Der Bildungsstreik 2009 und das deutsche Bildungssystem

Unter den Slogans “Unibrennt” und “UnsereUni” protestieren seit einigen Wochen in zahlreichen Ländern Europas Schüler und Studierende für ein besseres Bildungssystem. Schulen und Hörsäle werden besetzt, häufig solidarisieren sich auch Lehrende mit den Anliegen der Studierenden, und anders als häufig zuvor berichten sogar eher konservative Medien deutlich positiv über den Bildungsstreik und zeigen Verständnis für die Anliegen und Forderungen der Beteiligten.

Was sind die Gründe für diese Proteste? Wo liegen Defizite des deutschen Bildungssystems vor, und wie wirken sich diese aus? Und welche Möglichkeiten und Perspektiven bestehen für eine Aufhebung dieser Defizite?

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Die deutsche Bildungspolitik: chronisch unterfinanziert

Das deutschen Bildungssystem verfügt über eine viel zu geringe finanzielle Ausstattung, an den Bildungsstätten fehlt es an allen Ecken und Enden. Den immer wieder verkündeten parolenhaften Verlautbarungen, dass Bildung die wichtigste Ressource sei, dass sie unsere Zukunft ist usw., folgten nie die entsprechenden Maßnahmen, die Phrasen der Politiker erwiesen sich vorwiegend als heiße Luft. Eine  Ausweitung des Haushaltsanteils für Bildungs- und Forschungsausgaben etwa wäre dringend geraten, doch erfolgt diese nicht, hier rangiert Deutschland im hinteren Teil der Industrieländer. Deutsche Schulen und Hochschulen sind überbelegt, die extrem schlechte Betreuungsquote lässt eine direktes Eingehen auf die Lernenden oft unmöglich werden.

Die Politiker in Regierungsverantwortung behandeln die Bildungspolitik immer noch stiefmütterlich. Mit politisch oder wirtschaftlich sinnvollen Gründe ist dieses Verhalten eher schwer zu erklären. Vielmehr scheinen Defizite im Funktionieren unseres politischen Systems die ausschlaggebende Rolle zu spielen. Dessen Strukturen führen dazu, dass für die Partei- und Karrierepolitiker, die unser System in die entscheidungsrelevanten Positionen hievt,  Erfolg v. a. an der Anzahl der Wählerstimmen gemessen wird und die Jagd nach diesen den obersten Rang im politischen Handeln einnimmt. Mit Bildungspolitik unterdessen lassen sich kaum Wahlen gewinnen – Steuerentlastungen, Rentenerhöhungen kurz vor der Wahl o. ä. versprechen da schon mehr Erfolg. Zudem hat die Bildung keine einflussreiche Lobby. Auch von Politikern, die nach ihrer Regierungs- oder Parlamentslaufbahn  in Bildungseinrichtungen unterkommen, hört man eher wenig.

Elitenbildung statt Aufhebung der sozialen Selektion

Neben der chronischen Unterfinanzierung zeichnet v. a. ein sehr hohes Maß an sozialer Selektivität das deutsche Bildungssystem aus. In keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg derart stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses ab. Die Selektivität beginnt im dreigliedrigen Schulsystem, Gesamtschulen etwa heben laut Bildungswissenschaftlern die Leistungen eher schwächere Schüler deutlich an. Die Selektivität geht an den Hochschulen weiter, hier hat Deutschland OECD-weit die wenigsten Arbeiterkinder. Dies führt neben einer stärkeren sozialen Ungleichheit auch zu einem für ein Industrieland relativ niedrigen Anteil von Hochschulabsolventen. Gerade die Einführung von allgemeinen Studiengebühren in den CDU-geführten Bundesländern hat eine erhebliche Abschreckungswirkung für Kinder aus ärmeren Familien, ein Studium aufzunehmen. BAföG-Leistungen erhalten nur 25 % der Studierenden, Erhöhungen der Leistungen erfolgen nur in extrem großen Zeitsprüngen und stellen noch nicht einmal eine Anpassung an die Inflation dar. Die ursprünglich versprochene Erhöhung (in Wirklichkeit also eine Real-Beibehaltung) der Leistungen will die neue Bundesregierung nun sogar nur in Verbindung mit ihren geplanten einkommensunabhängige Elite-Stipedien vornehmen. Diese Stipendien werden nichts gegen die soziale Selektion tun, sie sind wie die Elite-Unis wieder ein Teil eines falschen Denkens: wir brauchen nicht mehr Elite-Studenten und nicht größere Unterschiede der Qualifikationen (wie auch Bachelo und Master), wir brauchen mehr Studierende, und dabei v. a. mehr aus sozial weniger privilegierten Schichten.

