Zur Hartz-IV-Einigung: Missachtung der Verfassung

Die Einigung zu Hartz IV: Nur geringe Verbesserungen

Man hat sich also geeinigt bei den neuen Hartz-IV-Sätzen: Fünk Euro mehr gibt es dieses Jahr (rückwirkend zum 1. Januar), noch mal drei Euro nächstes Jahr. Diese Erhöhung liegt jedoch nur im Rahmen der Lohn- und Preisentwicklung – an Verbesserungen wurde hier also im Endeffekt gar nicht erreicht. Die Regelsätze für Kinder bleiben unverändert.

Auch die anderen Veränderungen am Gesetz sind von durchaus überschaubarer Reichweite. 400 Millionen Euro sollen zur Umsetzung des Bildungspaketes zur Verfügung gestellt werden, vor allem die Kommunen bekommen hierfür nun mehr Geld zugesprochen. Der Empfängerkreis des Bildungspaketes wurde ein wenig ausgeweitet; die Höhe der Sätze für die Kinder und Jugendlichen bleibt aber.

Für das Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie die Weiterbildungsbranche soll es künftig über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz Mindestlöhne geben, für Zeitarbeiter über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Die Branchen hatten diese jedoch bereits vereinbart. Außerdem muss man anmerken, dass selbst die Union und die Arbeitgeberverbände für Leiharbeiter ohnehin Mindestlöhne beschließen wollten. Eine gleiche Entlohnung von Stammbeschäftigten und Leiharbeitern gibt es weiterhin nicht. Die Hartz-IV-Reform soll am Freitag im Bundesrat beschlossen werden. (more…)

Share

Tricksereien bei Hartz IV? [UPDATE]

Einige Indizien weisen darauf hin, dass die Bundesregierung bei der Ermittlung der neuen Hartz-IV-Regelsätze getrickst hat, um auf eine von vornherein feststehende Summe (für alleinstehende Erwachsene 364 Euro) zu kommen. Die Vorwürfe besagen im Kern, dass es sich dabei viel mehr um eine politisch gewollte statt  einer objektiv ermittelten Größe handelt und die Regelsätze künstlich heruntergerechnet wurden, um die Ausgaben so gering zu halten.

Träfe das zu, hätte die Bundesregierung grob die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes missachtet und ihnen sogar gezielt zuwidergehandelt. Eine Sammlung der bisher bekanntgewordenen Indizien, die diesen Verdacht erwecken können:


1. Bereits am 27. Oktober 2008 war in einem Bericht der Bundesregierung für 2010 ein Existenzminimum von eben genau 364 Euro vorgesehen. Wirklich nur ”ein reiner Zufall, ein Kuriosum”, wie die Regierung sagt? Und ist es ebenso ein “Zufall”, dass die Erhöhung erstaunlich genau in dem von Regierungspolitikern vorher geforderten Rahmen blieb?

2. Die Rohdaten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, auf deren Grundlage die Berechnung des Existenzminimums erfolgte, werden von der unter Verschluss gehalten und nicht einmal dem Bundestag zugänglich gemacht. Handelt man so, wenn man nichts zu verbergen hat?

3. Probleme und Verdachtsmomente treten auch schon bei der Berechnungsgrundlage auf: Bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wurden nicht, wie bei vorherigen Berechnungen, die ärmsten 20% bei den Einpersonenhaushalten, sondern diesmal die ärmsten 15% zugrunde gelegt (was einem Einkommen vom 901 statt 990 Euro entspricht). Außerdem werden verdeckt arme Familien herausgerechnet, Personen, die neben einer Arbeit Hartz IV beziehen, jedoch ohne jeden ersichtlichen Grund hereingerechnet. Es werden also Transferbezieher hinzugezogen, obwohl dies natürlich zu statistischen Zirkelschlüssen führt und überhaupt nicht im Sinn der Sache ist. All dies führt jeweils zu niedrigeren Beträgen als in einer nachvollziehbareren Berechnung. NACHTRAG (Danke, Katrin!): Noch einmal genauer: Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich geschrieben, dass in der Referenzgruppe keine Transferleistungsempfänger selbst sein dürfen, und dass deren Einkommen “statistisch zuverlässig über   der Sozialhilfeschwelle” liegen soll. Beides ist grob missachtet worden.

UPDATE (12.10.2010): Nun hat die Bundesregierung offiziell bestätigt,  bei den Referenzgruppen getrickst zu haben. Menschen ohne Arbeit und Transferleistungsempfänger wurden dort miteinberechnet, Geringverdiener machen nur einen kleinen Teil aus. In der Referenzgruppe sind lediglich 19.6% sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, 4% sind Selbstständige. Es ist also noch nicht mal ein Viertel erwärbsttätig. 37 Prozent sind Kleinrentner und -pensionäre. Und Arbeitslose sind durchaus vertreten: 20 % sind entweder ALG-I-Bezieher oder “Aufstocker”, 18% sonstige Nichtserwerbstätige. (more…)

Share

“Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!”

