Dreht die FDP nun völlig durch?

In Folge des Hartz IV-Urteils verliert die FDP nun offenbar völlig jeden Realitätsbezug, schmeißt wild mit den abstrusesten Vergleichen und wüsten Beleidigungen um sich. Gerade Guido Westerwelle,  die “Nervensäge der deutschen Politik”, scheint die Schwelle zur blinden Hysterie überschritten zu haben. Er spricht von “spätrömischer Dekandenz” – und meint damit höhere Hartz IV-Sätze, die dem Volk “anstrengungslosen Wohlstand” versprechen würden. Thorsten Dörting schreibt in einem der besten Kommentare, die ich je bei Spiegel Online gelesen habe, dazu u.a.:

Westerwelle vermutet also spätrömische Dekadenz in Deutschland und macht indirekt Hartz-IV-Empfänger dafür verantwortlich. Da darf man sich schon mal besorgt fragen: Welche apokalyptischen Szenen mag Westerwelle der Seher vor seinem inneren Auge erblickt haben? Enthemmte Hartz-IV-Horden, die sich für ihren Regelsatz von 359 Euro kistenweise Aldi-Schampus kaufen? Und die dann auf ihren Third-Hand-Sofas aus dem Caritas-Möbellager wilde Orgien feiern, bei denen ganz neue Almosenempfänger-Generationen gezeugt werden?  Man muss kein Populist sein, auch kein Anhänger der Linkspartei, ja man muss nicht einmal finden, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind, um Westerwelles so warnende Worte als das zu sehen, was sie sind: Eine historisch unhaltbare, perfide, aus rein politischem Kalkül betriebene Beleidigung des schwächsten Teils der deutschen Bevölkerung.

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Einen Tag später spricht Westerwelle von “geistigem Sozialismus”, und auch seine anderen Sätze, deren Sinnhaftigkeit und logische Stringenz man selbst, wenn man einem neoliberalen Weltbild anhängen würde, mit der Lupe suchen müsste, zeigen das Bild eines Politikers, der sich offenbar gar nicht mehr beruhigen kann und sich. Wie es die Neoliberalen und Konservativen immer tun, hat er sich ausgerechnet die Schwächsten der Gesellschaft als Opfer der Polemik und der Verachtung der selbsternannten “Leistungsträger” ausgesucht. Der Juli-Vorsitzende Vogel spricht unterdessen von “Lügenmärchen” der Gewerkschaften und der Linken (wenn sie eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze fordern) und steht dem Senior-Chef damit kaum nach.

Hatten die Mainstream-Medien die FDP vor der Bundestagswahl noch fast uneingeschränkt unterstützt, wurde nun auch ihnen klar, dass es sich bei den Regierungs”plänen” dieser Partei tatsächlich nur um ein simpel gestricktes Single-Issue-Programm einzig zum Thema “Steuern runter” handelte (wer konnte das ahnen?). Und nun erkennen endlich auch sie, dass sich hinter der von ihnen herbeigesehnten und herbeibeschriebenen bürgerlichen Regierung bloß plumpeste Klientelpolitik (Hoteliers) und ein paar unbeholfene Versuche der blinden Sozialstaatszerstörung (Kopfpauschale) verstecken. Und so ist man inzwischen lange auf der Suche, irgendeinen positiven Kommentar zur FDP zu lesen. Und das aus guten Gründen. Die Unterstützer-Front der FDP bröckelt – und diese versteht gar nicht mehr, was um sie herum geschieht.

Dabei könnte schon einiges Licht in die Sache kommen, schaut man sich nur einmal die Bilanz der FDP-Minister an:

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Westerwelle kann als nicht einmal als Außenminister an die traditionelle Beliebtheit seiner Vorgänger anknüpfen. Zu blass bleibt er gegenüber Guttenberg und Merkel, zu wenig eigene Akzente konnte er setzen, zu sehr überwiegen seine schrille und wenig diplomatischen Einwürfe in seiner Rolle als FDP-Parteichef in alle möglichen bundespolitischen Themen.

Wirtschaftsminister Brüderle hat noch nichteinmal aus neoliberaler Sicht irgendwelche sinnvollen wirtschaftspolitischen Konzepte erabeitet und verliert die Unterstützung selbst in seiner Heimat. Jungspund Rösler hat seine politische Karriere an die Demontage der solidarischen Krankenversicherung geknüpft. Sollte also seine Ministerzeit nur kurz währen, kann er aber wohl sicher sein, in einer der Lobbys unterzukommen, für die er Politik macht. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatte vor 14 Jahren einmal zu ihren Überzeugungen gestanden – und das ist dann wohl auch genug.