Hierbei sollte man nicht außer Acht lassen, dass es durchaus politische und gesellschaftliche Kräfte geben kann, die kein Interesse an einer Aufhebung der sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems haben. Das Herrschaftssystem der Eliten könnte in Gefahr geraten, wenn etwa immer mehr Arbeiterkinder in den Genuss einer immer besseren Bildung gelangen.

Bachelor und Master – eine grundlegend falsche Reform

Großen Unmut auf Seiten der Studierenden wie auch der Lehrenden hat zudem in den letzten Jahren der Bologna-Prozess hervorgebracht, die Umstellung der Studienabschlüsse in Deutschland auf das angelsächsische zweistufige Bachelor/ Master-System. Dabei kann man nach 3 Studienjahren den Bachelor-Abschluss erlangen, und nur ein Teil der Absolventen darf danach noch 2 Jahre draufsetzen und mit dem Master abschließen (der etwa dem Niveau der jetzigen Abschlüsse entspricht). Ziel dieses Prozesses ist es, günstigere Absolventen eines kürzeres Schmalspustudiums (durch die Beschränkung des Masters) sowie eine stärkere Konzentration auf unmittelbar für die Privatwirtschaft verwertbares Wissen (zu Lasten eines umfassenden Bildungsbegriffes und zu Lasten der Fächer außer BWL, Jura, Medizin und einigen Naturwissenschaften) zu produzieren.

Diese Umstellung stellt einen weiteren Schritt der Umorientierung der Bildungspolitik hin zum neoliberalen Bild der “Leistungsgesellschaft” dar. Der Lernstoff wird stark komprimiert, es gibt einen wesentlich stärkeren Leistungsdruck und eine Erhöhung der Prüfungszahlen. Verschulung, mehr Auswendiglernen, mehr Kontrollen und weniger Eigenständigkeit sind weitere Merkmale der neuen Studiengänge.  Universitäre Abläufe werden bürokratischer und stärker hierarchisch organisiert. Man scheint eine stärkere Disziplinierung mit autoritäreren Maßnahmen, die Abnahme von Kritik und eine Depolitisierung der Studentenschaft erreichen zu wollen. (Näheres zu BA/MA unter: Bachelor und Master – Bildungspolitischer Ausdruck des neuen gesellschaftlichen Leitbildes).

Dazu passt, dass die Umstellung der Studiengänge von der Politik diktiert und nicht demokratisch erarbeitet wurde. Weder Studierende noch Lehrende waren in die Entscheidungen einbezogen, noch konnten sie an diesen etwas ändern oder sich ihr widersetzen. Dabei gab und gibt es durchaus auch unter vielen Lehrenden extrem kritische und ablehnende Stimmen, und dies keineswegs nur von eher links gerichteten Dozenten, sowie ja auch selbst eher konservative Medien dem Prozess äußerst kritisch gegenüberstehen. Einzig die CDU- und FDP-nahen studentischen Hochschulgruppen (RCDS, LHG) lehnen die Proteste ab. Wie weit dies auf Wegsehen vor den Problemen oder eher auf Parteisoldatentum beruht, möchte ich hier nicht beurteilen. Eine über fast alle politischen Lager sich zeigende Ablehnung also – nur lassen sich die Partei- und Bildungspolitiker davon kaum beeindrucken. Und auch dass die Bachelor-Absolventen auf dem Arbeitsmarkt deutlich weniger als die Absolventen der alten Studiengänge eingestellt werden, die Wirtschaft die neuen Studiengänge also gar nicht annimmt, offenbart die extremen Schwierigkeiten, die entstehen, wenn Entscheidungen ideologisch motiviert und nicht rational und wissenschaftlich fundiert getroffen werden, wenn der Rat von Experten nicht eingeholt und Betroffene nicht angehört werden.

