Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: nichts als ein paar Beruhigungspillen

Die Bildungsminister der Bundesländer haben gestern mit den deutschen Hochschulrektoren als Reaktion auf die seit Wochen unter dem Begriff “Bildungsstreik” laufenden Studentenproteste einige wenige kleine Verbesserungen an den Bachelor-Studiengängen zugesagt, die restlichen Forderung nach Aufhebung der vielen Defizite im deutschen Bildungssystem aber unangetastet gelassen.

Dauer des Bachelor-Studiums: Ein Bachelor-Studium darf zukünftig anstatt höchstens sechs  nun bis zu acht Semester dauern. Eigentlich eine gute Sache. Der Witz an dieser Sache aber, der diese mindestens als eine Mogelpackung offenbart (in anderen Bereichen würde man wohl von arglistiger Täuschung sprechen) ist aber, dass Bachelor und Master weiterhin auf eine Dauer von höchstens zehn Semestern beschränkt bleiben. Der Master müsste also bei einem achtsemestrigen Bachelor in zwei Semestern gemacht werden, womit alle Vorteile, die man sich auf den ersten Blick erhofft hat, schnell verpufft sind und sich ins Gegenteil verkehrt haben. So viel Dreistigkeit muss man erstmal haben, dies als Erfolg zu verkaufen. Aber die haben sich unsere für die Bildungspolitik zuständigen Politiker ja in jahrelangen Parteikarrieren antrainiert.

Weiterhin Beschränkung des Masters: Der Zugang zum Masterstudium soll auch weiterhin nicht für alle Bachelor-Absolventen möglich sein. Den einzelnen Hochschulen bleibt es  selbst überlassen, ob sie dort Hürden konstruieren. Denn der Bologna-Prozess wird in seinem Wesen nicht angetastet, und Ziel des Bologna-Prozesses ist nun einmal, viele billige Schmalspustudiumsabsolventen mit einem auf die Verwertbarkeit für die Privatwirtschaft zugeschnittenen Studium einerseits und einige wenige “Eliten” andererseits zu produzieren.

Reduzierung der Arbeitsbelastung und der Prüfungslast: Die Arbeitsbelastungen des Studiums, die in den Bachelor-Master-Studiengängen penibel zugeteilt ist (die “Leistungsgesellschaft” duldet nun mal keine “Bummelstudenten”) soll von derzeit 40 Wochenstunden und 46 Wochen pro Jahr auf 32-39 Wochenstunden in 46 Wochen pro Jahr reduziert werden. Diese Arbeitsbelastung, die durchschnittlich berechnet und mit zweifelhaften Methoden geschätzt wird, sei “als Richtschnur” nun “vertretbar”. Zu großzügig! Und nicht mehr wie bisher nach jeder einzelnen Veranstaltung wird nun zwingend eine Prüfung geschrieben (an alle, die noch in den Genuss eines Magister- oder Diplom-Studiums kamen oder kommen: das ist kein Scherz!), sondern “nur noch” nach jedem Modul (in disen sind oft 2 oder 3 Veranstaltungen zusammengefasst). “Überzählige Prüfungen” sollen so abgeschafft werden. Ja, richtig gehört, es brauchte wirklich erst Proteste, um überflüssige, also unnötige und nur mehr Arbeitsaufwand für Studierende wie Lehrende produzierende Prüfungen abzuschaffen.

Leichtere Anerkennbarkeit von Leistungen: Der einzige wirkliche Fortschritt ist wohl, dass bei einem Hochschulwechsel (an andere Unis, in andere Bundesländer und ins Ausland) die Püfungsleistungen endlich leichter anerkannt werden. Diese größere Internationalisierbarkeit des Studiums war der vorgeschobene Grund für den Bologna-Prozess, und nicht einmal unsere Bildungspolitiker wären so unklug, nicht wenigstens diese Fassade vor den wahren Interessen hinter diesem Prozess nicht zerfallen zu lassen.

Das war alles. Wirklich. Alles. Das. Alle anderen Forderungen der zehntausenden protestierenden und streikenden Schülern und Studierenden, die Forderungen der Lehrenden, die von Gewerkschaften (wie z.B. der GEW) und politischen Gruppierungen wurden mit keinem Deut bedacht.

Weiterhin soziale Selektivität, weiterhin Unterfinanzierung: Die zahlreichen gezielt gesetzten sozialen Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems sollen nach dem Willen der Kultusminister weiterhin Bestand haben. Die Frage der Studiengebühren und der Erhöhung des BAföG-Satzes wurden nicht angesprochen.  Und es  steht keine Aufhebung der Unterfinanzierung des deutschen Bildungssstems  in Aussicht. (Der Anteil der Bildungsausgaben ist im letzten Jahr noch gesunken, und Deutschland steht hier  in der OECD auf dem drittletzten Platz  – ebenso bei der Anzahl von Hochschul-Zugängern, bei den Absolventen steht es auf dem viertletzten.) Das Geld wird ja jetzt für die Hoteliers gebraucht.