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Entwicklungsminister Niebel ist wohl einer der fachlich unqualifiziertesten Bundesminister aller Zeiten. Er will etwa finanzielle Zusagen für Hilfsverbände in Afghanistan an ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Bundeswehr knüpfen, hat sich mit diversen Drohungen gegen Hilfsorganisationen nahezu alle entwicklungspolitischen Akteure zum Feind gemacht und lehnt eine Finanzmarktsteuer ab. Er polterte, sein Ministerium sei “kein Weltsozialamt” und versteht seine Aufgabe in aller erster Linie in der Förderung der deutschen Wirtschaft.

Und auch innerhalb der FDP regt sich immer mehr Unzufriedenheit: Kubicki, Pinkwart, und Hahn etwa beklagen massiv den Fehlstart ihrer Partei in der Bundesregierung. Basis und Wählerschaft sind vielfach über das Verhalten “ihrer” Funktionäre schockiert.

Nein, nicht die “Hartz IV-Schmarotzer”, die FDP ist durch und durch im moralischen Verfall befindlich. Marktradikale Ideologien, die uns erst in die schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geführt haben, die Vernachlässigung urliberaler Themen (selbst wenn man dort einmal Hoffnung auf die FDP hätte legen können, wie bei den Themen innere Sicherheit und Bürgerrechte oder der Frage des Vertriebenenrates, so wurden diese bloß enttäuscht), unfähiges und sich maßlos selbst überschätzendes Personal und schließlich eine Käuflichkeit, mit der man, offen wie keine Bundesregierung vorher, geradezu kokettiert, sollten schließlich auch den letzten FDP-Wählern die Augen geöffnet haben, was ihre Stimmabgabe für diese Partei bedeutete.

NACHTRAG:

Der Spiegelfechter dazu: “Demagogendämmerung”

Quellen der Bilder:

(1) Elias Schwerdtfeger unter CC-BY-NC-SA

(2) Michael Thurm unter CC-BY-NC-SA

(3) Claus-Joachim Dickow (Wikimedia) unter CC-BY-SA

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Update zu "Das Kabinett der Frau Dr. Merkel": die alte und die neue Zensursula

Ach ja, habe ich ganz vergessen zu posten: das Kabinett der Frau Dr. Merkel hat ja bereits etwas Zuwachs bekommen:

Zensursula von der Leyen ist für die Kurzzeitvertretung (und mal ehrlich, wer hätte sich mehr erwartet?) Franz Josef Jung ins Ministerium für Arbeit und Soziales nachgerückt. Besondere Qualifikationen auf ihrem Fachgebiet kann sie nicht vorweisen – doch damit ist sie im ja Bundeskabinett nicht allein.

Dass sie aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse das Arbeitsleben nie so richtig kennen gelernt hat, sei mal dahingestellt. Auch, dass gerade sie nie wird nachvollziehen können, was es heißt, von Hartz IV leben und eine Familie ernähren zu müssen. Doch nein, das Problem ist ja nicht, so führt auch sie aus, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt – nein, dieser faule Pöbel will ja nur nicht arbeiten! Also beabsichtigt sie als einzige Veränderungen zu Hartz IV erst einmal die Erhöhung von Sanktionen gegen angeblich “arbeitsunwillige” Hartz IV- Empfänger – und führt damit die bisherige Workfare-Politik konsequent weiter.  Sie sollte vielleicht lieber Stopp-Schilder vor Arbeitsämter hängen. Oder solche Aktionen starten:

Nachfolgerin von Zensursula als Familienministerin wird Kristina Köhler. Die Qualifikation der Jüngerin von Roland Koch, die sich als “Expertin für Islam, Integration und Terrorismus” (sic!) bezeichnet und mit 14 Jahren laut eigener Aussage für Helmut Kohl schwärmte,  besteht darin, dass sie Hessin ist. Sehr aufschlussreich sind auch die Berichte über das Zustandekommen und den Charakter ihrer Doktorarbeit. Sie hat zwar weder Kinder noch ist sie verheiratet, hat aber eindeutig das Potential zur Miss Bundeskabinett. Doch von Äußerem soll man sich ja nicht täuschen lassen. Blickt man also einmal hinter die Fassade, so offenbart sich dort schnell das Gesicht der CDU Alfred Dreggers und Manfred Kanthers. Sie bezeichnet sich nicht nur selbst als neoliberal – ihre politischen Hintergründe sind sehr gut auf F!XMBR: Dr. Kristina Köhler – eine “Neue Rechte” im Kabinett Merkel? zusammengefasst. Ob Behauptungen über angebliche deutschenfeindliche Gewalt von Ausländern gegenüber Deutschen (siehe das Video), Links von ihrer Internetseite zu PI oder die geplante Ausweitung von Programmen gegen Rechtsextremismus auf Linksextremismus und Islamismus: die Stoßrichtung ist klar.