Unter den Folgen von BA/ MA leiden Studierende wie Lehrende

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Dies offenbart sich besonders drastisch an den unmittelbar spürbaren Folgen von Bachelor und Master. Studierende der neuen Studiengänge klagen über extrem hohen Leistungsdruck. Heute sind so viele Studierende wie nie in psychologischer Behandlung. Der Zeitrahmen für Aktivitäten neben dem Studium, auch etwa politische oder gesellschaftliche, nimmt durch die ständig notwendigen Klausurvorbereitungen ab, und auch die Zeit für Nebenjobs. Diese benötigen jedoch viele zur Finanzierung ihres Studiums; die soziale Selektivität steigt noch einmal. Die Zahl der Studienabbrecher nimmt immer mehr zu. Entgegen der Zielsetzung sind die neuen Abschlüsse auch nicht vergleichbarer als die alten, im Gegenteil. Selbst in dem selben Bundesland können schon Probleme bei der Anerkennung von Studienleistungen entstehen, und erst recht in anderen Ländern. Auslandsaufenthalte gehen immer mehr zurück, wegen der Anerkennungsschwierigkeiten und auch, weil durch die genau festgelegten und kaum variablen Zeitpläne der neuen Studiengänge einfach kaum noch Zeit dafür da ist. Welch ein Hohn angesichts der Reden der Bologna-Verantwortlichen! Durch die ständigen Anwesenheitspflichten sind die Veranstaltungen oft überbelegt, Seminare mit 90 Teilnehmern etwa sind heute nicht mehr unüblich.

Auch der Druck auf die Lehrenden erhöht sich damit. Ständige Vorbereitung und Korrektur von Klausuren werden gezwungenermaßen oft zur Hauptbschäftigung. In Folge von Bologna werden aber auch gerade die Anstrengungen in der Lehre nicht höher gewürdigt – Forschungsergebnisse  sind hier oft das Hauptkriterium. Aber auch auf die Inhalte der Lehre wirkt der Bologna-Prozess. Durch die steigende Teilnehmerzahl und die verkürzte Zeit ist kaum Raum für umfassende und kritische Betrachtungen eines Themas oder für Diskussionen. Hineinpauken von Prüfungswissen wird durch die häufig und dann immer gehäuft anstehenden Klausuren oft leider unumgänglich, und dies ist häufig auch eine andere Vorstellung von Hochschulen, als sie die meisten Studenten und Dozenten haben. Durch die genannten Aspekte kommt es in großen Teilen auch schon zu einer Solidarisierung von Studierenden und Lehrenden. Sie wissen, dass für sie alle unter dem Bologna-Prozess und seiner Umsetzung fast ausschließlich negative Konsequenzen  erfolgen, und sie wissen am besten, wo Verbesserungsbedarf und -möglichkeiten bestehen. Politik muss aber in einer Demokratie die Interessen derer, die sie vertritt ernst nehmen. Sonst provoziert sie Protest.

Auf die Straße!

http://www.youtube.com/watch?v=J9riPlkCzv8

Wenn die Parteipolitiker Bildung immer noch als Randthema betrachten und die einzigen “Reformen” dazu führen, Konkurrenzdenken, Leistungsdruck und soziale Selektivität zu stärken, kann ein Weg zur Veränderung nur über alternative Politikformen gefunden werden. Wir brauchen einen umfassenden Bildungsbegriff, der kritikfähige und eigenständige Individuen statt nur egoistisch agierender Marktteilnehmer zum Ziel hat. Und eine Bildung, die keine sozialen Schranken kennt. Wir brauchen ein Schulsystem, dass auf Bildung der breiten Bevölkerung statt auf Eliteförderung setzt, wir brauchen die Abschaffung der Studiengebühren und eine Ausweitung des BAföGs, wir brauchen eine Rücknahme der negativen Eigenschaften des Bologna-Prozesses.

