Kontakt zu einer Person hatte, die irgendwann im Jahr 2003 einmal Kontakte zu Bekkay Harrach hatte. Jenem Islamisten, der kurz vor der Bundestagswahl per Video zum Dschihad gegen Deutschland aufrief und seit 2007 im Verdacht steht, Kontakte zu Osama bin Laden zu haben.

Als Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee “ständig seine Umgebung geprüft”. Außerdem habe die “Zielperson” bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen “mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln”. Möglicherweise, so wird spekuliert, um “Freiraum für Aktivitäten” zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.

Glaubt man den Staatsschützern, dann gibt es in dieser Hinsicht nur vage Anhaltspunkte. So traf sich Hatem M. – der Mann, der zusammen mit Marouane S. in Gewahrsam genommen wurde – im Jahr 2003 in Bonn mit Bekkay Harrach. Und obwohl die Ermittler ausdrücklich erklären, dass es keinerlei Belege dafür gibt, dass auch Marouane S. den Islamisten Bekkay Harrach jemals getroffen hat, heißt es aus dem Münchner Polizeipräsidium überraschend, Marouane S. könnte sich durch die Terror-Videos seines “Freundes” Bekkay Harrach angesprochen fühlen und sie quasi als eine “persönliche Botschaft an sich” sehen. Die Ermittlungsrichterin geht sogar noch weiter. Trotz der gegenteiligen Aussage der Staatsschützer erklärt sie, “der Betroffene pflegte in der Vergangenheit Kontakt zu dem Verfasser der Videos und zwar über Hatem M.”.

Ein Student sieht sich – zu Recht – von den Handlangern des Überwachungsstaates verfolgt, wendet sich sogar an die Polizei – und gilt als terrorverdächtig? Weil er Muslim ist? Und deshalb fühlt er sich von Drohvideos, die jemand, den er nicht kennt, ins Internet gestellt hat, angestachelt als eine “persönliche Botschaft an sich”? Tun das vielleicht auch alle Muslime? Und wenn die Verdachtsanforderungen schrumpfen, je mehr die Größe der Gefahr wächst: He, die Terroristen könnten ja vielleicht Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen erlangen und einen Atomkrieg entfachen. Wie konkret müssten da die “Verdachtsmomente” sein? Vielleicht, dass jemand aus dem selben Land wie ein Terrorist kommt? Könnte man die nicht auch alle präventiv wegsperren?

Kein fassbarer Verdacht, allerhöchstens noch Indizien, die einen Verdacht vielleicht irgendwann einmal möglich machen könnten, solche Verdachtsanforderungen, die mit den Hinweis auf eine angebliche Terrorgefahr gerade mal in homöopathischer, also selbst für einen Experten wohl kaum wahrnehmbarer Höhe –  man könnte auch von einem Nichtvorhandensein sprechen –  liegen sollen, eine Beweislastumkehr – dies sind Vorgänge, für die in einem Rechtsstaat kein Platz ist. Stattet man Positionen in einer Gesellschaft mit Autoritätsrechten aus – v. a., wenn diese das Gewaltmonopol des Staates oder die Rechtssprechung ist – so benötigen die Personen, die diese ausfüllen, eine wirksame Kontrolle, damit diese nicht ausgenutzt und ausgehöhlt werden.

Und dieser Fall ist bei weitem kein Einzelfall – schaut nur mal bei annalist vorbei. All dies kann so gut wie jeden treffen. Die normalsten Handlungen können plötzlich “terrorverdächtig” sein oder einen “Terrorverdacht” “nahelegen”, wenn die Öffentlichkeit ersteinmal genug mit ständigen Terrorwarnungen bearbeitet ist. Wie real diese Gefahr ist, ist dabei unerheblich – wichtig ist, für wie real sie die Bevölkerung hält. Diese Gefahr wird in der veröffentlichten Darstellung niemals abnehmen – hat sich eine Warnung nicht als gerechtfertigt erwiesen, folgt reflexartig der Verweis, dass die Gefahr jedoch keineswegs veschwunden ist, nicht einmal kleiner geworden ist sie – sie besteht weiterhin und wird regelmäßig erneuert. Dass ist die Gesellschaft der Verängstigung und der Einschüchterung, die die Neokonservativen sich immer gewünscht haben, um die von ihnen ersehnte Stärkung der “Sicherheits”- und Überwachungsmaßnahmen zu verwiklichen und eine Stimmung zu erzeugen, in denen in anderen demokratischen Rechtsstaaten unrechtmäßige Verhaftungen und Gefängnisse, sogar die Anwendung von Folter durchgeführt, geduldet und unterstützt wird – alles im Dienste der Sicherheit vor der allseits und allerzeit bestehenden Gefahr. Die harte, autoritäre Hand des Staates, law und order – wobei man es mit dem existierenden law nicht immer so genau nehmen muss, wenn man es eigentlich verteidigen sollte.

Dies zeigt wieder mal umso mehr, wie sehr unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Demokratie verteidigt werden müssen gegen die, die ihn abbauen und einschränken wollen – auch unter dem Vorwand, ihn zu schützen.

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Zwei Buchtipps (nicht nur) zu Weihnachten

Suchtihr noch ein Geschenk für Weihnachten und wollt nicht schon wieder Pralinen, Schnaps oder Krawatten verschenken? Vielleicht ein Buch? Dann aber nicht den neuesten “Ratgeber” oder die Auslegeware aus der Bücherkommerzkette?

Na, da ist doch z.B. das erste Buch des geschätzten Blogger-Kollegen Roberto de Lapuente (ad sinistram) “Unzugehörig – Skizzen, Polemiken & Grotesken” wird Anfang der Woche beim Renneritz-Verlag erscheinen und eine überarbeitete Auswahl seiner besten Texte enthalten. (via binsenbrenner.de) Wir dürfen also ein Buch mit äußerst intelligent geschriebenen gesellschaftskritische Texten erwarten. Sobald mehr Informationen dazu da sind, gibt’s die natürlich auch hier.

UPDATE: Das Buch ist erschienen und hier zu beziehen, und dort gibt es auch eine Leseprobe.

Oder wie wäre es mit “Meinungsmache: Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen” von Albrecht Müller von den NachDenkSeiten ?

“An vielen praktischen Beispielen wird gezeigt, dass wichtige politische Entscheidungen in strategisch geplanten Kampagnen der Meinungsbeeinflussung vorbereitet werden. Meinung macht Politik. Meinungsmache bestimmt auch wirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen. Meinungsmache bereitet Kriege vor und prägt oft die Geschichtsschreibung. Die Theorie der demokratischen Willensbildung ist weit von dieser Realität entfernt. Wer über publizistische Macht und unbegrenzte finanzielle Mittel verfügt, bestimmt weitgehend die relevanten Entscheidungen und kann so seine Interessen durchsetzen. Wichtige Voraussetzungen für das Gedeihen demokratischer Willensbildungs-prozesse sind nicht mehr gegeben.”

Über das Buch

Inhaltsverzeichnis

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