Für die Privatwirtschaft, wie die Privatwirtschaft: Die Demokratisierung der Hochschule wird nicht vorangetrieben, im Gegenteil: die an vielen Hochschulen begonnene Umwandlung zu einer autoritären und hierarchischen “Führung” nach dem Vorbild der Privatwirtschaft geht weiter, ebenso die stärkere Orientierung der Hoschulen an den Gewinninteressen der Privatwirtschaft. Der Bologna-Prozess wird bedingungslos befürwortet.

Keine Verbesserung für die Schulen: Die deutschen Schulen verbleiben in der selben Lage wie vorher. Forderungen wie die einer Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems und des Abiturs nach 12 Jahren finden, wie es zu erwarten war, noch nicht einmal eine Erwähnung, geschweige denn eine Unterstützung.

Nur eine Beruhigungspille: Insgesamt muss man sagen, dass das Papier der Kultusminister mit den zugesagten Verbesserungen nicht viel mehr als eine Beruhigungspille, die aus dem Arzneischrank der Kultusminister gezaubert wurde, wie der Freitag schreibt, darstellt. Schaufensterpolitik, Schaumschlägerei, es gibt viele Begriffe dafür. Nur ein paar kleine Verbesserungen auschließlich am Bachelor-Studiengang, die den Bologna-Prozess  insgesamt unangetastet lassen und alle anderen Probleme der Bildungspolitik ausblenden, zeugen mindestens von einer grotesken Kurzsichtigkeit. Man könnte auch unterstellen, dass weitere Veränderungen gar nicht gewollt sind. Wie viel davon und wie schnell das ganze überhaupt umgesetzt wird, bleibt überdies in vielen Fällen unklar. Schließlich, so der baden-württembergische Wissenschaftsminister Frankenberg, funktioniere die Umsetzung solcher Beschlüsse auch “nicht in allen Fällen von heute auf morgen”.

“Jetzt ist doch auch mal gut!”: So kann man der medialen Öffentlichkeit ein angebliches Eingehen auf viele Forderungen der Schüler und Studenten vorgaukeln, ohne in Wahrheit allzu viel zu ändern. “Jetzt muss aber endlich mal Schluss sein mit diesen Protesten!!” ist die Reaktion, die erzeugt werden soll (und ja auch von KMK und HRK geäußert wurde). Mit diesen Maßnahmen wird Deutschland nicht die propagierte Bildungsrepublik, sondern weiterhin den anderen Industriestaaten hinterherhinken. Und ein weiteres Absinken ist wohl vorprogrammiert.

Die Proteste müssen weitergehen: Der Blick der Protestierenden nun muss klar sein, um zu erkennen, was ihnen da verkauft wird – und dass man sich damit, mit nur ein paar Beruhigunspillen, nicht abspeisen lassen kann. Eine echte Veränderung des deutschen Bildungssystems bleibt genauso so notwendig wie sie es vorher war.

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Hintergründe zur deutschen Bildungspolitik

Ein paar interessante und lesenwerte Artikel und Kommentare zu aktuellen Entwicklungen und zu den Hintergründen des deutschen Bildungssystems:

Geldsorgen halten Abiturienten vom Studium ab (SPON)

Chaos an den Unis, marode Gebäude – doch die Studenten studieren so gern wie nie zuvor, behaupten Bildungspolitiker. Das stimmt nicht: Einer neuen Studie zufolge fängt ein Drittel der potentiellen Studenten kein Studium an, weil es ihnen am Geld fehlt und Studiengebühren sie abschrecken.

Bundespräsident zur Bologna-Reform:  Köhler rechnet mit Hochschulpolitik ab (Stern.de)

Bundespräsident Horst Köhler geht mit den Verantwortlichen für die deutschen Unis scharf ins Gericht: Der Hochschulbereich leide an einer “chronischen Unterfinanzierung”, an “schlechten Betreuungsquoten, maroden Gebäuden und mangelnder Infrastruktur”.

Marodes deutsches Bildungssystem erzeugt 2,8 Billionen Euro Folgekosten (TELEPOLIS)

Die Bertelsmann Stiftung hat die Folgekosten der unzureichenden Bildung ausgerechnet und fordert Chancengleichheit. Aber warum macht sie das?

Doch die Bertelsmann Stiftung ist flexibel, wenn es um ideologische Vorgaben geht. Dem Autor ihrer aktuellen Studie [extern] geht es vor allem darum, dass am Ende “die Rendite stimmt” und das System der freien Marktwirtschaft von einer möglichst großen Bevölkerungsgruppe akzeptiert wird. Zu diesem Zweck sollen die Startchancen für den Einzelnen optimiert und bildungspolitische Bestandsgarantien – etwa für das dreigliedrige Schulsystem – notfalls veräußert werden, so dass die während der laufenden Studentenproteste vielfach geäußerte Systemfrage gar nicht erst gestellt werden muss.