Direktlink: http://www.youtube.com/watch?v=nvJs_TkrYo0 (Ein Bericht des NDR-Politmagazins Panorama über Ausländerfeindlichkeit in Reihen der CDU. Ab  Miute 5:25 geht es um Kristina Köhler.)

Einziger Trostpunkt: ob Kristina Köhler von der Leyens Lieblingsprojekt, die Internetsperren, wird durchführen können, scheint eher unwahrscheinlich. Doch man soll sich ja nicht zu früh freuen. Auch in Frau Dr. Merkels Kabinett werden uns sicherlich noch einige “Überraschungen” erwarten …

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Wo ist die Opposition?

Angesichts des massiven Fehlstarts der schwarz-gelben Bundesregierung erscheint es erstaunlich, wie wenig bisher aus den Oppositionsparteien im Bundestag zu hören ist. Die Zerstrittenheit der Koalition, die Kundus-Affäre, der Bundesverband der Vertriebenen, aber v. a. solche Themen wie die Kopfpauschale, die Steuersenkungen und die Bürgerrechte würden eine Chance bieten, sich als klare Alternative zur derzeitigen Politiklinie zu profilieren. Doch bleibt diese weitgehend ungenutzt.

Die schwarz-gelbe Koalition wirkt zur Zeit in vielem wie ein unbeausichtigter Kindergarten: CSU und NRW-CDU wollen den Sozialstaat wenigstens noch etwas am Leben halten, die FDP will auf großen Raubzug gehen. Die Kopfpauschale bedeutet das Ende der solidarischen Krankenversicherung. Die Pläne der Koalition für Steuersenkungen und einen Stufentarif sind wirtschaftlich völlig kontraproduktiv. Die Verfolgung von Steuerhinterziehern wird ganz nebenbei einmal faktisch außer Kraft gesetzt.

Die FDP ist ihrem Umfaller-Prinzip treu geblieben. Ob Überwachungsstaat, Bürgerrechte oder Netzpolitik: von ursprünglichen liberalen Forderungen ist inzwischen nicht mehr viel übriggeblieben. Beim Streit um den Vertriebenenbund könnte sich leider ebenfalls ein Umfallen ankündigen, falls man auf dessen maßlos anmaßende Forderungen eingeht. Nur beim Thema Steuern bleibt sie hart – doch die Einsicht der Union, derlei abenteuerliche Vorstellungen nicht auf Deutschland loslassen zu können, hat zu weiteren Verstimmungen innerhalb der Koalition geführt.

Die Enthüllungen über Kundus werden von mal zu mal schlimmer, für Afghanistan liegt weiterhin kein Konzept vor, und Dirk Niebel hat einen Fehlstart sondergleichen hingelegt. Aber auch die anderen Minister sind mit ihrem Ämtern oft völlig überfordert. Langsam scheint sich im Kabinett zudem ein Rotationsprinzip anzubahnen. Und die Kanzlerin betreibt weiterhin die Politik des “wenn ich mich rechtzeitig verdrücke, kann mir auch niemand was”. Wohin man auch schaut: es ist wohl nicht übertrieben, diesen Auftakt als rundum misslungen zu bezeichnen.

Doch die Opposition? In der SPD erweist sich, wie zu erwarten war, Frank-Walter Steinmeier als schwere Hypothek. Ob Kundus-Affäre, Hartz IV und die Agenda 2010 oder die Innenpolitik und die Bürgerrechte – überall scheint auf der SPD die Last der Agenda-Zeiten und der Großen Koalition zu liegen. Könnte sie sich von diesen Lasten befreien, wäre schon viel getan. Das Scheitern des Klimagipfels von Kopenhagen – warum haben die Grünen dies nicht genutzt, nicht explizit die Demonstrationen unterstützt, die fatalen “Ergebnisse” nicht als das dargestellt, was sie sind? Im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich machen sie sich gegenwärtig sehr rar. Die Linke ist zur Zeit leider v. a. dabei, sich gegenseitig zu zerfleischen. Dies kann ihr jedoch nur schaden, v. a., wenn es nicht um inhaltliche Fragen geht. Nicht Personalien, ihre Ideen und Konzepte sollten in den Vordergrund rücken.