In einer “Diskussion” genannten, aber eher den Charakter einer Propaganda-Veranstaltung besizenden Sendung des Deutschlandfunks (MP 3) regen sich unter dem schon alles sagenden Titel “Man wird doch wohl noch sagen dürfen – Meinungsfreiheit zwischen Tabubruch und politischer Korrektheit” zwei nur zu bekannte Talkshowstammtgäste, Henryk Marvin Broder und Norbert Bolz, über angebliche Sprech- und Denkverbote in Deutschland auf. Ihre Thesen sind altbekannt, sie wiederholen sie schließlich ständig und allerorts in den deutschen Medien (was ihren Thesen natürlich schon Hohn spricht): Es gebe in Deutschland einer linke Meinungsdiktatur der 68er, die in den entscheidenden Positionen von Medien und Wissenschaft säßen. Die Medien seien fast alle links orientiert. Aufgrund der politcal correctnes könne man bestimmte Meinungen nicht öffentlich äußern. Und so weiter.

Lief im Deutschlandfunk vor der Sendung einmal ein Kommentar (MP3) in den deutschen Mainstream-Medien, der den niederländischen Rechtspopulisten und Islamhasser Geert Wilders als das charakterisiert, was er ist, wird dieser eine Kommentar von den Broder gleich als Beweis für eine linke Indoktrination der gesamten deutschen Medien genommen. An den Rassisten und Sozialdarwinisten (als den bezeichnet er ihn natürlich nicht) Sarrazin werde man sich vielleicht mal erinnern, da er die 68er-Vorherrschaft in Deutschland durchbrochen habe, so Bolz an anderer Stelle. Die “Moderatorin” tut wenig mehr, als die Thesen der beiden von der linken Meinungsführerschaft zu unterstützen und zu bekräftigen und ein paar Stichworte zu liefern. Von den beiden anderen Gästen ist auch keine Gegenmeinung zu hören: Der teilnehmende Journalist sagt zu dem Thema bewusst nichts (außer, dass die 68er ja auch nicht überall wären) und verliert sich in Nebenschauplätzen, die eingeladene ältere Autorin ist offensichtlich nicht mehr auf voller geistiger Höhe (“ich hab grad mal abgeschaltet”). Insgesamt war im öffentlich-rechtlichen Rundfunk lange keine derart einseitige Sendung zu sehen und hören – und das will was heißen.

BILD-Titel vom 4.9.2010 (1)

Was ich aber nicht verstehe:  Selbst wenn ich versuche, mich in deren Lage hineinzuversetzen – über welche “Denkverbote” in Deutschland regen sich die, sagen wir eher Rechtsorientierten eigentlich auf? Wo gibt es die denn bitte? Dass die deutschen Medien in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht ganz überwiegend neoliberal eingestellt sind, werden auch sie wohl kaum bestreiten (auch wenn sie dafür vielleicht andere Bezeichnungen verwenden). Und wie sieht es in den anderen Bereichen heute in der veröffentlichten Meinung in Deutschland aus? Sind dort etwa nur Ansichten der von den rechten Bösmenschen so verhassten “Gutmenschen” zu finden? Gibt es etwas, das man “nicht sagen darf”?

(1) Quelle: Carta

(more…)

Share

Hartz 4½ – Teile und herrsche

Nun ist also bekannt, wie die Bundesregierung die ALG-II-Regelsätze künftig regeln will.  Es wird eine geringfügige Erhöhung geben – für einen alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger um fünf Euro. Dies bedeutet dann 364 statt bisher 359 Euro. Grundlage ist dabei die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 des Statistischen Bundesamtes – diese jedoch nun mit zahlreichen Kürzungen. Alkohol und Tabak werden künftig nicht mehr mit einberechnet – jedoch auch Tierfutter, Blumen oder Handys werden nun nicht mehr zugestanden. Die nur fünf Euro Erhöhung erscheinen so viel eher politisch (willkürlich) gewollt als mit Argumenten begründet.

Erinnern wir uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar dieses Jahres entschieden, dass die bisherige Berechnung der Hartz-IV-Sätze grundgesetzwidrig sei. Jedem Bürger stehe ein menschenwürdiges Existenzminum zu. Das bedeutet:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

Das Urteil besagte nicht, mit welcher Methode die Regelsätze künftig ermittelt werden sollten. Die Bundesregierung entschied sich nun, weiterhin einen statistischen Warenkorb zugrunde zu legen. Doch hier gibt es schon eine erste Abweichung – und die zeigt, dass es eine politische Entscheidung war, dass die Erhöhung nicht zu stark ausfallen sollte: statt der ärmsten 20% der Haushalte werden nun bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die ärmsten 15% zugrunde gelegt – was die Beträge natürlich sinken lässt.

Was aber noch wichtiger ist: das Existenzminimum wird weiterhin nicht (absolut) definiert, es bleibt abhängig vom Lohnniveau – und damit auch vom wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland. Sinken die Einkommen und damit die Ausgaben der ärmsten Haushalte in Deutschland, sinkt so auch das durch Hartz IV zu gewährleistende Existenzminimum. Und so könnte es natürlich auch schon jetzt der Fall sein, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum, wie es das Verfassungsgericht definiert, auch jetzt nicht gewährleistet ist. (more…)

Share

Bildungsferne Schichten in der Politik

Von Lutz Hausstein

Als das Bundesverfassungsgericht am 09. Februar 2010 sein Urteil zur Höhe der Hartz-IV-Regelsätze fällte, stellte es in seiner Begründung unter anderem folgendes fest:

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen.“

Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.“

Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen.“

Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres von 207 Euro genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, weil es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro abgeleitet ist.“

Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“

Diese Aussagen des BVerfG sind selbst für juristische Laien verständlich und können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes für Erwachsene ist nicht verfassungsgemäß ermittelt worden.
  2. Da die Höhe des Regelsatzes für Kinder (wie auch für Paare in den sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“) direkt aus der Regelsatzhöhe für Erwachsene abgeleitet wird, ist diese ebenfalls nicht verfassungsgemäß.
  3. Für die Ermittlung des Hartz-IV-Eckregelsatzes ist bis zum 31.12.2010 ein Verfahren festzulegen, welches den realen Bedarf des physischen Existenzminimums sowie einer angemessenen sozio-kulturellen Teilhabe abdeckt sowie auf transparente und nachvollziehbare Weise ermittelt und veröffentlicht wird.
  4. Dem BVerfG ist es unmöglich, die Höhe des aktuell angewandten Regelsatzes zu bewerten. Es kann diesen weder als „ausreichend“ noch als „nicht ausreichend“ quantifizieren, da die Methoden zu dessen Ermittlung nicht nachvollziehbar sind.

(more…)

Share

“Meine Brieftasche gehört mir!”

Die heutige Frauenbewegung handelt den eigentlichen Intentionen des Feminismus zuwider. Sie hat sich längst mit dem herrschenden kapitalistisch und hierarchisch organisierten System verbündet. Ihre Forderungen laufen dabei sogar auf eine Ausbreitung von bestimmten – durch die geschichtliche Entwicklung als männlich charakterisierten – Eigenschaften und Verhaltensweisen (wie Härte, Aggressivität, Egoismus, Konkurrenz- und Karrieredenken) hinaus und erstrecken sich auf alle Frauen. Das Ziel einer wirklich emanzipatorischen Bewegung sollte jedoch in deren Überwindung liegen.

Es war in der Tat vorhersehbar: Nachdem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu den Rechten unverheirateter Väter verkündete, kam der erwartbare Protest der üblichen Verdächtigen (via Zeitgeist Blog). Die Argumentation: die meisten Männer müssten erst einmal beweisen, dass sie überhaupt etwas mit dem Sorgerecht anfangen können und es nicht nur aus Machtinstinkten wollen. Falls auch manche Frauen ihre Kinder vernachlässigen, ist das nicht so schlimm wie bei Männern, da Frauen ja in der Vergangenheit die Kindererziehung übernommen hatten. Und nicht zuletzt: ein Vater, der nicht genügend Unterhalt zahlen kann, ist kein guter Vater.

Ich benutze den Ausdruck “die üblichen Verdächtigen” nicht gerne, aber er gibt es nun einmal wieder: Wenn heutzutage Feministinnen in den Medien zu Wort kommen, sind es fast immer die einer einzigen, bestimmten Sichtweise. Diese sogenannten Feministinnen sind diejenigen, die Feminismus in erster Linie in einer Weise verstanden wissen wollen, die letztendlich darauf hinausläuft, dass sich Frauen immer mehr dem annähern, was heute zumeist als männlich bezeichnet wird. Fangen wir aber am besten an mit den Gemeinsamkeiten, die diese sich so bezeichnenden Feministinnen und ich (und ich stütze mich in der Folge vor allem auf Gedanken von Herbert Marcuse) haben. In der Vergangenheit der Menschheitsgeschichte haben in erster Linie Männer eine herrschende Rolle inne gehabt. Die gesellschaftlichen Machtstrukturen waren in erster Linie ihnen vorbehalten. Ebenso waren sie in der Arbeitswelt übermäßig vertreten, die Frauen auf Kindererziehung und Hausarbeit reduziert, und sie wurden nicht selten auch direkt unterdrückt. So weit sind wir uns in jedem Fall einig. (more…)

Share

Abwahnrecht

Stefan Niggemeier zeigt an ein paar Beispielen den ganzen Wahnsinn der Praxis von Abmahnungen in Deutschland, die dem Prinzip der Meinungsfreiheit oft völlig zuwider läuft.

Woher kommt der Gedanke, dass man Dinge, die einem nicht gefallen, mit der Hilfe von Anwälten und Gerichten aus der Welt schaffen lassen kann? Wenn das nicht mit Meinungsfreiheit gemeint ist: dass Leute frei finden und sagen können, an wen ich sie erinnere, egal wie ungerecht mir das erscheinen oder wie unvorteilhaft das für mich sein mag — was denn dann? (…)

Für erstaunlich viele Menschen, Gruppen und Unternehmen scheint es ganz normaler Bestandteil des Repertoires einer Auseinandersetzung zu sein, anderen ihre Äußerungen zu verbieten. Das ist nicht nur ein juristisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles. (…)

Natürlich gibt es Fälle, in denen es legitim ist oder sogar notwendig sein kann, Veröffentlichungen verbieten zu lassen (und es haben nicht einmal alle dieser Fälle mit der „Bild”-Zeitung zu tun). Aber müsste das in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht das letzte Mittel sein? Eine drastische Maßnahme für besonders drastische Fälle — anstatt ein Routinewerkzeug in jeder Auseinandersetzung? Es ist völlig das Bewusstsein dafür abhanden gekommen, was für ein einschneidender Schritt das ist: jemandem zu verbieten, etwas zu sagen.