Die Bertelsmann-Hochschule (Lowestfrequency)

Bevor man haarsträubende Fehlinformationen hört bezüglich des „Hochschulfreiheitsgesetzes“, das ja die Universitäten unglaublich frei macht (an dieser Stelle mal die Kantsche Frage: Freiheit für was, oder Freiheit von was?)… Grund genug, sich ein bisschen mit den Bertelsmann’schen Visionen zu befassen.

Hochschulreform: Nieder mit Bologna (Die Zeit)

Eine sogenannte Reform hat die deutschen Universitäten zerstört. Sie können nur gerettet werden, wenn der kontrollierte Student wieder Bummelstudent werden darf.

Es gab, mit anderen Worten, an den Universitäten einen Grad an Eigensinn, an Unordnung und an verrauchter Unspießigkeit, der den unternehmensberaterisch geschulten Reformer, der in den späten neunziger Jahren verbreitet aufkam und der sich um die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen sorgte, nur heillos empören konnte.

Bachelor- und Masterstudiengänge: Ende einer Lebensform (Sueddeutsche.de)

Von Humboldt zu Bologna: Der atemberaubende Untergang der deutschen Universität. In diesen Jahren spielt sich ein Drama ab, dessen Tragweite in der Öffentlichkeit kaum begriffen wird. Es handelt sich um den Untergang der deutschen Universität, wie sie vor allem von Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren konzipiert wurde. 2010, zum Jubiläum der 1810 gegründeten Berliner Universität, wird dieser Untergang besiegelt sein. Denn dann soll der “Bologna-Prozess” auch in Deutschland abgeschlossen werden, der schon jetzt keinen Stein auf dem anderen lässt in den höheren Bildungsanstalten.

Der kranke Mann Deutschlands – Deutschlands Bildungssystem (Oeffinger Freidenker)

Teil 1: Auftakt

Teil 2: Wurzeln

Teil 3: Schulformen

Teil 4: Infrastruktur

Teil 5: Lehrerbildung

Die Freie Universität vor dem Börsengang? – Bemerkungen zur Ökonomisierung der Wissenschaft (NachDenkSeiten)

Eine Universität, die sich als Gemeinwesen versteht, wird sich einem öffentlichen Auftrag verpflichtet fühlen und sich über den Inhalt des öffentlichen Auftrags intern streiten. Eine Universität nach dem Modell des Privatunternehmens wird sich umdefinieren zur Unterordnung all ihrer Tätigkeiten unter das oberste Prinzip, auf dem Markt erfolgreich zu sein. Dieses Modell der unternehmerischen Universität nimmt vollständig Abschied von der Idee und der Tradition der Universität nicht nur als Gruppenuniversität sondern überhaupt als Gemeinwesen. Gibt es Hoffnung, dass die „unternehmerische Universität“ nicht das Ende der Universitätsgeschichte ist?

Geschäftsziel ist die Produktion von Waren, die privat nutzbar und auf dem Markt veräußerbar sind, statt von Kollektivgütern: Also werden die Studierenden zu Kunden umdefiniert, die verwendbare Qualifikationen und entsprechende Zertifikate nachfragen und auch mit Studiengebühren bezahlen. (…)

Innerhalb der unternehmerischen Universität geht es um die optimale Verbindung von Hierarchie und Konkurrenz. Das bedeutet auf jeden Fall die Aufhebung, mindestens aber das Leerlaufenlassen aller Formen von Demokratie und Mitbestimmung. (…)

Studierende, die als Käufer und Kunden von Wissenschaft bzw. Ausbildung auftreten, werden auf schlechte Lehre, für die sie nun auch noch bezahlen müssen, vielleicht mit mehr Wut als bisher reagieren.

George Carlin darüber, warum eine gute Bildung für die Massen von Politik und Wirtschaft gar nicht gewollt ist

http://www.youtube.com/watch?v=r7dL-lGCVEg

(Für die beiden letzten Links danke an willi!)

NACHTRAG: Solidaritätserklärung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland mit dem Bildungsstreik der Studierenden (PDF)

Solidaritätserklärung und einige empirische Daten und Untersuchungsergebnisse zur deutschen Bildungspolitik

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Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule: Marx für heute

Der so genannte „real existierende Sozialismus“ machte offensichtlich, dass die Marxsche Theorie nicht wirklich in die Realität umgesetzt wurde, aber auch, dass viele ihrer Annahmen und v. a. ihrer Prognosen falsch waren. Doch muss damit nicht die ganze Theorie falsch und ablehnenswert sein. Aber sie braucht eine Aktualisierung. Die klassische Marxsche Theorie ist nicht für alle Seiten gültig, sie ist geschichtlich eingebettet, was ja ihre Schöpfer auch nie bestritten haben.