Eine stärkere  Zusammenarbeit der Oppositionsparteien ist indes bisher leider größtenteils ausgeblieben. Warum? Gerade jetzt besteht die Chance, klarzumachen und dafür zu sorgen, dass diese Hornissenkoalition – von Anfang an – auf wackligen Beinen steht, und ihr die Konzepte der Oppositionsparteien entgegenzuhalten. Diese Konzepte sollten eine klare und gemeinsame Alternative zur Politik des Sozialabbaus, der Klientelpolitik zugunsten von Besserverdienenden und diversen Lobbys, der verantwortungslosen Finanzpolitik und des Abbaus der Bürgerrechte darstellen. Sie sollten es – und ich denke, dass sie es auch können.

Gerade im sozialpolitischen Bereich besteht die Chance, die Bürger und die Öffentlichkeit zu überzeugen. Die vollkommen unsoziale, unsolidarische und sinnlose Kopfpauschale wäre ein wichtiger Punkt, an dem die Opposition der Regierung das Konzept der Bürgerversicherung entgegenhalten könnte. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz von Schwarz-Gelb stellt v. a. eine Klientelpolitik dar und wird kaum Erfolge vorweisen können (mit Entlastungen für Hoteliers, die schon zugesichert haben, diese nicht an die Kunden weiterzugeben, eine Volkswirtschaft zu beleben, könnte vielleicht in Mallorca klappen. Hier aber sollte man, v. a. in der Wirtschaftspolitik, doch etwas mehr Nüchternheit bewahren). Die SPD hatte vor der Wahl mit dem Deutschlandplan ein durchaus sinnvolles Programm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zur Belebung der Wirtschaft geliefert. Staatliche Beschäftigungsprogramme, hohe Lohnabschlüsse, Erhöhung der Sozialleistungen, das sind die Mittel, um die Nachfrage anzukurbeln und Beschäftigung zu schaffen. Der Finanzmarkt bräuchte entgegen der leeren Versprechungen auch eine tatsächliche Regulierung, und die Kreditvergabe an die Unternehmen muss erleichtert werden.

Die Opposition sollte außerdem das Bündnis suchen mit den Gewerkschaften, mit sozialen und mit Umweltgruppen, mit Bürgerrechtlern und Datenschützern. Wenn es einer vereinigten linken Kraft gelingt, der Regierungspolitik gemeinsame und konsistente Alternativen klar und konsequent entgegenzusetzen – und ich denke nicht, dass dem inhaltlich viele Punkte entgegenstehen würden – so könnte der schwarz-gelbe Spuk vielleicht spätestens im Jahr 2013 beendet sein.

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Das Kabinett der Frau Dr. Merkel

Nun steht das neue Bundeskabinett fest. Sachkompetenz spielt diesmal offensichtlich eine noch geringere Rolle denn je. Doch sehen wir uns dieses Kabinett des Schreckens einmal genauer an:

Merkel
Quelle: oparazzi.de unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Bundeskanzlerin Angela Merkel: ist wohl in der Tat wenig überraschend, wird unsere Bundes-Angie weiterhin in unserem Land herumexperimentieren. Von der “ausgleichenden Kanzlerin” wird aber voraussichtlich nicht mehr ganz so viel übrig bleiben – kann sie über die FDP doch endlich das neoliberale Unionswahlprogramm aus dem Wahlkampf 2005 umsetzen. Möglicher Widerstand aus dem Arbeitnehmerflügel der Union (auch wenn es dafür, dass dieser noch besteht weniger Belege als für die Wirkung von Homöopathie gibt) kann man immer Koalitionszwänge anführen. Im Kanzleramt wird es künftig jedoch weniger ruhig zugehen. Ob Pfarrer Hintze als Staatssekretär ihr so viel helfen kann, wird man sehen. Ärger machen wird er auf jeden Fall keinen, genauso wie der neue599px-Pofalla2002

Kanzleramtsminister Ronald Pofalla: Er wird Merkel wie vorher als CDU-Generalsekretär ihr jedes Wort nach dem Mund reden – nur dass es sich bei ihm lustiger anhören und noch mehr leere Phrasen beinhalten wird. Wir dürfen uns alle schon auf die Pressekonferenzen freuen. Die richtige Position also für den Politik-Kalauer-König.