Das deutsche Abmahnrecht ist längst zu einem wirkungsvollen Zensurmittel verkommen, durch das mächtige und v.a. finanzstarke Unternehmen oder Organisationen alle ihnen unliebsamen Meinungsäußerungen und auch wahre Tatsachenbehaupungen zu unterlassen quasi erpressen können, will man nicht einen jahrelangen und extrem teuren Rechtsweg auf sich nehmen, zudem mit äußerst ungewissem Ausgang. Denn die Rechtssprechung, v.a. die eines Gericht in einer deutschen Hansestadt landet, ist inzwischen berüchtigt. Abmahnunrecht wäre wohl ein passenderes Wort. Auch gerne dabei mit Abmahnungen: die Katholische Kirche. Und sie geht sogar noch weiter als viele andere, auch das hat Stefan Niggemeier jetzt erfahren. Will sie nach Jahrhunderten endlich wieder zum Vorreiter der Verdunklung der Wahreheit auftreten? Erfahrung hat sie ja. Und das Abmahnunrecht bietet ihr jetzt quasi alle Mittel dazu.

Die Diözese Regensburg hat nun auch mich abgemahnt. Sie geht also nicht mehr nur gegen Artikel über ihr Verhalten im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch eines Pfarrers vor elf Jahren vor. Sie geht auch gegen Artikel vor, die darüber berichten, wie sie gegen diese Artikel vorgeht. (…)

So umfassend ist also das Schweigen, das das Bistum Regenburg gerichtlich erzwingen will. Es geht ihr offenkundig nicht nur um eine (richtige oder falsche) Aufbereitung der Ereignisse von 1999. Es geht ihr offenkundig darum, das Thema insgesamt aus der Öffentlichkeit herauszuklagen.

Einzig das Bundesverfassungsgericht ist anscheinend regelmäßig die letzte Bastion der Vernunft im ausartenden Abm/wahnsinn. Und doch, wenn erst das BVerfG feststellen muss, dass das Persönlichkeitsrecht eines Menschen “seinem Träger keinen Anspruch darauf vermittelt, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es ihm selbst genehm ist”, wie weit ist es dann mit der tatsächlichen Praxis eines formalen Rechtsstaats gekommen? Wie kann daran überhaupt jemand zweifeln?

Auch CARTA beschäftigt sich in einer Artikelserie mit anderen Aspekten der deutschen Abmahnpraxis. Bisher erschienen: Abmahnrepublik Deutschland (I), der die Auswüchse der Abmahnungen anschaulich darstellt und für eine Allianz gegen die Pervertierung des Abmahnrechts plädiert, und Wie man aus Schülern Geschäftsleute macht. Teil II der Serie „Abmahnrepublik“, der zeigt, wie sich die Politik  bei der Gesetzgebung zur Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums von Lobbys und Klientelgruppen beeinflussen ließ und wie aus diesem Gesetz eine vollkommen widersinnige Rechtssprechung resultierte.

Und der rauskucker demonstriert, wohin die ausartende Abmahnpraxis und freiheitsfeindliche Rechtsprechung noch führen könnte. Zwar als Satire, aber leider wohl gar nicht mehr so unrealistisch:

Der Moppedclub “Hells Angels” ließ ein Verbot des Begriffs “Rockerbande” verfügen.
Osama Bin Laden setzte durch, daß seine Al Kaida nicht mehr als “Terrornetzwerk” und ihre Arbeit nicht mehr als “Terroranschläge” bezeichnet werden durften.
Die NPD ließ (in ihrer Eigenschaft als Rechtsnachfolgerin der NSDAP) die Wörter “Holocaust”,”Shoah”, “Völkermord” und “Angriffskrieg” verbieten, ebenso alle Bezeichnungen für A. Hitler (wie z.B. “Diktator”), außer dem korrekten “Reichskanzler”, bzw. “Führer”.
Der Hamburger Zensurrichter Andreas Buske erreichte, daß der Ausdruck “Zensur” in allen Abwandlungen und Kombinationen nicht mehr verwendet werden durfte.

Share

Ohne Vorratsdatenspeicherung drohen uns ganz und gar unermessliche Gefahren!!!

Nach dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung beginnen die Medien bereits mit einer Kampagne, dass nun ohne eine Vorratsdatenspeicherung unermessliche Gefahren drohen könnten. Warum dies getan wird, liegt relativ nahe: man will unbedingt eine Neuauflage erreichen; und auch, dass dabei eher Panik geschürt statt sachlich berichtet wird, ist wenig überraschend.  Aber wie Politik, Sicherheitsbehörden und Medien dann genau vorgehen, ist dann doch relativ absurd.

(1)

Am Tag der Entscheidung des BVerfG waren bereits kurz nach der Urteilsverkündung die ersten Medlungen in den Radio-Nachrichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass Sicherheitsbehörden, Innenminister, CDU o.ä. das Urteil heftig kritisierten (und das wurde verkündet, noch bevor das Urteil überhaupt erst mal erklärt wurde), dass nun zehntausende (sic!) Verbrechen nicht mehr aufgeklärt werden könnten und unglaublich viele furchtbare und ganz unmittelbare Gefahren lauerten. Selbstverständlich wurde das dann auch so berichtet, als wäre es die objektive Wahrheit.