Die Kritische Theorie, auch bekannt als Frankfurter Schule – zu ihren bekanntesten Vertretern gehören etwa Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Walter Benjamin, Jürgen Habermas oder Axel Honneth – versteht sich als Marxismus. Der orthodoxe Marxismus aber war für die  Vertreter der Kritischen Theorie zu unbeweglich, mechanistisch und überholt. Er sei als „Theorie des 19. Jahrhunderts“ nur in diesem Kontext verständlich – und brauche daher eine geistige Erneuerung für das 20. Jahrhundert. Denn mit den historischen Bedingungen als Grundlagen der  Kritik müsse sich auch die Theorie ändern. Durch eine Erneuerung würde Marxismus so nicht auf einem spekulativen oder ideologischem Boden stehen. Die Kritische Theorie versucht also, den Marxismus also auf die heutige Zeit anzupassen, aber auch, Lücken und Schwierigkeiten aufzuheben.

Was sind nun die Wandlungen, die die marxistische Theorie quasi aktualisierungsbedürftig machen? Marx habe die technisch fortgeschrittene Gesellschaft nicht vorausgesehen. Klassengegensätze wurden in dieser sekundär. U.a. der Wohlfahrtsstaat hat Gegensätze vereinigt und klassische marxistische Klassenkampfdoktrinen unbrauchbar gemacht. Die früher evidente Irrationalität der durch die kapitalistische Produktionsweise geprägten Gesellschaft, wie etwa Kinderarbeit, unwürdige Arbeitsbedingungen, Armut, hohe Sterblichkeit und extreme soziale Ungleichheit sei heute nicht mehr offensichtlich. Die Verelendungstheorie hat sich nicht bewahrheitet.  Trotzdem gibt es aber noch weiterhin Ausbeutung (eine Aneignung des Mehrwerts der Arbeit durch das Kapital). Aber die klassische Marxsche Annahme, dass nur die Arbeit Mehrwert bilden könne, kann als überholt angesehen werden: Maschinen bestimmen immer mehr die Produktivität. Auch die Marxsche Entfremdungstheorie scheint so nicht mehr zu stimmen – die Menschen erkennen sich immer mehr in ihren Gütern. Insgesat hat die kapitalistische Gesellschaft eine Totalität entwickelt und ist derart in Denken, Sprechen und Handeln dermaßen großer Bevölkerungsteile eingedrungen, die sich mit dem System, dass sie ausbeutet und in Herrschaftsstrukturen gefangen hält, nun vollends identifizieren, wie es Marx und Engels im 19. Jahrhundert kaum vorausgesehen haben. Von dieser Konstellation kann kaum ein Klassenbewusstsein ausgehen, geschweige denn eine Revolution oder eine sonstige Umwälzung der bestehenden Gesellschaft.

Nach Ansicht der Kritischen Theorie müsse marxistische Theorie im Zuge der Veränderungen im kapitalistischen System veraltete Kategorien modernisieren.  Marx Gesellschaftskritik war für das 19. Jahrhundert zutreffend und bietet auch heute noch viele gute Ansatzmöglichkeiten. Man kann Marx heutztage etwa nicht mehr als Ratgeber für  wirtschaftswissenschaftliche Fragen heranziehen – hier ist ein Scheitern vorprogrammiert. Die Kritische Theorie sagt, es bestünde zwar immer noch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit privatem Aneignungsbedürfnis als Triebfeder, dieses führe aber durch den enormen technischen Fortschritt zu einer Annäherung der Klassengegensätze und -interessen, zur Abnahme unmittelbaren Elends, zu mehr gesellschaftlichem Reichtum, auch für untere Schichten. Außerdem gehe der klassische Kapitalismus teilweise in einen organisierten Monopolkapitalismus über. Da der Proletarier als Klasse verschwunden ist, müsse sich Bewusstseinsbildung zur Emanzipation in der Gesamtgesellschaft bilden.

Außerdem hat die Kritische Theorie auch Ideen und Ansätze von anderen Denkern außerhalb des Marxismus aufgenomen – von Hegel etwa (die Dialektik, die freilich schon Marx übernommen hatte- wenn auch in etwas anderer,Form als Hegel …), von Max Weber, oder von Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse eine bedeutende Rolle spielt.

Den sogenannten “real existierenden Sozialimus” sah die Kritische Theorie übrigens genauso negativ wie den Kapitalismus. Herbert Marcuse etwa sieht Eindimensionalität (in Denken, Sprechen, Verhalten) als das Kennzeichen der Ideologie aller hoch entwickelten Industriegesellschaften, auch der Sowjetunion. In den kommunistisch regierten Ländern werde die Gesellschaft wie im Kapitalismus von einer totalen Technokratie und Verwaltung manipuliert und jede Opposition erstickt oder integriert. Beide Gesellschaftsformen kämpften gegen die Auflösung der Grundlage von Herrschaft. Die Sowjetregierung habe sich die Herrschaftsstrukturen und die Produktions- und Verwaltungsrationalität des Industriezeitalters zu eigen gemacht (Verstaatlichung ist für Marcuse mehr ein Wechsel der Herrschaftsweise, als eine Voraussetzung, die Herrschaft abzuschaffen und das Verschwinden des Staates zu erreichen) mit parallelem Ergebnis zu den westlichen Staaten. Unterwerfung und Unterordnung sowie deren Reproduktion kennzeichneten (alle) Industriegesellschaften.