Westerwelle
Quelle: Michael Thurm (www.flickr.com/photos/farbfilmvergesser/) unter creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

Außenminister Guido Westerwelle: Auch wenn FDPler Wolfgang Gerhard nach einhelliger Meinung deutlich größere Kompetenzen auf diesem Gebiet besitzt, wurde dieser von dem Machtpolitiker Westerwelle ja bereits weggeputscht. Auch das Englisch-Kenntnisse für dieses Amt wohl keine notwendige Vorraussetzung sind, hat er hinlänglich demonstriert. Es besteht aber kein Zweifel, dass Westerwelle wie jeder Außenminister in den Meinungsumfragen wieder unter den drei beliebtesten Politikern Deutschlands landen wird – die dreckige Arbeit erledigen andere.

Innenminister Thomas de Maizière: Natürlich wäre hier fast jeder besser als Stasi 2.0-Schäuble. Ob der bisher als Kanzleramtschef für die Geheimdineste zuständige Generalssohn aber wieder die Bürgerrechte achten wird, darf mehr als bezweifelt werden. Die Koalitionsvereinbarungen sehen höchstens vor, dass diese nicht noch weiter eingeschränkt werden.

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Quelle: Dirk Adler (commons.wikimedia.org/wiki/File:Stasi_2.0.png) unter creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Finanzminister Wolfgang Schäuble: Zweifellos die größte Überraschung im neuen Kabinett. Auch wenn er vielleicht nicht die nötige Sachkenntnis für dieses wichtige Amt mitkriegt: er kann wenigstens nicht mehr die Hand an die Bürgerrecht legen (zumindest nicht so einfach). Auch wenn sich Schäuble gesellschaftspolitisch als konservativer Hardliner gezeigt hat, scheint er wirtschaftspolitisch für Unionsverhälntnisse eher gemäßigte Positionen zu vertreten. Eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte dürfte allerdings von ihm kaum zu erwarten sein – auch wenn die Taz titelt: Schäuble überwacht nun Banken. 🙂 Aber dass ausgerechnet Schäuble, der wegen seiner Verstrickungen in die CDU-Schwarzgeld-Affäre die Kanzlerschaft Merkels erst möglich gemacht hat, künftig für die Finanzen von 82 Millionen Deutschen zuständig sein soll, ist in der Tat komisch.

Und auch Merkel kann nicht recht begründen, wie warum man diese Schäuble anvertrauen können soll:

http://www.youtube.com/watch?v=XaWE8K2nRVs

Wirtschaftsminister Rainer Brüderle: Ob der frühere rheinland-pfälzische Minister für Weinbau wirklich als erste Wahl für diesen Posten gelten kann, darf man bezweifeln. Er wird aber zeigen können, wieviel “Wirtschaftskompetenz”, die ja viele Wähler bei der FDP vermuten, wirklich zu finden ist – mit der neoliberalen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik der letzten 27 Jahre.

Arbeits- und Sozialminister Franz-Josef Jung: der zweite an der CDU-Sendenaffäre beteiligte in der Ministerriege hat anscheinend im Verteidigungsministerium noch nicht genug Schaden angerichtet, so dass man ihn jetzt auf den Sozialstaat loslässt, um ihm den Rest zu geben.

Was Jung nun zum Arbeitsminister qualifiziere?, wird Merkel in der Pressekonferenz gefragt. Der Kanzlerin fällt spontan keine Antwort ein. “Das ist der, äh, …” Sie schüttelt entnervt den Kopf. Plötzlich wirkt sie müde und abgespannt – und ringt sich dann zu ein paar dürren Sätzen durch: Jung sei ein Mann mit großen und breiten Erfahrungen und genau die brauche man im Arbeitsministerium. Er sei “fachlich” und “menschlich” dazu in der Lage, dieses Amt “mit Leben zu füllen”. (Sueddeutsche.de)

Ob er als höchstens mäßigt begabter Politiker wenigstens das hinkriegt, wird sich zeigen, aber es fängt schon mal gut an. Laut Koalitionsvertrag sollen etwa bestehende Minestlohnregelungen “evaluiert” und befristete Beschäftigungsverhältnisse noch stärker erleichtert werden – ein weiterer Beitrag zur Segmentierung des Arbeitsmarktes und zur Spaltung der Gesellschaft. Selbst das unsägliche Bürgerarbeits-Modell soll “erprobt” werden.