Dafür besetzen nun Schüler ihre Schulen, Studierende ihre Hörsäle. Dafür gehen sie in friedlichen Demonstrationen auf die Straße. Die Schüler, die Studierenden und viele der Lehrenden und ihrer Vertretungen (z.B. die GEW) stehen dabei auf einer Seite, und auch die Medien haben erkannt und berichten, wie es in unserem Bildungssystem aussieht und wie nachvollziehbar und berechtigt die Proteste sind. Begonnen haben die Proteste, als Studierende in Wien das Audimax besetzten. Sie weiteten sich auf andere Unis v. a. in Deutschland und Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern aus. 85.000 Studenten beteiligten sich in Deutschland letzte Woche an Protesten, die Zahl der besetzten Unis in ganz Europa nimmt von Tag zu Tag zu.

Erfolgreich werden die Proteste sein, wenn sie erreichen, dass durch eine steigende Aufmerksamkeit auf die Belange der Bildung die verantwortlichen Bildungspolitiker und auch etwa die Hochschulrektorenkonferenz unter steigenden öffentlichen Druck geraten, dringend notwendige Verbesserungen im Bildungssystem vorzunehmen und Fehlentwicklungen zurückzufahren. Über die Form von Protesten kann man sich immer streiten, wie sinnvoll diese sind. Dass die derzeitigen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, können wir sehen. Vielleicht wäre es zweckdienlich, die Proteste über die eigene Schule oder Hochschule auszuweiten und dass diese sich auch direkter an die Verantwortlichen wenden.

Die Ziele und Forderungen jedoch sind ohne jeden Zweifel berechtigt. Eine vernünftig finanzierte, sinnvoll gestaltete und allen offen stehende Bildung kommt der gesamten Gesellschaft zu Gute. Und dafür kann es sich auch lohnen, zu protestieren.

Links zum Thema

unsereunis

Bundesweiter Bildungsstreik

Bildungsstreik Trier

“AK Protest!” Trier

Blogposts:

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Share

Die Arbeit der Zukunft, die Zukunft der Arbeit (oder: wie Hierarchien schaden)

Zunächst ein Hinweis auf einen Podcast aus der Reihe “Zukunft jetzt: wie wir lernen, leben, arbeiten” von SWR2 Wissen: Aula (Dauer: 29 Minuten):

Arbeit 2.0 – Die Zukunft der Industriegesellschaft

Der relativ neue Begriff “New Economy” ist in der alten Welt angekommen. Doch was ist damit gemeint? Geht es um eine neue Wirtschaftsstruktur? Ja, denn dieser Begriff will deutlich machen, dass es in Wirtschaft und Gesellschaft verstärkt um immaterielle Werte geht, damit verlieren traditionelle Maßstäbe und ökonomische Regeln ihren Sinn. Es dominieren eben nicht mehr Rohstoffe, Kapital und Arbeit, sondern Kreativität, Ideen und Netzwerke. Ulrich Klotz, der sich beim Vorstand der IG-Metall lange mit der Digitalisierung beschäftigte, beschreibt die neue Arbeitswelt.

Die Arbeit der Zukunft werde laut Ulrich Klotz in vielen Bereichen wissensintensiver und anspruchsvoller, Routinetätigkeiten würden immer weniger entscheidend Er vertritt die These, dass diese neuen Formen der Arbeitsorganisation  Formen der hierarchischen und bürokratischen Autoritätsbeziehungen  und hierarchisch top-down-strukturierte Unternehmen und Organisationen veraltet, überflüssig und fortschrittshemmend machen. Hierarchien seien für wissensbasierte Arbeit ungeeignet, was er  recht gut verdeutlicht (hierarchische Systeme seien etwa daran Schuld, dass in Deutschland viele neue Ideen und Innovationen sich nicht durchsetzen konnten und Deutschland viele Entwicklungen im Bildungs- und Unternehmensbereich verschlafen habe).