Ich werde das Verhältnis vom klassischen Marxismus zur Kritischen Theorie in den nächsten Tagen an zwei Beispielen untersuchen: der Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels (“Das Sein bestimmt das Bewußtsein”) und der Ideologiekritik (der Kritik der Eindimensionalität fortgeschrittener Industriegesellschaften) von Herbert Marcuse.

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Klimaleügner und Atomlobbyisten

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt nach rechten Putschisten jetzt auch Leugner des Klimawandels. Eine Konferenz, als einer deren Veranstalter ihr “Liberales Institut” fungiert, bietet das Forum für  wissenschaftlich nicht zu haltende Ansichten, die man auch gut und gerne als obskurre Verschwörungstheorien bezeichnen kann. Wissenschaftlich etwa so haltbar wie der Weltuntergang 2012. Ein Blick auf einige Vortragende kann dabei auch erhellend wirken:

Nun ist es eine alte Strategie von Ideologen und Wirtschaftslobbyisten, wissenschaftlichen Humbug als unbequemes Querdenkertum zu präsentieren und die Verteidigung eigener ökonomischer Interessen als Kampf für die allgemeine Freiheit. Wirkliche Debatten sind auf der Tagung jedenfalls nicht zu erwarten, die Liste der Referenten könnte einseitiger kaum sein. Vertreter der anerkannten Klimaforschung (die sich über Ursachen und Wirkungen des Klimawandels seit Langem und im Wesentlichen einig ist) werden keine Referate halten – stattdessen unter anderem ein emeritierter Informatikprofessor, ein ehemaliger Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher und der Moskauer Büroleiter der rechten US-Stiftung Heritage Foundation.

Unter Umweltschützern und Wissenschaftlern ist Singer seit langem umstritten: Vor seiner Karriere als Klimaskeptiker bezweifelte er schon, ob und wie sehr Passivrauchen zu Lungenkrebs führt und ob das Ozonloch wirklich eine so schlimme Sache ist.

Auch der Mitveranstalter der Berliner “Klimakonferenz”, CFACT aus Washington, hat jahrelang Geld von Unternehmen genommen, die an der Zerstörung des Weltklimas ganz gut verdienen

Also wirklich nur ganz seriöse, unabhängige Experten!! (via Fefes Blog, Lobbycontrol)

Und Lobbycontrol zeigt unter “360° Drehtüt: Atomaufseher -Atomlobbyist – Atomberater – Atomaufseher” die bewegte Vergangenheit von Gerald Hennenhöfer, der neuer Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit werden soll. Schön dabei auch dies:

Hennenhöfer soll dem Asse-Betreiber zu einer zurückhaltenden Informationsstrategie gegenüber der Öffentlichkeit geraten haben, als dieser wegen Wassereinbbrüchen in das Atomlager in die Kritik geriet.

Das ist der Lobbyismus, der dafür sorgt, dass wirklich alle Interessen unserer Gesellschaft angemessen vertreten werden, der so unglaublich wichtig ist, ohne den unser Meinungsplualismus ja gar nicht möglich wäre! Nicht wahr, liebe Politikwissenschaftskollegen?

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Zur Zukunft Europas

Eigentlich wollte ich ja heute zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages einen Blogpost schreiben über diesen Vertrag und dessen negative Seiten, die in der Mainstream-Presse gerne verschwiegen werden, noch einmal näher beleuchten. Und ich wollte schreiben über den erstarkenden Konservatismus in Europa, der sich, um ein paar ganz aktuelle Besispiele zu nennen, etwa im Volksentscheid der Schweizer gegen Minarette (und einigen Reaktionen darauf), in der Zustimmung zum SWIFT-Abkommen, einer Datenbank in Deutschland, die künftig zentral erfasst, wer an einem Streik teilgenommen hat, oder in Italien, wo Berlusconi Anti-Mafia-Autoren erwürgen will, ausdrückt.

Aber da sehe ich, dass Roberto J. De Lapuente bei ad sinistram bereits einen Beitrag geschrieben hat, wie man ihn besser wohl kaum formulieren könnte: Europa geht schwanger.

Er beschreibt darin den kleinbürgerlich-spießerischen Konservatismus, der in Europa vorherrscht, den Lissabon-Vertrag, der Demokratie nur vorgaukelt, die Bürgerrechte einschränkt, Militarismus stärt und die Lage der Entwicklungsländer noch schlechter werden lässt. Und er entwirft ein Zukuftsszenario von einem Europa, das geprägt ist vom Hass gegen Arbeitslose und “Sozialschmarotzer”, Muslime und Ausländer, einem Europa der Kleinkariertheit, der Disziplin. Dem Euopa der Konservativen.