Gesundheitsminister Philipp Rösler: der Bundeswehrstabsarzt, Hobby-Bauchredner und Nachwuchsmarktradikale der FDP hat schon mal mit der Einführung der Kopfpauschale den ersten Schritt zur Abschaffung des Sozialstaates hingelegt. Und dass er die fähig oder überhaupt Willens wäre, den Einzug der Pharmalobby und der privaten Versicherungswirtschaft in das Gesundheitsministerium zu verhindern, würde er wohl selber als schlechte Scherz auffassen. Trotz immer wiederholter Beteuerungen, nicht nach Berlin gehen zu wollen, wird er nun doch an vorderster Front für Partikularinteressen von Ärzten und Apothekern und gegen ein solidarischse Gesundheitssystem kämpfen. Wohl der Minister, der am meisten kaputt machen kann – und wird.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: hier kann man wirklich froh sein, endlich eine exponierte Vertreterin der Bürgerrechte im Justizressort zu haben. Man kann ihr nur wünschen, sich gegen die neokonservativen Hardliner und Überwachungsfanatiker durchzusetzen. Mit Max Stadler als zweiten  verbliebenen Bürgerrechtsliberalen in der FDP hat sie schon mal den richtigen Staatssekretär.

guttenberg
Der neue Obama

Verteidigungsminister Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg: der Baron, Weltmann und Unteroffizier der Reserve wird also zukünftig für Kriege, die keine Kriege sind, zuständig sein. Während Scharping damals als potentieller Konkurrent Schröders damals mit dem Verteidigungsministerposten quasi abgespeist wurde, stellt dies in der Union offensichtlich so etwas wie eine Beförderung dar. Wie Guttenberg seine Mitgliedschaft in diversen Transatlantiker- als auch Neocon-Thin Tanks vereinbaren will, dürfte beim Verhältnis zu den USA interessant werden. Nur eines ist sicher: ob in Geltow, Afghanistan oder im irak: die Frisur wird sitzen.

Umweltminister Norbert Röttgen: der Merkel-Vertraute war bisher nicht als Umweltexperte aufgefallen. Wenn man sich die geplante Umweltpolitik anschaut, dürfte dies unterdessen kein Einstellungshindernis, sondern eher ein -grund sein: Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, Bau weiterer Kohlekraftwerke.

Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner: aufgrund des CSU-Proporzes wird auch die gelernte Elektrotechnikerin trotz politischem Leichtgewichtes im Amt bleiben. Man hat auch direkt mal beschlossen, die Subventionen für die Landwirtschaft hochzufahren. Klientelpolitik in großem Ausmaß geht also weiter, ebenso bei der Nahrungsmittelindustrie: größere Informationsrechte für Verbraucher sollen verhindert werden.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer als nächster Minister qua CSU-Mitgliedschaft will tatsächlich doch noch die Transport- und Logistiksparte an die Börse bringen (und damit auch der alten Forderung der FDP nach Zerschlagung der Bahn nachkommen). Der Alte Herr pflichtschlagenden Burschenschaft Franco-Bavaria, deren bekanntestes Mitglied Heinrich Himmler war, wird also den Ausverkauf der staatlichen Infrastrukturfortsetzen.

zensursulaFamilienministerin Zensursula von der Leyen hat weder ihr Internetzensurgesetz durchgekriegt noch das heiß ersehnte Gesundheitsministerium bekommen. Wenn man aber sieht, welchen Schaden die von ihr geleitete Koalitionsarbeitsgruppe mit der Einigung auf die Kopfpauschale angerichtet hat, ist Mitleid jedoch eher fern liegend. Bei aller negativen Publicity darf man aber ehrlicherweise nicht vergessen, dass sie in der Familienpolitik durchaus eine für Unionsverhältnisse fortschrittliche Politik betrieben hat.