Als Gegenbeispiel nennt Klotz bspw. Open-Source-Programme, deren Entwicklung ohne Hierarchien und ohne Herrschafts-Wissen organisiert ist. In diese Richtung müssten sich auch die Unternehmen ändern,  aber Deutschland sei dabei im Verzug. In unserem Bildungssystem werde Kreativität zu wenig gefördert.  Formelle Ausbildungsabschlüsse oder standardisierte Berufsbilder u. ä. würden in der Zukunft in vielen Feldern immer mehr an Bedeutung verlieren.

Meiner Meinung nach wäre es noch nötig, die autoritären Einstellungen, die in der Erziehung vermittelt werden und in der neokonservativen “Führungselite” in Wirtschaft, Politik, Bürokratie oder Medien vorherrschend sind und von ihr propagiert werden, zurückzufahren. Die Schulen lehren immer noch, Hierarchien zu achten, Befehle von in der Hierarchie höher gestellten auszuführen und nicht zu hinterfragen. Die Manager-Kaste lernt, dass diese Hierarchien gerechtfertigt und notwendig seien. Gerade die klassische Wirtschaftswissenschaft sollte sich hier aus alten  ideologischen Positionen befreien.

Natürlich hat so etwas viel mit der Geschichte und Kultur eines Landes zu tun. Nicht umsonst ist “der Deutsche” überall als besonders diszipliniert und autoritätshörig mit einer Vorliebe, Befehle von Höhergestellten auszuführen und an “Untergebene” zu erteilen, bekannt. Eineroffenen, demokratischen (und egalitären) Gesellschaft können solche Einstellungen nur schaden. Eine Gesellschaft, die harte körperliche Arbeit durch den technischen Fortschritt und Automatisierung immer mehr reduziert und kreative Arbeit unter Gleichen ohne hierarchische Machtstrukturen ermöglicht, würde viel mehr zu einem wirklichen Fortschritt unserer Gesellschaft beitragen.

Share

Bachelor/ Master: kleine Korrekturen helfen nicht

Die NachDenkSeiten beschäftigen sich mit den Hintergründen und Problemen des Bologna-Prozesses. Ein paar Thesen, die dort aufgestellt werden:

  • Die Lissabon-Strategie überlagert in Deutschland den Bologna-Prozess. Folge: das Studium stellt nur noch eine private Investition in das persönliche Humankapital dar statt ein öffentliches Gut, soziale Dimensionen des Studiums werden durch Wettbewerbsprinzip verdrängt, “Wettbewerb um die besten Köpfe” statt optimale und breite Ausschöpfung des Bildungspotentials steht im Vordergrund
  • Parallelen zu den Hartz-Reformen: Druck und Kontrolle statt positiver Anreize
  • Die Neukonzeption der Studiengänge wurde von oben aufoktroyiert und erfolgte ohne breitere Diskussion
  • Verschulung der Universitäten, Einpauken von Prüfungswissen statt Wissenschaft und Kreativität
  • Folgen sind: überlastete Studierende, erhöhte Abbrecherquoten, sinkende Studienqualität, weniger Auslandsaufenthalte
  • Mit kleinen “Korrekturen” ist eine Verbesserung nicht möglich und nicht zu erwarten.
  • Notwendig wären z.B.: mehr Förderung von breiterem Wissen und eigenständigerem Studium, Studieren als Kompetenzerwerb zur selbständigen Lösung neuer Problem mit wissenschaftlichen Methoden verstehen, zusammenhängende Lernergebnisse,  stärkere Rolle der Hochschulen
Share

Elite Schmelite

[…] habe ich heute mal “Gestatten: Elite” gelesen. Die wichtigste Erkenntnis für mich ist, dass an den vermeintlichen Elite-Bildungsstätten fast ausschliesslich intellektuelle Zwerge gezüchtet zu werden scheinen. Der weitaus überwiegende Teil diese Zwerge marschiert dann für viel Geld im Gleichschritt eines Systems, das er allefalls ansatzweise begreifen dürfte, scheint sich aber trotz mangelnder Erkenntnis für was Besseres zu halten und leitet ausgerechnet daraus auch noch den Anspruch ab, über das Leben aller Menschen bestimmen zu dürfen. Sozusagen reiche, realitätsferne, beschränkte Spiesser. […]

Holger Klein im You FM Nightline Blog

Share

Petition: Masterstudienplatz für alle Bachelorabsolventen

Beim Bundestag kann man unter https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=5178 bis zum 8. August folgende Petition unterschreiben:

Petition: Hochschulwesen – Masterstudienplatz für Bachelorabsolventen vom 14.06.2009

Text der Petition

Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass jeder Bachelorabsolvent einen Masterstudienplatz erhält, unabhängig von Note, Herkunft und sozialem Stand.

