Dreht die FDP nun völlig durch?

In Folge des Hartz IV-Urteils verliert die FDP nun offenbar völlig jeden Realitätsbezug, schmeißt wild mit den abstrusesten Vergleichen und wüsten Beleidigungen um sich. Gerade Guido Westerwelle,  die “Nervensäge der deutschen Politik”, scheint die Schwelle zur blinden Hysterie überschritten zu haben. Er spricht von “spätrömischer Dekandenz” – und meint damit höhere Hartz IV-Sätze, die dem Volk “anstrengungslosen Wohlstand” versprechen würden. Thorsten Dörting schreibt in einem der besten Kommentare, die ich je bei Spiegel Online gelesen habe, dazu u.a.:

Westerwelle vermutet also spätrömische Dekadenz in Deutschland und macht indirekt Hartz-IV-Empfänger dafür verantwortlich. Da darf man sich schon mal besorgt fragen: Welche apokalyptischen Szenen mag Westerwelle der Seher vor seinem inneren Auge erblickt haben? Enthemmte Hartz-IV-Horden, die sich für ihren Regelsatz von 359 Euro kistenweise Aldi-Schampus kaufen? Und die dann auf ihren Third-Hand-Sofas aus dem Caritas-Möbellager wilde Orgien feiern, bei denen ganz neue Almosenempfänger-Generationen gezeugt werden?  Man muss kein Populist sein, auch kein Anhänger der Linkspartei, ja man muss nicht einmal finden, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind, um Westerwelles so warnende Worte als das zu sehen, was sie sind: Eine historisch unhaltbare, perfide, aus rein politischem Kalkül betriebene Beleidigung des schwächsten Teils der deutschen Bevölkerung.

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Einen Tag später spricht Westerwelle von “geistigem Sozialismus”, und auch seine anderen Sätze, deren Sinnhaftigkeit und logische Stringenz man selbst, wenn man einem neoliberalen Weltbild anhängen würde, mit der Lupe suchen müsste, zeigen das Bild eines Politikers, der sich offenbar gar nicht mehr beruhigen kann und sich. Wie es die Neoliberalen und Konservativen immer tun, hat er sich ausgerechnet die Schwächsten der Gesellschaft als Opfer der Polemik und der Verachtung der selbsternannten “Leistungsträger” ausgesucht. Der Juli-Vorsitzende Vogel spricht unterdessen von “Lügenmärchen” der Gewerkschaften und der Linken (wenn sie eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze fordern) und steht dem Senior-Chef damit kaum nach.

Hatten die Mainstream-Medien die FDP vor der Bundestagswahl noch fast uneingeschränkt unterstützt, wurde nun auch ihnen klar, dass es sich bei den Regierungs”plänen” dieser Partei tatsächlich nur um ein simpel gestricktes Single-Issue-Programm einzig zum Thema “Steuern runter” handelte (wer konnte das ahnen?). Und nun erkennen endlich auch sie, dass sich hinter der von ihnen herbeigesehnten und herbeibeschriebenen bürgerlichen Regierung bloß plumpeste Klientelpolitik (Hoteliers) und ein paar unbeholfene Versuche der blinden Sozialstaatszerstörung (Kopfpauschale) verstecken. Und so ist man inzwischen lange auf der Suche, irgendeinen positiven Kommentar zur FDP zu lesen. Und das aus guten Gründen. Die Unterstützer-Front der FDP bröckelt – und diese versteht gar nicht mehr, was um sie herum geschieht.

Dabei könnte schon einiges Licht in die Sache kommen, schaut man sich nur einmal die Bilanz der FDP-Minister an:

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Westerwelle kann als nicht einmal als Außenminister an die traditionelle Beliebtheit seiner Vorgänger anknüpfen. Zu blass bleibt er gegenüber Guttenberg und Merkel, zu wenig eigene Akzente konnte er setzen, zu sehr überwiegen seine schrille und wenig diplomatischen Einwürfe in seiner Rolle als FDP-Parteichef in alle möglichen bundespolitischen Themen.

Wirtschaftsminister Brüderle hat noch nichteinmal aus neoliberaler Sicht irgendwelche sinnvollen wirtschaftspolitischen Konzepte erabeitet und verliert die Unterstützung selbst in seiner Heimat. Jungspund Rösler hat seine politische Karriere an die Demontage der solidarischen Krankenversicherung geknüpft. Sollte also seine Ministerzeit nur kurz währen, kann er aber wohl sicher sein, in einer der Lobbys unterzukommen, für die er Politik macht. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatte vor 14 Jahren einmal zu ihren Überzeugungen gestanden – und das ist dann wohl auch genug.

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Entwicklungsminister Niebel ist wohl einer der fachlich unqualifiziertesten Bundesminister aller Zeiten. Er will etwa finanzielle Zusagen für Hilfsverbände in Afghanistan an ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Bundeswehr knüpfen, hat sich mit diversen Drohungen gegen Hilfsorganisationen nahezu alle entwicklungspolitischen Akteure zum Feind gemacht und lehnt eine Finanzmarktsteuer ab. Er polterte, sein Ministerium sei “kein Weltsozialamt” und versteht seine Aufgabe in aller erster Linie in der Förderung der deutschen Wirtschaft.

Und auch innerhalb der FDP regt sich immer mehr Unzufriedenheit: Kubicki, Pinkwart, und Hahn etwa beklagen massiv den Fehlstart ihrer Partei in der Bundesregierung. Basis und Wählerschaft sind vielfach über das Verhalten “ihrer” Funktionäre schockiert.

Nein, nicht die “Hartz IV-Schmarotzer”, die FDP ist durch und durch im moralischen Verfall befindlich. Marktradikale Ideologien, die uns erst in die schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geführt haben, die Vernachlässigung urliberaler Themen (selbst wenn man dort einmal Hoffnung auf die FDP hätte legen können, wie bei den Themen innere Sicherheit und Bürgerrechte oder der Frage des Vertriebenenrates, so wurden diese bloß enttäuscht), unfähiges und sich maßlos selbst überschätzendes Personal und schließlich eine Käuflichkeit, mit der man, offen wie keine Bundesregierung vorher, geradezu kokettiert, sollten schließlich auch den letzten FDP-Wählern die Augen geöffnet haben, was ihre Stimmabgabe für diese Partei bedeutete.

NACHTRAG:

Der Spiegelfechter dazu: “Demagogendämmerung”

Quellen der Bilder:

(1) Elias Schwerdtfeger unter CC-BY-NC-SA

(2) Michael Thurm unter CC-BY-NC-SA

(3) Claus-Joachim Dickow (Wikimedia) unter CC-BY-SA

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3 thoughts on “Dreht die FDP nun völlig durch?

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