Diese “Nachrichten” waren in keiner Weise um Neutralität oder Objektivität bemühte Meldungen, sondern ganz klare, überaus einseitige, aber in ihrer Plumpheit auch hoffentlich von vielen Zuhörern durchschaute Kampagnen. Im heute-journal kam nach einer anfangs sehr guten Einleitung dann aber in einem langen Interview ein Hardliner aus dem Bund der Kriminalbeamten (BdK) zu Wort. Ganz vorne bei der Propaganda mit dabei ist natürlich die Springer-Presse. Auch das ehemalige Nachrichtenmagazin schürt fleißig Panik, aber sogar die Süddeutsche beteiligt sich.

(2)

Im ganzen Internet (oder, wie es meist heißt, „Cyberspace“) drohe, so der Tenor dieser “Berichte”, an allen Ecken und Enden Online-Betrug, Kinderpornografie oder Terrorismus, überall werden ständig Anschläge geplant oder – ich weiß leider nicht mehr, ob es ZDF oder Deutschlandradio war – es werden sogar Einbrüche geplant (das haben die wirklich so gesagt!)! Ja, wer kennt das nicht, ein paar Minuten nur in diesem komischen Internetz sind schlimmer als ein Leben in den härtesten Bezirken von Rio de Janeiro oder den schlimmsten Ecken Johannesburgs! Wenn man da nicht Acht gibt, kann einem ja so gut wie alles passieren! Das Web ist böse.

(3)

Und v.a.: so gut wie alle denkbaren Verbrechen werden ja dort, wenn nicht begangen, so doch geplant, und auch abseits dieses Cyberspace droht nun, da die Vorratsdatenspeicherung erst einmal gestoppt ist, überall alles. Der bayrische Innenminister warnt sogar, dass der “rechtlose Zustand” gar Menschenleben kosten könnte. Doch nicht nur mehr oder minder schwere Straftaten, die Latte wird gezielt immer weiter nach unten gesetzt. So beklagt der BdK (erwähnt in dem selben Spon-Artikel) , dass auch etwa Beleidigung im Internet nicht mehr aufgeklärt werden könnten. Und das, Zitat BdK, “können wir nicht hinnehmen”. Nein, das können wir nicht! Wo kämen wir denn da hin?Ganz Deutschland droht ja schon jetzt in Chaos und Verbrechen zu versinken! Alles ist jetzt möglich! Ob Einfuhrschmuggel von Waffen oder Betäubungsmitteln, oder angedrohte Amokläufe und Bombelegungen – überall sind nun der Polizei die Hände gebunden! Und man könnte nun selbst – und das wird tatsächlich von der Polizei so kommuniziert! – gegen Suizidankündigungen oder bei Vermisstenfällen nicht mehr vorgehen. Oder, ganz klar, man brauche die Vorratsdatenspeicherung, so der bayrische Innenminister, um “verunglückte Bergsteiger zu retten”. Die Grenzen zur Realsatire sind wirklich fließend.

Man muss es sich wirklich mal vor Augen führen: da werden wahllos auch noch so große Gefahren aufgebauscht, gar Gefahren für Menschenleben behauptet, von den gleichen Seiten dann aber auch direkt so etwas wie Betrug oder gar Beleidigungen quasi auf die selbe Stufe gestellt, und unsere Qualitätsmedien nehmen das alles völlig komentar- oder kritiklos hin. Und es stört auch nicht, dass dank dem BVerfG der Zugriff auf die Daten ja auch bisher auf schwere Straftaten beschränkt war und die Verfolgung oder Verhinderung der meisten genannten Delikte ja auch bisher gar nichts mit der Vorratsdatenspeicherung zu tun hatte (und es daher auch keine Veränderungen geben wird).

(4)

Es muss nicht erwähnt werden, dass dieses Strategien höchst unseriös sind und natürlich in erster Linier dazu dienen, bei den nicht so sehr mit Technik und v.a. dem Internet vertrauten Bürgern Panik zu schüren (etwas komisch mutet es dennoch an, dass etwa die Telefonverbindungsdaten kaum angesprochen werden). Dass der Satz „das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ nun mal wieder an allen Ecken und Enden zu hören ist, versteht sich von selbst. Auf tatsächliche Argumente, Beweise, dass die Vorratsdatenspeicherung wirklich so nützlich in Verbrechensaufklärung oder -verminderung ist, wie behauptet wird, wartet man natürlich vergebens.

Kein Beispiel scheint zu absurd, kein Zusammenhang zu konstruiert, um die angeblichen Gefahren, die ohne Vorratsdatenspeicherungen drohen, an die Wand zu malen. Jedes Verbrechen oder Vergehen, jede Ordnungswidrigkeit kann genannt werden, gegen die man dann keine Handhabe mehr hätte – man muss sich nicht wundern, wenn demnächst z.B. illegaler Handel mit Atomwaffen, Autodiebstahl oder Nichtentfernen von Hundekot auf Bürgersteigen nun ganz bedrohlich würden, weil es keine Vorratsdatenspeicherung mehr gibt.

Denn das ist klar: niemand ist mehr sicher!!!

Bildquellen:

(1) Dirk Adler / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

(2) Vaguely Artistic / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

(3) Bram  Opstaele / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

(4) Cole  Henley / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

[Diesen Beitrag kann man auch beim binsenbrenner.de lesen.]