Begründung

Mit der jetzigen Regel, bei der es so organisiert ist, dass nicht alle einen Masterplatz erhalten, steigt der Konkurrenzkampf unter den Studenten. Es geht nur noch darum gute Noten zu erzielen, um einen Masterstudienplatz zu erhalten. Die Möglichkeit Interessen auch innerhalb des Studiums zu vertiefen bleibt aus. Der Bachelor ist meist nicht berufsqualifizierend, sodass die übrig gebliebenen Studenten kaum etwas mit dem Abschluss erreichen können. Zunehmend wird die Qualität sinken durch das angestrebte Ziel, dass die Studenten möglichst schnell das Studium beendet haben müssen. Dies alles ist nicht tragbar, wenn ein Studium interessant sein soll und auf den Beruf vorbereiten soll!
Share

Bachelor und Master – bildungspolitischer Ausdruck des neuen gesellschaftlichen Leitbildes

Bachelor/ Master – Wo sind die Gewinner?

„Mitten im Treffen hat uns die Ministerin schon vorgelesen, was sie später verkünden wird.” So eine studentische Teilnehmerin an dem „Runden Tisch“ mit Bundesbildungsministerin Annette Schavan, dass diese mit u. a. mit Vertretern der Studierenden führte (vgl. http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/studenten-enttaeuscht-von-schavan/).  So also möchte die Bundesregierung dem massiven Unmut, der sich in den verschiedenen Protestformen rund um den Bildungsstreik geäußert hat, begegnen. Die Kritik der Betroffenen an einer der weit reichendsten bildungspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte scheint auf taube Ohren zu stoßen.

„Vielleicht hat es seit dem Ende der platonischen Akademie in Athen ein so einschneidendes Datum in der Geschichte der menschlichen Bildung nicht mehr gegeben“ schreibt die Süddeutsche Zeitung (http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/219/336068/text/print.html).

Dabei erscheint die Situation rund um die Bachelor-/ Master- Studiengänge in der Tat skurril. Studierende und Lehrende beschweren sich gleichermaßen über eine Verschulung der Universität, gestiegenen Leistungsdruck und ein bloßes Hinterherjagen hinter den „credit points“ . Und selbst die Wirtschaft scheint die neuen Bachelor-Absolventen in den allermeisten Berufen nicht gerade mit Kusshand entgegen zu nehmen. Es ist offensichtlich eine Lage in der deutschen Bildungspolitik entstanden, die kaum jemanden zufrieden stellt und die überwiegend Verlierer kennt.

Und auch bei anderen bildungspolitischen Maßnahmen sind sich die Experten selten einig: das dreigliedrige Schulsystem selektiert sozial, Studiengebühren schrecken vom Studium ab und verhindern den Zugang sozial schwacher Schichten an die Hochschulen.

Welche Interessen, welche Ideen und Ideologien, welches Leitbild steckt also hinter der aktuellen Bildungspolitik, das stärker ist als die Interessen der Betroffenen und die Meinungen der Wissenschaft?

Kürzeres Studium, billigere Arbeitskräfte

Das unmittelbare Interesse am Anfang der Entstehung des Bologna-Prozesses zunächst scheint gegen alle Bekundungen nicht eine stärkere Vergleichbarkeit der europäischen Studiengänge und leichtere Wechsel zwischen diesen (etwa durch Auslandsaufenthalte) gewesen zu sein. In diesem Bereich ist in der Tat im Vergleich zu den vorigen Studiengängen erstaunlich wenig geschehen. Meist ist es sogar schwerer als vorher, für sein Studium ins Ausland zu wechseln, u. a. durch die massive Mehrbelastung in kürzerer Zeit, die einen Auslandsaufenthalt unattraktiver erscheinen lässt, und immer noch nicht verschwundene bürokratische Hürden. Auch eine stärkere Vergleichbarkeit der Studiengänge oder eine erleichterte Anerkennungen von Studienleistungen ist selten erfolgt.

