Bildungsferne Schichten in der Politik

Von Lutz Hausstein

Als das Bundesverfassungsgericht am 09. Februar 2010 sein Urteil zur Höhe der Hartz-IV-Regelsätze fällte, stellte es in seiner Begründung unter anderem folgendes fest:

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen.“

Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.“

Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen.“

Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres von 207 Euro genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, weil es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro abgeleitet ist.“

Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“

Diese Aussagen des BVerfG sind selbst für juristische Laien verständlich und können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes für Erwachsene ist nicht verfassungsgemäß ermittelt worden.
  2. Da die Höhe des Regelsatzes für Kinder (wie auch für Paare in den sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“) direkt aus der Regelsatzhöhe für Erwachsene abgeleitet wird, ist diese ebenfalls nicht verfassungsgemäß.
  3. Für die Ermittlung des Hartz-IV-Eckregelsatzes ist bis zum 31.12.2010 ein Verfahren festzulegen, welches den realen Bedarf des physischen Existenzminimums sowie einer angemessenen sozio-kulturellen Teilhabe abdeckt sowie auf transparente und nachvollziehbare Weise ermittelt und veröffentlicht wird.
  4. Dem BVerfG ist es unmöglich, die Höhe des aktuell angewandten Regelsatzes zu bewerten. Es kann diesen weder als „ausreichend“ noch als „nicht ausreichend“ quantifizieren, da die Methoden zu dessen Ermittlung nicht nachvollziehbar sind.

Die im Bundestag am stärksten vertretene Berufsgruppe ist diejenige der Juristen, mit 143 von 622 Abgeordneten oder rund 22 Prozent. So sollte man davon ausgehen können, dass ein BVerfG-Urteil durch diese, auch ohne Hinzuziehung ihres umfangreichen Mitarbeiter-Stabes, gelesen und verstanden werden muss.

Nach der Verkündung des BVerfG-Urteils setzte seitens der Politiker, vornehmlich aus der Regierung, eine Scheindebatte um die Konsequenzen ein, die sich mit zunehmender Zeit immer weiter von den beanstandeten Punkten entfernte. Nahmen sie zuerst dankbar die Vorlage des BVerfG auf, wenn auch aus dem inhaltlichen und logischen Zusammenhang gerissen, und spekulierten öffentlich über Erhöhung, Beibehaltung oder Senkung des Hartz-IV-Regelsatzes, so erfolgte anschließend die Unterschlagung der generellen Kritik an der Regelsatz-Festlegung und mutierte zur Auslegung, dass nur die Regelsätze für Kinder zu niedrig seien.

Die darauffolgend inszenierte Diskussion wurde wiederum auf den Bildungsanteil für Kinder verengt und gipfelt nun in der PR-Offensive für die sogenannte „Bildungs-Card“. Selbst abgesehen von der Frage der Finanzierbarkeit des administrativen und organisatorischen Aufwandes für eine solche Karte, welcher die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel beträchtlich übersteigen dürfte sowie den möglichen Profiteuren einer solchen Karten-Lösung, ist die Höhe der zusätzlichen Mittel äußerst fragwürdig. Wieder wird seitens des Bundesfinanzministers ein Geldbetrag ohne sachliche Untermauerung in den Raum gestellt, ohne die Kritikpunkte des BVerfG überhaupt nur in Ansätzen zu beachten.

Gleichzeitig wird seit längerem durch die Politiker mit einem mehr als fragwürdigen Menschenbild hantiert, welches immer wieder der Bevölkerung suggerieren soll, dass die Empfänger von Sozialleistungen nicht in der Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln. Daraus konstruiert man öffentlich die Unterstellung, dass sozialleistungsbeziehende Eltern ihre Kinder vernachlässigen würden und stattdessen Geld für eigene Vergnügungen nutzen würden. Dem könne nur mit Maßnahmen entgegengewirkt werden, die eine ausschließlich „zweckgebundene“ Nutzung zulassen. Eine unbare Zurverfügungstellung von Leistungen ist in dieser Logik der einzige Ausweg.

Diese Stigmatisierung hat inzwischen innerhalb der Politik einen breiten Konsens gefunden, sodass nur noch vereinzelt infrage gestellt wird, ob diese Behauptung sich überhaupt an der Realität messen lassen kann. Die Reihe der Verfechter einer solchen Unterstellungs-Methodik reicht durch fast alle Parlamentsparteien bis hin zu der zuständigen Ministerin für Arbeit und Soziales, von der Leyen. Die von ihr ins Spiel gebrachte Bildungs-Card gründet sich gerade auf der Behauptung einer angeblich nicht kindswohlorientierten Mittelverwendung – die Karte könne dieses Problem lösen.

