Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule: Marx für heute

Der so genannte „real existierende Sozialismus“ machte offensichtlich, dass die Marxsche Theorie nicht wirklich in die Realität umgesetzt wurde, aber auch, dass viele ihrer Annahmen und v. a. ihrer Prognosen falsch waren. Doch muss damit nicht die ganze Theorie falsch und ablehnenswert sein. Aber sie braucht eine Aktualisierung. Die klassische Marxsche Theorie ist nicht für alle Seiten gültig, sie ist geschichtlich eingebettet, was ja ihre Schöpfer auch nie bestritten haben.

Die Kritische Theorie, auch bekannt als Frankfurter Schule – zu ihren bekanntesten Vertretern gehören etwa Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Walter Benjamin, Jürgen Habermas oder Axel Honneth – versteht sich als Marxismus. Der orthodoxe Marxismus aber war für die  Vertreter der Kritischen Theorie zu unbeweglich, mechanistisch und überholt. Er sei als „Theorie des 19. Jahrhunderts“ nur in diesem Kontext verständlich – und brauche daher eine geistige Erneuerung für das 20. Jahrhundert. Denn mit den historischen Bedingungen als Grundlagen der  Kritik müsse sich auch die Theorie ändern. Durch eine Erneuerung würde Marxismus so nicht auf einem spekulativen oder ideologischem Boden stehen. Die Kritische Theorie versucht also, den Marxismus also auf die heutige Zeit anzupassen, aber auch, Lücken und Schwierigkeiten aufzuheben.

Was sind nun die Wandlungen, die die marxistische Theorie quasi aktualisierungsbedürftig machen? Marx habe die technisch fortgeschrittene Gesellschaft nicht vorausgesehen. Klassengegensätze wurden in dieser sekundär. U.a. der Wohlfahrtsstaat hat Gegensätze vereinigt und klassische marxistische Klassenkampfdoktrinen unbrauchbar gemacht. Die früher evidente Irrationalität der durch die kapitalistische Produktionsweise geprägten Gesellschaft, wie etwa Kinderarbeit, unwürdige Arbeitsbedingungen, Armut, hohe Sterblichkeit und extreme soziale Ungleichheit sei heute nicht mehr offensichtlich. Die Verelendungstheorie hat sich nicht bewahrheitet.  Trotzdem gibt es aber noch weiterhin Ausbeutung (eine Aneignung des Mehrwerts der Arbeit durch das Kapital). Aber die klassische Marxsche Annahme, dass nur die Arbeit Mehrwert bilden könne, kann als überholt angesehen werden: Maschinen bestimmen immer mehr die Produktivität. Auch die Marxsche Entfremdungstheorie scheint so nicht mehr zu stimmen – die Menschen erkennen sich immer mehr in ihren Gütern. Insgesat hat die kapitalistische Gesellschaft eine Totalität entwickelt und ist derart in Denken, Sprechen und Handeln dermaßen großer Bevölkerungsteile eingedrungen, die sich mit dem System, dass sie ausbeutet und in Herrschaftsstrukturen gefangen hält, nun vollends identifizieren, wie es Marx und Engels im 19. Jahrhundert kaum vorausgesehen haben. Von dieser Konstellation kann kaum ein Klassenbewusstsein ausgehen, geschweige denn eine Revolution oder eine sonstige Umwälzung der bestehenden Gesellschaft.

Nach Ansicht der Kritischen Theorie müsse marxistische Theorie im Zuge der Veränderungen im kapitalistischen System veraltete Kategorien modernisieren.  Marx Gesellschaftskritik war für das 19. Jahrhundert zutreffend und bietet auch heute noch viele gute Ansatzmöglichkeiten. Man kann Marx heutztage etwa nicht mehr als Ratgeber für  wirtschaftswissenschaftliche Fragen heranziehen – hier ist ein Scheitern vorprogrammiert. Die Kritische Theorie sagt, es bestünde zwar immer noch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit privatem Aneignungsbedürfnis als Triebfeder, dieses führe aber durch den enormen technischen Fortschritt zu einer Annäherung der Klassengegensätze und -interessen, zur Abnahme unmittelbaren Elends, zu mehr gesellschaftlichem Reichtum, auch für untere Schichten. Außerdem gehe der klassische Kapitalismus teilweise in einen organisierten Monopolkapitalismus über. Da der Proletarier als Klasse verschwunden ist, müsse sich Bewusstseinsbildung zur Emanzipation in der Gesamtgesellschaft bilden.

Außerdem hat die Kritische Theorie auch Ideen und Ansätze von anderen Denkern außerhalb des Marxismus aufgenomen – von Hegel etwa (die Dialektik, die freilich schon Marx übernommen hatte- wenn auch in etwas anderer,Form als Hegel …), von Max Weber, oder von Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse eine bedeutende Rolle spielt.

Den sogenannten “real existierenden Sozialimus” sah die Kritische Theorie übrigens genauso negativ wie den Kapitalismus. Herbert Marcuse etwa sieht Eindimensionalität (in Denken, Sprechen, Verhalten) als das Kennzeichen der Ideologie aller hoch entwickelten Industriegesellschaften, auch der Sowjetunion. In den kommunistisch regierten Ländern werde die Gesellschaft wie im Kapitalismus von einer totalen Technokratie und Verwaltung manipuliert und jede Opposition erstickt oder integriert. Beide Gesellschaftsformen kämpften gegen die Auflösung der Grundlage von Herrschaft. Die Sowjetregierung habe sich die Herrschaftsstrukturen und die Produktions- und Verwaltungsrationalität des Industriezeitalters zu eigen gemacht (Verstaatlichung ist für Marcuse mehr ein Wechsel der Herrschaftsweise, als eine Voraussetzung, die Herrschaft abzuschaffen und das Verschwinden des Staates zu erreichen) mit parallelem Ergebnis zu den westlichen Staaten. Unterwerfung und Unterordnung sowie deren Reproduktion kennzeichneten (alle) Industriegesellschaften.

Ich werde das Verhältnis vom klassischen Marxismus zur Kritischen Theorie in den nächsten Tagen an zwei Beispielen untersuchen: der Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels (“Das Sein bestimmt das Bewußtsein”) und der Ideologiekritik (der Kritik der Eindimensionalität fortgeschrittener Industriegesellschaften) von Herbert Marcuse.

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