Vielmehr, so eine oft geäußerte Meinung, scheint das wirkliche Interesse hinter dem Bologna-Prozess die „Produktion“ von „Schmalspur-Studium“-Absolventen mit einem kürzeren Studium und daraus folgenden niedrigeren Lohnansprüchen zu sein. Besonders drastisch offenbare sich dieses Interesse in der vieler Orten anzutreffenden Regelung, dass nicht alle Bachelor-Absolventen den Master machen dürfen. Die kürzere Studiendauer dient also, wenn sie jemandem dient, den Interessen der Privatwirtschaft.

In deren Folge wir der zu vermittelnde Stoff komprimiert und „überarbeitet“, dadurch und durch Einschränkung der bisher realtiv freien Kombinationsmöglichkeiten mit dem neuen Studiensystem soll in erster Linie leicht und schnell wirtschaftlich verwertbares Wissen, frei von kritischem oder moralischem Balast, in den Vordergrund der Universitätsbildung gerückt werden. So schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung:

„Diese drei Strukturprozesse – Verschulung des Studiums, Separierung von Forschung und Lehre, Außensteuerung statt Innensteuerung – haben alle Mächte des durchrationalisierten, auf anwendbares Wissen basierten Wirtschaftssystems auf ihrer Seite.“

Unkritische Stoffvermittlung, Disziplinierung, Entdemokratisierung

Die mit Bachelor/ Master einsetzende starke Verschulung des Studiums könnte als Motivation eine Verhinderung einer eventuellen Hinterfragung des und kritischen Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff haben. Die Studenten sollen durch Anwesenheitspflichten, häufigere und strengere Leistungskontrollen diszipliniert werden.  (Schon das Schulsystem möchte ja die Prinzipien, Autoritäten, in diesem Fall die Lehrer, nicht in Frage zu stellen, sondern sich diesen gegenüber gehorsam und diszipliniert unterzuordnen, vermitteln.)

Denn das System von Modulen, Leistungspunkten, Studienzeiten, Prüfungen und praktischen Studienfächern, die Hierarchisierung und Bürokratisierung der Abläufe, das Zielgerichtete und Arbeitsmarktorientierte der neuen Studienmuster – all das bricht hier so radikal wie nirgendwo sonst mit den bisherigen Formen des Studiums … Studienzeiten und Studienkonten, Studienpunkte und Creditpoints, berufspraktische Übungen, Kontrollen und Vergleichbarkeitskriterien sorgen planmäßig dafür, dass Ungezwungenheit und Absichtslosigkeit aus dem Studium verbannt werden.“, so die Süddeutsche Zeitung.

Durch den gestiegenen Leistungsdruck entfällt die Zeit für außeruniversitäre Aktivitäten zu einem beträchtlichen Teil. Neben dem Studium zu arbeiten, um dieses zu finanzieren, wird schwerer möglich, die soziale Selektion des Bildungssystems wird verstärkt. Auch der Zeitraum für etwa politische oder soziale Aktivitäten oder die Tätigkeit in der studentischen Selbstverwaltung und den Gremien der Universität, wird knapper.

Zusammen mit der Bildungspolitik der konservativ/ liberal regierten Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, in der es keine Verfasste Studierendenschaft gibt, und Hessens, in der die Gelder für die Verfasste Studierendenschaft nur bei dem Erreichen einer Wahlbeteiligung von 25% gezahlt werden, könnte dies also (wiewohl möglicherweise auch als unbeabsichtigtes Nebenprodukt) eine weitere Maßnahme gegen eine grundlegende Demokratisierung des Hochschulbereichs darstellen, hinter der die Idee einer kompletten Demokratisierung der Gesellschaft  steht (und im Endeffekt auch der Wirtschaft,  was Konservative und Wirtschaftsliberale fürchten).