Wie absurd die gesamte Diskussion ist, förderte eine Äußerung des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, zutage. Die Einführung der Bildungs-Card sowie eine jährliche Aufladung mit 60 Euro bezeichnete Böhmer als wirksame Sicherung dagegen, dass dieser Betrag „nicht für Schnaps oder Zigaretten ausgegeben wird“. Schon allein die Höhe dieses Betrages entlarvt die Protagonisten dieser Scheindebatte, denn diese jährlichen 60 Euro entsprächen 5 Euro monatlich bzw. nicht einmal 17 Cent täglich. Inwiefern dieser lächerliche Geldbetrag einen ausschweifenden Konsum von Schnaps und zusätzlich noch Zigaretten gewährleisten könnte, sollten die Verfechter dieser herabwürdigenden Debatte einmal öffentlich darlegen. Darüber hinaus offenbart die Höhe dieses Betrages gleichfalls noch, wieviel Politikern die Bildung von Kindern ärmerer Eltern wirklich wert ist.

Schlussendlich bleibt festzustellen, dass es offensichtlich sinn- und zielführender wäre, eine Bildungs-Card für Politiker einzuführen. Damit könnten offen zutage getretene Defizite bei der Erkennung und Interpretation logischer wie auch mathematischer Zusammenhänge beseitigt, sowie auch ein zielgerichteterer Einsatz der ihnen von der Allgemeinheit in bedeutendem Umfang zur Verfügung gestellten Diäten gewährleistet werden. Zusätzlich könnte sich der Abbau von Bildungslücken gerade in diesen Bereichen besonders positiv auf mögliche zukünftige Tätigkeitsfelder von Politikern auswirken.

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9 thoughts on “Bildungsferne Schichten in der Politik

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  4. Warum werden die Abgeordneten eigentlich nicht zweckgebunden ausgestattet? Denen vertraut man ja auch viel Geld an, das sie dann aber für teuren Luxus ausgeben, anstatt sich davon die Zeit “kaufen” zu können, über die zu treffenden Entscheidungen nachdenken zu können.
    Viele Abgeordnete tummeln sich lieber in der Wirtschaft, anstatt sich um ihre eigentlichen Aufgaben zu kümmern.

    Daher sollten wir dafür eintreten, dass Politiker nur noch Bezieher von Sachleistungen sind. Keine Extrawurst. Jeder bekommt seinen Arbeitsplatz und Equipment gestellt. Gerne auch Gutscheine für die Bahn oder andere Verkehrsmittel.

  5. Das ist doch im Prinzip schon der Fall: http://de.wikipedia.org/wiki/Abgeordnetenentsch%C3%A4digung#Versorgung_der_Bundestagsabgeordneten

    Und ne Bahncard 100 kriegt auch jeder Abgeordenete.

    Aber ich denke, dass für die Abgeordneten hohe Bezüge (ich finde die zur Zeit nicht soo luxuriös) wichtig sind, um die Anfälligkeit für die verschiedensten Arten politischer Korruption zu senken. Natürlich braucht man da auch deutlich härtere Regeln, auch etwa zu Nebentätigkeiten und nachträglicher Korruption. Höhere Bezüge würden dies jedoch dämmen und könnten als ein Ausgleich dienen für Einschränkungen, die bei Tätigkeiten während und nach der Politikerklaufbahn eingeführt werden sollten. Auch um sicherzustellen, dass die Abgeordnetentätigkeit auch immer den meisten Raum einnimmt, sollten da strengere Regelungen zu den Nebentätigkeiten her.

    Und man muss denke ich noch ein paar andere Faktoren bei den Abgeordnetendiäten miteinbeziehen:
    – Arbeitszeit: für die meisten Politiker ist eine 60-Stunden-Plus-Woche eher die Regel als die Ausnahme
    – Verantwortlichkeit der Tätigkeit
    – Relation zu Gehältern in der Privatwirtschaft, aber auch Relation zu den Gehältern der höchsten Beamten (und selbst da sind die Gehälter relativ gesehen nicht unbedingt üppig)

    Aus diesen Überlegungen heraus und wenn man Nebentätigkeiten etc. stark einschränkt, fände ich eine deutliche Erhöhung der Bezüge von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern sinnvoll. Und für das Gremium, dass in diesem Staat (zumindest formal/ offiziell) die meisten der höchsten und wichtigsten Entscheidungen trifft, denke ich schon, dass das entsprechend honoriert werden sollte. Eine höhere Bezahlung könnte vielleicht, als ein Baustein, auch zu so etwas wie einer neuen Verantwortungskultur führen: wir achten eure Tätigkeit und sehen sie als sehr wichtig an und sind bereit, sie sehr gut zu bezahlen – im Gegenzug erwarten wir eure Unabhängigkeit, Integrität und Proffessionalität, und das ihr andernfalls die Konsequenzen zieht.