Sie sollte aber dabei bleiben und nicht weiter Dinge, die deutlich außerhalb ihrer sachlichen Kompetenzen liegen, regeln zu wollen. Jetzt kriegt sie auch die Rentenpolitik, die auf ihrem Weg vom Arbeits- und Sozialministerium ins Gesundheitsministerium und wieder zurück jetzt beim Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angekommen ist.

reiche_eltern_fuer_alleBildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan: die Befürworterin von Studiengebühren und ehemalige Geschäftsführerin der katholischen Begabtenförderung Cusanuswerk hat als erste Wohltat auch gleich eine Erhöhung der Zahl der Stipendien für die besten Studenten (wie auch immer das gemessen werden soll) auf 10% der Studenten – in Höhe von 300 Euro, also deutlich unterhalb des BAföG-Höchstsatzes, und natürlich einkommensunabhängig. Ein Schritt gegen die soziale Selektion im Bildungssystem ist dies nicht – Deutschland wird weiterhin das OECD-Land mit dem niedrigsten Anteil an Arbeiterkindern, die studieren, bleiben. Die Honorarprofessorin für Katholische Theologie wird sich außerdem um Wissenschaft und Forschung kümmern – mehr oder weniger.

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Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Dirk_Niebel_4.jpg. Foto von Claus-Joachim Dickow unter creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Entwicklungsminister Dirk Niebel: die zweifelsohne skurrilste Entscheidung. Westerwelles neoliberaler Vorprescher und wohl der marktradikalste unter den Ministern soll einen Bereich übernehmen, in dem er nicht die geringste Fachkompetenz besitzt, in dem es v.a. um internationale Solidarität geht und in dem sich das Versagen des neoliberalen Dogmas (hier in der Form des Washington Consensus) in schlimmsten Formen und selbst für die Weltbank ersichtlich manifestiert hat. Zudem, und das ist das abstruseste, für dessen Abschaffung als eigenständiges Ministerium und die Eingliederung in das Außenministerium er plädiert hat. Zudem setzte sich die FDP für eine Senkung der Entwicklungshilfe ein. Eine Rückkehr zur Erzwingung von Deregulierungen und Privatisierungen in den Entwicklungsländern und andere nicht sinnvolle, wissenschaftlich nicht zu vertretende, aber in der neoliberalen Lehre liegende Maßnahmen werden nicht umsonst von nahezu allen in der Entwicklungshilfe tätigen Organisationen befürchtet. Und der Kampf gegen die weltweite Armut wird einen herben Rückschlag erleiden.

Zu der Berufung von Jung und Niebel schreibt die Süddeutsche:

Die Botschaft, die von diesen beiden Personalentscheidungen ausgeht, kann eindeutiger nicht sein. Der kommenden Bundesregierung ist offenbar egal, wie sie gegenüber den ärmsten Ländern der Welt auftritt. Und ebenso egal ist ihr das Schicksal derer, die auf Hilfe des Staates angewiesen sind.

Wer je geglaubt oder nur gehofft hat, Schwarz-Gelb werde keine Regierung des sozialen Kahlschlages werden, der dürfte jetzt vom Gegenteil überzeugt sein. Eine Regierung, die derart fahrlässig Ministerposten verhökert und verschiebt, darf sich über diesen Vertrauensverlust nicht wundern.

Nicht umsonst ist die verwunderung allenthalben, selbst in der neuen Koalition durchaus positiv gesinnten Medien, groß. Kaum kompetente Fachpolitiker also, geschweige denn auch nur ein einziger, der wenigstens eine einigermaßen arbeitnehmerfreundliche oder soziale Politiklinie vertreten würde. Die meisten Pochen sind Ergebnis eines Macht- und Postengeschachers, in dem unbedingt bestimmte Personen Kabinettsposten kriegen mussten, unabhängig, ob sie auch nur im Geringsten dafür geeignet sind. Dass Inhalte nebensächlich sind, hätte die neue Koalition kaum deutlicher klar machen können.

Analysen des Koalitionsprogrammes gibt es bei Fefes Blog und bei F!XMBR.

Sehe grade, der Oeffinger Freidenker hat auch einen ähnlichen Beitrag geschrieben.

NACHTRAG: Sehr lesenswert ist auch der Kommentar der Süddeutschen: Koalitionsvertrag – Das Manifest der Hornissen

CDU, CSU und FDP werden in den kommenden Jahren einen radikalen Kurswechsel vornehmen. Es geht um die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Bisher gilt, wenn auch schon mit Einschränkungen: Die Gemeinschaft hilft den Schwachen. Wenn schwarz-gelb fertig ist wird gelten: Jeder hilft sich selbst, dann ist an alle gedacht.

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