Wie soll in einem Europa, das keinen klassischen Liberalismus mehr kennt, Toleranz mehr und mehr verliert, das immer tiefer in den (sozial-)rassistischen Sumpf gerät, wie soll in einem solchen spießigen und kurzsichtigen Europa, in dem die Einfältigkeit täglich heimischer wird, Auflehnung gegen Sozialabbau, Demokratiedefizit und Lissaboner Vertrag stattfinden? Es entspricht zuletzt dem Zeitgeist, all das hinzunehmen, auch wenn es wehtut, wenn es einem selbst Schaden zufügt; es dient doch letztlich nur der guten Sache, dient dazu, unnütze Esser und sonstiges Gesocks in die Schranken zu weisen. Dieses Europa nimmt alles hin, nimmt selbst die Unmenschlichkeit hin, um sich selbst im Wohlstand zu halten.

Aber lest selbst.

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Bye Bye ZDF!

Das ZDF hat durch die Entscheidung gegen eine Vertragsverlängerung von Nikolaus Brender nun endgültig jeden Anschein von journalistischer Unabhängigkeit verloren. Roland Koch hat es geschafft, dass sieben der vierzehn Mitglieder des Verwaltungsrates des ZDF (von denen neun Mitglied in der Union sind oder ihr nahe stehen) gegen den parteipolitisch neutralen Brender, der den Parteipolitikern noch um so negativer durch seinen kritischen Journalismus und eine nicht gerne gesehene fehlende Korrumpierbarkeit auffiel, gestimmt haben. Ein schwarzer Tag für die Presse- und Rundfunkfreiheit, ein schwarzer Tag für die Meinungsfreiheit.

Auch die Proteste von vielen (dabei durchaus auch CDU-nahen) ZDF-Journalisten und die Warnungen von 35 führenden Staatsrechtlern, die von einem “Prüfstein für die Rundfunkfreiheit” sprachen, nützten nichts. Einzig eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die parteipolitische Einflussnahme könnte helfen – doch dazu muss sich erst mal ein Kläger finden. Das Zweite Deutsche Fernsehen wird seine Regierungshofberichterstattung nun also für alle ganz offensichtlich betreiben. Die parteipolitische Einflussnahme erfolgt nicht mehr nur “in den Köpfen” oder hinter verschlossenen Türen – sie erfolgt ganz direkt, für alle sichtbar. Man muss es der CDU lassen – sie verfügt damit über einen derart umfangreichen Propaganda-Apparat, wie ihn in Europa wohl nur noch ein Berlusconi hat.

Ich würde auch gerne glauben, dass wenigstens Roland Koch tatsächlich angeschlagen als Verlierer aus diesen Machenschaften hervorgehen wird. Aber schon die CDU-Spendenaffäre, ausländerfeindliche Ressentiments führende Wahlkämpfe, die Steuerfahnder-Affäre und mehr hat er überstanden und wurde doch wiedergewählt. Und wer sagt, dass nicht bald wieder eine andere Sau durchs Mediendorf getrieben wird und bei der nächsten Wahl der Wähler alles vergessen hat? Noch dazu, wenn tatsächlich Peter Frey neuer Chefredakteur des ZDF werden sollte und wir dort eine Regierungspropaganda sondergleichen zu erwarten hätten. Wieviele Zuschauer würden dessen Berichte kritisch hinterfragen? Die sicheren Verlierer sind nur der unabhängige Journalismus und die Meinungsfreiheit.

Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Roland_Koch_08.jpg. Bildautor: Armin Kübelbeck. Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/ (In short: you are free to share and make derivative works of the file under the conditions that you appropriately attribute it, and that you distribute it only under a license identical to this one.)

Demnächst wird man beim ZDF dann wohl eher vom “Zensierten Deutschen Fernsehen” sprechen können. Oder einfach direkt von CDU.TV. Meine Tipps für die Zukunft des ZDF: “heute” wird ersetzt durch “BILD-TV-News”, “Neues aus der Anstalt” durch den “Der Pofalla der Woche”.

Wie erwartet gibt es viele Kommentare zu dem Thema. Ein paar lesenswerte sind:

Spiegel online: Absetzung von ZDF-Chefredakteur Brender: Deutschland ist jetzt Berlusconi-Land

Der Spiegelfechter: Mit dem Zweiten sieht man schwärzer – Nikolaus Brender darf nicht mehr ZDF-Chefredakteur sein

Der Spiegelfechter: Politik vs. Pressefreiheit – Klarmachen zum Showdown

(UPDATE:) F!XMBR: Nikolaus Brender – die Geister, die sie riefen

Hintergrund: Der Fall Nikolaus Brender (NDR)

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Der Bildungsstreik 2009 und das deutsche Bildungssystem

Unter den Slogans “Unibrennt” und “UnsereUni” protestieren seit einigen Wochen in zahlreichen Ländern Europas Schüler und Studierende für ein besseres Bildungssystem. Schulen und Hörsäle werden besetzt, häufig solidarisieren sich auch Lehrende mit den Anliegen der Studierenden, und anders als häufig zuvor berichten sogar eher konservative Medien deutlich positiv über den Bildungsstreik und zeigen Verständnis für die Anliegen und Forderungen der Beteiligten.

Was sind die Gründe für diese Proteste? Wo liegen Defizite des deutschen Bildungssystems vor, und wie wirken sich diese aus? Und welche Möglichkeiten und Perspektiven bestehen für eine Aufhebung dieser Defizite?