  6. Das Problem ist jedoch aus meiner Sicht, dass jetzt ja schon die Abgeordneten hier und da auf die dicken Einkünfte der Wirtschaft schielen. Sie können sich die Diäten ja selber genehmigen. Also das gehört dann schon mal geändert. Da muss man extra dafür noch eine unabhängige Komission finden, die bestimmt, wieviel Abgeordnete verdienen.

    Und wenn wir schon dabei sind, dann möchte ich auch bitte geändert sehen, dass Abgeordnete auch zeitgleich Minister sein dürfen. Denn ist ein Minister nicht Vorsitzender einer Exekutivbehörde? Dann wäre er ja in der Legislative und Exekutive, was ein klarer Verstoß gegen die Gewaltenteilung bedeute. Das also auch bitte abschaffen, am besten beim Punkt “Nebentätigkeiten”.
    Man sollte auch nicht mehr gelten lassen, dass jemand in 10 Vorständen Mitglied ist, weil da ja das “Know How” sei. Dafür gibt es steuerfinanzierte Dienste des Bundestages und der Ministerien. Das muss auch aufhören. Man pausiert seinen alten Beruf während man im Parlament sitzt. Daneben hat man nichts anderes zu tun – außer Ehrenämter.

  7. Dann wäre er ja in der Legislative und Exekutive, was ein klarer Verstoß gegen die Gewaltenteilung bedeute.

    Gewaltenteilung ist ja keine Vorschrift in dem Sinn, sondern ein Staatsprinzip. in Deutschland sprechen wir von einer Gewaltenverschränkung, bei Regierungsmitglieder auch im Parlament sein können und die Regierung und die Regierungsfraktionen eng zusammenarbeiten. Noch stärker ist dies bsp. in Großbritannien. Ein anderes Modell wären die USA, wo Exekutive und Legislative wirklich streng getrennt sind. Aber auch dieses Modell hat einige Nachteile

  8. @ Markus #4:

    Ob die wirkliche Arbeitszeit eines Abgeordneten 60 h+ beträgt – darüber sind wir nicht unbedingt dergleichen Meinung. Denn Abgeordnete vermischen prinzipiell ihre Abgeordneten-Tätigkeit mit ihrer Partei-Arbeit. All dies (zusammen) “verkaufen” sie dann als ihre Arbeitszeit.

    Das wäre genauso, wenn ich nach meiner Arbeit noch eine ehrenamtliche Tätigkeit als Vereinstrainer mache und die gesamte Zeit (Arbeit + Verein) als meine Arbeitszeit darstelle. Komisch – aber in diesem Fall wird es doch immer als “Privatvergnügen” bezeichnet.

    Das “Hinterherrennen” hinter den Gehältern der Wirtschaft geht nach hinten los. Wenn man sich erst einmal dieser Argumentation öffnet, ist das Fiasko perfekt. Der Abgeordnete wird dann argumentieren, dass er ja Verantwortung über 82 Mio. Bürger habe und Ackermännchen nur über ein paar Hunderttausend. Und genau deshalb sei es nur gerecht, wenn der Abgeordnete das 100+x-fache des Gehaltes von Ackermann bekomme. Dann zahlen wir jedem der 622 BT-Abgeordneten jährlich über 1 Mrd. Euro als Diät aus.

    Dann schlage ich eher dazu vor, dass Abgeordnete sich am Einkommen eines Hartz-IV-Empfängers zu orientieren haben. Das wäre gerade in einer Zeit des “Gürtel-enger-schnallens” und des “wir-haben-alle-über-unsere-Verhältnisse-gelebt” ein echtes Sparpaket. 🙂

    Ich denke, eine Erhöhung der Diäten unter Hinüberschielen zur Privatwirtschaft ist absolut wirkungslos. Denkst Du, dass eine Erhöhung auf 10.000 Euro monatlich oder gar eine Verdopplung auf 16.000 Euro brächte eine Verbesserung? Ohne konkrete Verbote und strikte Kontrolle würde dies völlig wirkungslos verpuffen.

  9. Wie gesagt, ich bin ja für deutlich strengere Regeln bei Nebentätigkeiten usw., aber dann würde ich auch eine deutliche Erhöhhung der Diäten befürworten. Die s würde aber sicher auch Grenzen in der öffentlichen Akzeptanz finden, die deutlich unter 1 Milliarde Euro liegen 😉

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