Share

Das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: ein "Ja, aber …"

Das Bundesverfassungsgericht hat die derzeitige Praxis der Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt. Doch dies darf nicht täuschen: nur die Umsetzung wurde beanstandet (da sie unverhältnismäßig sei und  Sicherheits- und Datenschutzstandards verletze), eine Vorratsdatenspeicherung, so das Gericht, sei aber grundsätzlich zulässig. Konkret: eine anlasslose, vorsorgliche Speicherung von Daten sei “nicht schlechthin verfasungswidrig” – man könnte das Urteil auch als eine Aufforderung, als ein “so nicht, anders gerne!” auffassen. Es handelt sich also am Ende um einen Sieg für die Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung.

Einziger Trost: das BVerfG hat recht hohe (inhaltliche wie technische und datenschutzrechtliche) Hürden für ein eventuelles  zukünftiges Gesetz gelegt. So müsse der Zugriff auf die Daten auf die Auklärung tatsächlich begangener schwere Straftaten und “zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr” zulässig sein. Die Träume von Sicherheitspolitikern oder Privatwirtschaft werden sich also nicht erfüllen, auch etwa zur Verfolgung von Raubkopien oder Beleidigungen usw.  auf die Daten zugreifen zu können. Auch die Gefahr, dass etwa politisch unliebsame Personen und Gruppierungen überwacht werden, ist damit gebannt – zumindest vorerst.

(1)

Dennoch muss man es klar sehen: lange Zeit war das BVerfG einer der letzten Hüter der Bürgerrechte gegen die Bemühungen, einen umfassenden Überwachungsstaat zu etablieren. Doch nun hat es sich offenbar dem Zeitgeist gebeugt. Das Vorgehen,  Sicherheits- (oder auch Privatisierunggesetze) über die EU umsetzen zu wollen (eine Praxis, der das Gericht in der Vergangenheit äußerst skeptisch gegenüberstand) ist dabei nun wohl wieder Tür und Tor geöffnet. Denn das BVerfG ist einer Auseinandersetzung mit dem freiheitsbeschneidenden EU-Recht aus dem Weg gegangen. Darüber, ob dies aus fehlendem Mut, wie viele meinen, oder aus politischen Gründen geschah kann, soll hier nicht spekuliert werden: die Konsequenzen jedenfalls sind klar.

Zwar müssen die bisher gespeicherten Daten in Folge des Urteils nun unverzüglich gelöscht werden, aber auch das ist nur ein vorrübergehender Erfolg, der schnell getrübt werden kann. Denn es ist, schon aufgrund der EU-Richtlinie (sollte diese nicht tatsächlich doch noch geändert werden) leider davon auszugehen, dass es demnächst eine Neuauflage der Vorratsdatenspeiherung geben wird, mit ein paar kleinen inhaltlichen Schönheitskorrekturen. Wie vom Gericht verlangt. Und ob man sich etwa auf die FDP wird verlassen können, ist doch mehr als fraglich.

(2)

Es kommt also gerade jetzt darauf an, klarzumachen, dass die bisherigen Sicherheitsgesetze für die Anforderungen der Verfolgung, Aufklärung und Vermeidung von Verbrechen völlig ausreichend sind und die Speicherung der Verbindungsdaten aller Bürger einen völlig unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheit und die Bürgerrechte darstellt. Eine Datenspeicherung auf Vorrat, auch in einer etwas abgemilderten Form, darf es nicht geben. Man darf jetzt keine Ruhepause einlegen. Der Überwachungsstaat droht immer noch.

Weitere Kommentare zum Thema:

Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: Verfassungsrechtlicher Opportunismus (eine sehr detaillierte Analyse des Urteils durch Wolfgang Lieb auf den NachDenkSeiten)

Das vorläufige Stopp-Schild für die Vorratsdatenspeicherung (ebenfalls sehr weitreichende Analyse bei Ravenhorst, mit einer umfassenden Übersicht weiterer Stellungnahmen zum Thema)

Das Urteil aus Karlsruhe (F!XMBR)

Bildquellen:

(1) Wikipedia (Benutzer: Evilboy) / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

(2) John-Paul Bader / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de

Share

Das Hartz IV-Urteil und seine Folgen

Vor einer Woche hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Berechnung der Hartz IV-Regelsätze gegen das Grundgesetz verstößt und bis zum 1. Januar 2011 neu geregelt werden muss. Was besagt das Urteil genau und was können mögliche Konsequenzen sein?

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karlsruhe_bundesverfassungsgericht.jpg (Tobias Helfrich unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Das Bundesverfassungsgerich hat nun endgültig klargestellt, dass jeder Bürger einen unbedingten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Es hat dabei in seinem Urteil auch erstmals genau ausgeführt, was dieses beinhaltet:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

Der Anspruch müsse den “gesamten existenznotwendigen Bedarf” des Menschen decken. Es ist zweifellos ein Erfolg, war aber indes überfällig, dass dies endlich juristisch festgestellt wurde. Über die konkrete Höhe der Leistungen, die ein sozio-kulturelles Eistenzminimum darstellen, hat das BVerfG indes nicht geurteilt; zu den derzeitigen jedoch hat es gesagt, sie seien nicht offensichtlich unzureichend. Gerade dies hat (in seiner Unkonkretheit) manche Erwartungen, die vielleicht in das Urteil gesetzt wurden, enttäuscht.