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Die deutsche Bildungspolitik: chronisch unterfinanziert

Das deutschen Bildungssystem verfügt über eine viel zu geringe finanzielle Ausstattung, an den Bildungsstätten fehlt es an allen Ecken und Enden. Den immer wieder verkündeten parolenhaften Verlautbarungen, dass Bildung die wichtigste Ressource sei, dass sie unsere Zukunft ist usw., folgten nie die entsprechenden Maßnahmen, die Phrasen der Politiker erwiesen sich vorwiegend als heiße Luft. Eine  Ausweitung des Haushaltsanteils für Bildungs- und Forschungsausgaben etwa wäre dringend geraten, doch erfolgt diese nicht, hier rangiert Deutschland im hinteren Teil der Industrieländer. Deutsche Schulen und Hochschulen sind überbelegt, die extrem schlechte Betreuungsquote lässt eine direktes Eingehen auf die Lernenden oft unmöglich werden.

Die Politiker in Regierungsverantwortung behandeln die Bildungspolitik immer noch stiefmütterlich. Mit politisch oder wirtschaftlich sinnvollen Gründe ist dieses Verhalten eher schwer zu erklären. Vielmehr scheinen Defizite im Funktionieren unseres politischen Systems die ausschlaggebende Rolle zu spielen. Dessen Strukturen führen dazu, dass für die Partei- und Karrierepolitiker, die unser System in die entscheidungsrelevanten Positionen hievt,  Erfolg v. a. an der Anzahl der Wählerstimmen gemessen wird und die Jagd nach diesen den obersten Rang im politischen Handeln einnimmt. Mit Bildungspolitik unterdessen lassen sich kaum Wahlen gewinnen – Steuerentlastungen, Rentenerhöhungen kurz vor der Wahl o. ä. versprechen da schon mehr Erfolg. Zudem hat die Bildung keine einflussreiche Lobby. Auch von Politikern, die nach ihrer Regierungs- oder Parlamentslaufbahn  in Bildungseinrichtungen unterkommen, hört man eher wenig.

Elitenbildung statt Aufhebung der sozialen Selektion

Neben der chronischen Unterfinanzierung zeichnet v. a. ein sehr hohes Maß an sozialer Selektivität das deutsche Bildungssystem aus. In keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg derart stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses ab. Die Selektivität beginnt im dreigliedrigen Schulsystem, Gesamtschulen etwa heben laut Bildungswissenschaftlern die Leistungen eher schwächere Schüler deutlich an. Die Selektivität geht an den Hochschulen weiter, hier hat Deutschland OECD-weit die wenigsten Arbeiterkinder. Dies führt neben einer stärkeren sozialen Ungleichheit auch zu einem für ein Industrieland relativ niedrigen Anteil von Hochschulabsolventen. Gerade die Einführung von allgemeinen Studiengebühren in den CDU-geführten Bundesländern hat eine erhebliche Abschreckungswirkung für Kinder aus ärmeren Familien, ein Studium aufzunehmen. BAföG-Leistungen erhalten nur 25 % der Studierenden, Erhöhungen der Leistungen erfolgen nur in extrem großen Zeitsprüngen und stellen noch nicht einmal eine Anpassung an die Inflation dar. Die ursprünglich versprochene Erhöhung (in Wirklichkeit also eine Real-Beibehaltung) der Leistungen will die neue Bundesregierung nun sogar nur in Verbindung mit ihren geplanten einkommensunabhängige Elite-Stipedien vornehmen. Diese Stipendien werden nichts gegen die soziale Selektion tun, sie sind wie die Elite-Unis wieder ein Teil eines falschen Denkens: wir brauchen nicht mehr Elite-Studenten und nicht größere Unterschiede der Qualifikationen (wie auch Bachelo und Master), wir brauchen mehr Studierende, und dabei v. a. mehr aus sozial weniger privilegierten Schichten.

Hierbei sollte man nicht außer Acht lassen, dass es durchaus politische und gesellschaftliche Kräfte geben kann, die kein Interesse an einer Aufhebung der sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems haben. Das Herrschaftssystem der Eliten könnte in Gefahr geraten, wenn etwa immer mehr Arbeiterkinder in den Genuss einer immer besseren Bildung gelangen.

Bachelor und Master – eine grundlegend falsche Reform

Großen Unmut auf Seiten der Studierenden wie auch der Lehrenden hat zudem in den letzten Jahren der Bologna-Prozess hervorgebracht, die Umstellung der Studienabschlüsse in Deutschland auf das angelsächsische zweistufige Bachelor/ Master-System. Dabei kann man nach 3 Studienjahren den Bachelor-Abschluss erlangen, und nur ein Teil der Absolventen darf danach noch 2 Jahre draufsetzen und mit dem Master abschließen (der etwa dem Niveau der jetzigen Abschlüsse entspricht). Ziel dieses Prozesses ist es, günstigere Absolventen eines kürzeres Schmalspustudiums (durch die Beschränkung des Masters) sowie eine stärkere Konzentration auf unmittelbar für die Privatwirtschaft verwertbares Wissen (zu Lasten eines umfassenden Bildungsbegriffes und zu Lasten der Fächer außer BWL, Jura, Medizin und einigen Naturwissenschaften) zu produzieren.