Bachelor/ Master, Studiengebühren, dreigliedriges Schulsystem – bildungspolitische Manifestation sozialer Ungleichheit

Die Umstellung auf die Bachelor/ Masterstudiengänge ist aber nur im Zusammenhang mit anderen bildungspolitischen Maßnahmen der letzten Jahre sinnvoll zu betrachten. Das dreigliedriges Schulsystem, die Einführung von Studiengebühren und die Schaffung von Eliteuniversitäten stellen eine institutionalisierte Manifestation von sozialer Ungleichheit dar.

Heute ist es eine kaum bestrittene Erkenntnis der Bildungsforschung, dass das dreigliedrige Schulsystem Entscheidungen über die Zukunft der Schüler oft nicht aufgrund ihrer Leistungen, sondern aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Herkunft trifft, dass es die soziale Schwächeren auch in der Bildung schwächt.

Eine neue Untersuchung zu Studiengebühren kommt zu dem Ergebnis, dass sich zwei Drittel der Abiturienten vor den Kosten eines Studiums fürchten. Geldsorgen führten oft zu der Erwägung eines Studienverzichts beziehungsweise eines -abbruchs (vgl: http://www.heise.de/newsticker/Zwei-Drittel-der-Abiturienten-fuerchten-sich-vor-den-Kosten-eines-Studiums–/meldung/141298).

Als Erklärung, dass diese Bildungspolitik dennoch betrieben wird, kann man die These aufstellen, dass die Struktur der sozialen Unterschiede dadurch bewahrt bleiben und so das Herrschafts- und gesellschaftliche und soziale Hierarchiesystem des Kapitalismus perpetuiert werden soll.

Interpretation: Umfunktionierung der Bildung zur Reproduktion des neoliberales Leitbildes

All diese Maßnahmen erscheinen sich zu manifestieren als Ausdruck des im Laufe der letzten 25 Jahre immer stärker werdenden Leitbildes der „Leistungsgesellschaft“, in der eine breite Entsolidarisierung gefördert und gefordert wird. Im Bereich der Reproduktion dieses Leitbildes kommt der Bildung eine bedeutende Rolle zu. In der Schule, in der Ausbildung, in der Universität wird systematisch gelehrt, dass der Mensch für seine Arbeit lebt, dass es darauf ankommt, sich selbst so gut wie möglich zu vermarkten und zu verkaufen , um für sich selbst möglichst viel Geld zu verdienen.

In der Hochschulausbildung will man eine wissenschaftliche Elite schaffen, die leistungsbereit, aber zugleich unkritisch und entpolitisiert ist. Das Leitbild des neutralen Wissenschaftlers, der frei von jeglichem moralischem Urteil handelt und die Ergebnisse seiner Forschung per Marktmechanismen dem Höchstbietenden verkauft, stellt dabei das Idealbild dar.

Ausbreitung des Neoliberalismus verlangt Gegenbewegung – herrschaftsfreier Diskurs bei sozialer Gleichheit

Die neoliberale Gedankenlehre hat es geschafft, nach Wirtschaft, Medien und Politik sich auch auf den Bereich der Bildung auszuweiten. Dabei entsteht im Zuge dieser immer stärker werdenden Aneignung der Gedanken, der als „alternativlos“ dargestellten Logik immer währender Konkurrenz, laut der jeder Mensch ausschließlich nach seiner persönlichen Nutzenmaximierung trachtet und in der der Einzelne nur das wert ist, was er wirtschaftlich zu leisten vermag, gerade um so mehr der Bedarf nach einer Gegenbewegung, die sich eines umfassendenden und demokratischen Bildungsbegriffes bedienen muss.

Eine solche Bildung, die der Befreiung der Menschen dienen soll, darf keine sozialen Barrieren aufweisen, sie muss kritisches Denken fördern und auf einem herrschaftsfreien Diskurs beruhen. Zudem ist es unerlässlich, dass sie auch ethische und moralische Werte vertritt und übermittelt.

Share