Das Abstellen des menschenwürdigen Existenzminimums auf „gesellschaftliche Anschauungen“ und auf „wirtschaftliche Gegebenheiten“ lässt das Pathos über die zu wahrende „Würde“ des Menschen bei der Begründung des Leistungsanspruchs angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit und des Lohndumpings der letzten Jahre als ziemlich hohl erscheinen.
Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut (NachDenkSeiten)

Für das BVerfG sind die Hartz IV-Sätze also nicht zwangsläufig wegen ihrer Höhe verfassungswidrig. Allerdings haben die verschiedenen Bundesregierungen nun seit nunmehr fünf Jahren gegen das Grundgesetz verstoßen (es werden am Ende sechs Jahre sein, da die Regierung und speziell das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis Anfang 2011 Zeit haben werden, die Leistungen grundgesetzkonform zu regeln).

Quelle: http://www.flickr.com/photos/21982470@N06/3810215875/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/deed.de

Ende der Willkür

Laut BVerfG sei das Verfahren nur wegen der Intransparenz und fehlenden Sachgerechtigkeit der Berechnung der Regelsätze, bei der oft nur “ins Blaue hinein” geschätzt worden sei, nicht verfassungsgemäß . Dass die Ermittlung der Regelsätze methodisch höchst unsauber und wenig fundiert war, willkürliche Kürzungen vorgenommen wurden und die Höhe nach den politisch vorgegebenen Leitlinien angepasst wurde, war lange bekannt (und auch neoliberale Ökonomen mussten dies als Schandfleck am von ihnen so geliebten ALG II zugestehen). Besonders abstrus waren die Methoden natürlich bei den Sätzen für die Kinder, wo laut dem Urteil allein schon Alltagserfahrungen einen besonderen Bedarf nahelegten, jegliche Ermittlungsversuche des tatsächlichen Bedarfs von Kindern seitens des Gesetzgebers aber ausblieben.

Wie genau die Sätze neu berechnet werden soll, ist in dem Urteil nicht gesagt. Methodisch gibt es da sicher einige sinnvolle Ansätze – und so gut wie alle Ansätze sind besser als das bisherige Vorgehen. Das bisherige Statistikverfahren, bei dem die Leistungen anhand der Ausgaben der ärmsten 20% der Bevölkerung minus Abschläge berechnet werden, bleibt ausdrücklich möglich. Dies kann jedoch auch bedeuten, dass bei sinkenden Löhnen im Niedriglohnsektor auch die Sozialleistungen immer weiter sinken werden. Ein Warenkorb-Modell (welches vor Hartz IV für die Berechnung der Höhe der Sozialhilfe herangezogen wurde), das um sozio-kulturelle Ausgaben erweitertert wäre, wäre deutlich sinnvoller, da es den tatsächlichen Bedarf ermittel und absolute Bedarfszahlen liefert und nicht nur relative und nur monetäre Größen.

Aber zumindest ist die von einer unerträglichen Überheblichkeit und Abgehobenheit charakterisierte Willkür nun vorbei, in der es die politsch Machthabenden noch nicht einmal für nötig hieleten, für gerade die Allerärmsten un -schwächsten der Gesellschaft festzustellen, ob für sie überhaupt ein menschenwürdiges Leben gewährleistet ist, ob wenigstens ihr Existenzminimum tatsächlich gesichert ist.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/kongharald/3821492016/ (Harald Groven unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de)

Keine Grundsatzentscheidung gegen Hartz IV

Ich wäre froh, wenn die Entscheidung, wie es manche – wie ich denke in überschwinglicher Freude – eingeschätzt haben, ein Urteil gegen Hartz IV insgesamt dastellen würde. Aber das ist es nicht. Das Grundprinzip von Hartz IV wurde nicht in Frage gestellt, auch nicht das grundsätzliche Berechnungsverfahren, eben nur die Umsetzung.

Allerdings spielen bei solchen Entscheidungen immer politische und ethische Gesichtspunkte mit hinein, die man in der Tat nicht bloß rechtlich regeln kann. Da laut dem Urteil aber auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet werden muss, hätte man vielleicht doch die Festsetzung ein paar gewisser Mindeststandards erwarten können. Denn nur durch die Konkretisierung der Vorgaben der Verfassung, auch möglicherweise hinsichtlich gewisser Messwerte, überschreitet das BVerfG ja nicht seinen Aufgabenbereich oder seine Kompetenzen.

Wie geht es also weiter mit Hartz IV? Vielleicht gibt es ein Reset und vielleicht sogar einen schicken neuen Namen, wie es sich Zensursula vorstellt. Einen tatsächlichen anderen Charakter wird dieses aber dann kaum haben, geschweige denn, dass es viele Vorteile bringen wird, das wage ich hier einmal vorausszusagen.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/75936077@N00/693299811 (Andreas Skowronek unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/deed.de)

Was können wir für die Höhe der Leistungen erwarten?

Die Entscheidung wird voraussichtlich dafür sorgen, dass die derzeitigen Leistungen nicht noch weiter gesenkt werden können. Eine spürbare Erhöhung der Sätze, außer denen für Kinder (wo das Gericht sehr deutlich geworden ist, so dass man folgern kann, dass die jetzigen Leistungen offensichtlich nicht genügen und v. a. gröbst willkürlich sind), die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen dringend nötig wäre, kann man aus dem Urteil aber nicht ohne weiteres zu erwarten haben. Wie sorgfältig die Politik bei den neuen Regelungen vorgehen wird, ist auch nicht klar. Zumindest wird sie mit allen Mittel bemüht sein, dass der das dann “ermittelte” Existenzminimum im Bereich des jetzigen Quasi-Zufalls-Wertes liegt.

Denn das Urteil beinhaltet keine Rückwirkung. Eventuelle Ansprüche auf höhere Leistungen, da die jetzigen laut BVerfG bis 2011 ja verfassungswidrig sind, wird man nicht geltend machen können, auch wenn 2011 höhere (und dann verfassungsgemäße Sätze) beschlossen werden sollten. Sprich (wenn die Leistungen höher sein werden): alle Hartz IV-Empfänger, die sechs Jahre lang zu niedrige Leistungen bekommen haben , haben Pech gehabt. Begründet wird dies vom BVerfG u. a. mit dem Schutz der öffentlichen Haushalt. Fiskalpolitisch vielleicht noch nachzuvollziehen, fällt dies rechtlich da schon schwerer. Nur ein Punkt, an dem wirtschaftliche Erwägungen und juristische aufeinandertreffen. Aber die Folge der fehlenden Rückwirkung kann auch schon abgesehen werden: natürlich besteht jetzt die Gefahr, dass die Bundesregierung, zudem eine moralisch derart unbefleckte wie die jetzige, auch in Zukunft verfassungswidrige Gesetze zunächst erlassen wird. Falls sie dann vom BVerfG einkassiert werden sollten, hat man zumindest mehrere Jahre lang schon mal einiges sparen können.

Das Gericht hat außerdem festgelegt, dass man in Ausnahmefällen einen Rechtsanspruch auf Zusatzleistungen hat, um „besonderen Bedarf zu decken, wenn es im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist“, etwa im Falle von Krankheiten. Es war in der Tat einer der größten Skandale dieser Gesetzgebung, dass dies bisher nicht möglich war – und oft nur zynisch kommentiert wurde, man könne ja sparen oder einen Kredit aufnehmen, um sich etwa Medikamente kaufen zu können. Die ganze menschenverachtende Haltung der Macher dieser Politik tritt hier noch deutlicher als anderswo zu Tage.

Und die Menschenverachtung zeigt sich noch in einem anderen Aspekt: in der Praxis, Menschen mit dem Wegfall des Existenzminmums zu bedrohen und dieses an Arbeitspflicht zu binden. Sogar Kürzungen des Existenzminimums um 100%, also die absolute Streichung der zum Leben notwendigen Mittel, werden zur Zeit vollzogen. Folgt man den Buchstaben des Urteils, so wäre dies eigentlich ab 2011 nicht mehr möglich. Allerdings hat das Gericht nichts Konkretes zu den Sanktionen gesagt. Möglicherweise, so vermuten einige Kommentatoen, wird diese Frage also noch juristisch zu klären sein.

Welche politischen Chancen bieten sich?

Wer geglaubt hat, dass in einem umfassenden System wie der derzeitigen Ausgestaltung des Kapitalismus eine Instanz, die Teil dieses Systems ist, einen grundlegenden Richtungswechsel vorgeben wird, der hat dessen gesellschaftliche Totalität unterschätzt. Eine andere, eine gerechtere, sozialere und menschenwürdigere Gesellschaftsform muss meist erstritten werden gegen die Bewahrer des Status Quo.

Letzlich ist es eine Frage politischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, ob in einem Land mit einem so großen Reichtum wie dem unsrigen allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden soll – oder ob es für viele Menschen, wie die rechtskonservativen und neoliberalen Workfare-Vertreter wollen, so hart, so unangenehm, so unmenschlich wie möglich sein soll. Die harschen Reaktionen auf das Urteil dieser Seite zeigen, dass sie sich bereits angegriffen fühlt und sich nicht anders weiterzuhelfen weiß als mit wüsten Beschimpfungen und Diffamierungen, ja dass sie gar die allmählich die Fassung zu verlieren droht, und sich dadurch auch bei ihren Anhängern immer mehr diskreditiert.

Wenn einmal die Gelegenheit da ist, erfolgversprechend alternative Konzepte zum Neoliberalismus in den öffentlichen Diskurs einzubringen, wenn erstmals seit Jahren Hartz IV als ein wesentlicher Bestandteil der Umsetzung dieses Konzeptes in Deutschland sich einer grundlegenden Kritik unterziehen muss, und wenn gar die Möglichkeit bestehen sollte, einen grundlegenden gesellschaftlichen Stimmungswandel zu erreichen, dann sollte man diese nicht ungenutzt lassen. Und wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür, ob gewollt oder nicht, Ankünpfungspunkte bietet, dann sollte man diese wahrnehmen.

Lesenswerte Kommentare zum Thema:

Hartz-IV-Urteil aus Karlsruhe: Das Ende der Willkür (Zeit Online)

Nach dem ALG-II-Urteil (Telepolis)

Ein Armutszeugnis (Der Freitag)

[Dieser Beitrag ist auch beim binsenbrenner.de erschienen.]

Share