Diese Umstellung stellt einen weiteren Schritt der Umorientierung der Bildungspolitik hin zum neoliberalen Bild der “Leistungsgesellschaft” dar. Der Lernstoff wird stark komprimiert, es gibt einen wesentlich stärkeren Leistungsdruck und eine Erhöhung der Prüfungszahlen. Verschulung, mehr Auswendiglernen, mehr Kontrollen und weniger Eigenständigkeit sind weitere Merkmale der neuen Studiengänge.  Universitäre Abläufe werden bürokratischer und stärker hierarchisch organisiert. Man scheint eine stärkere Disziplinierung mit autoritäreren Maßnahmen, die Abnahme von Kritik und eine Depolitisierung der Studentenschaft erreichen zu wollen. (Näheres zu BA/MA unter: Bachelor und Master – Bildungspolitischer Ausdruck des neuen gesellschaftlichen Leitbildes).

Dazu passt, dass die Umstellung der Studiengänge von der Politik diktiert und nicht demokratisch erarbeitet wurde. Weder Studierende noch Lehrende waren in die Entscheidungen einbezogen, noch konnten sie an diesen etwas ändern oder sich ihr widersetzen. Dabei gab und gibt es durchaus auch unter vielen Lehrenden extrem kritische und ablehnende Stimmen, und dies keineswegs nur von eher links gerichteten Dozenten, sowie ja auch selbst eher konservative Medien dem Prozess äußerst kritisch gegenüberstehen. Einzig die CDU- und FDP-nahen studentischen Hochschulgruppen (RCDS, LHG) lehnen die Proteste ab. Wie weit dies auf Wegsehen vor den Problemen oder eher auf Parteisoldatentum beruht, möchte ich hier nicht beurteilen. Eine über fast alle politischen Lager sich zeigende Ablehnung also – nur lassen sich die Partei- und Bildungspolitiker davon kaum beeindrucken. Und auch dass die Bachelor-Absolventen auf dem Arbeitsmarkt deutlich weniger als die Absolventen der alten Studiengänge eingestellt werden, die Wirtschaft die neuen Studiengänge also gar nicht annimmt, offenbart die extremen Schwierigkeiten, die entstehen, wenn Entscheidungen ideologisch motiviert und nicht rational und wissenschaftlich fundiert getroffen werden, wenn der Rat von Experten nicht eingeholt und Betroffene nicht angehört werden.

Unter den Folgen von BA/ MA leiden Studierende wie Lehrende

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Dies offenbart sich besonders drastisch an den unmittelbar spürbaren Folgen von Bachelor und Master. Studierende der neuen Studiengänge klagen über extrem hohen Leistungsdruck. Heute sind so viele Studierende wie nie in psychologischer Behandlung. Der Zeitrahmen für Aktivitäten neben dem Studium, auch etwa politische oder gesellschaftliche, nimmt durch die ständig notwendigen Klausurvorbereitungen ab, und auch die Zeit für Nebenjobs. Diese benötigen jedoch viele zur Finanzierung ihres Studiums; die soziale Selektivität steigt noch einmal. Die Zahl der Studienabbrecher nimmt immer mehr zu. Entgegen der Zielsetzung sind die neuen Abschlüsse auch nicht vergleichbarer als die alten, im Gegenteil. Selbst in dem selben Bundesland können schon Probleme bei der Anerkennung von Studienleistungen entstehen, und erst recht in anderen Ländern. Auslandsaufenthalte gehen immer mehr zurück, wegen der Anerkennungsschwierigkeiten und auch, weil durch die genau festgelegten und kaum variablen Zeitpläne der neuen Studiengänge einfach kaum noch Zeit dafür da ist. Welch ein Hohn angesichts der Reden der Bologna-Verantwortlichen! Durch die ständigen Anwesenheitspflichten sind die Veranstaltungen oft überbelegt, Seminare mit 90 Teilnehmern etwa sind heute nicht mehr unüblich.

Auch der Druck auf die Lehrenden erhöht sich damit. Ständige Vorbereitung und Korrektur von Klausuren werden gezwungenermaßen oft zur Hauptbschäftigung. In Folge von Bologna werden aber auch gerade die Anstrengungen in der Lehre nicht höher gewürdigt – Forschungsergebnisse  sind hier oft das Hauptkriterium. Aber auch auf die Inhalte der Lehre wirkt der Bologna-Prozess. Durch die steigende Teilnehmerzahl und die verkürzte Zeit ist kaum Raum für umfassende und kritische Betrachtungen eines Themas oder für Diskussionen. Hineinpauken von Prüfungswissen wird durch die häufig und dann immer gehäuft anstehenden Klausuren oft leider unumgänglich, und dies ist häufig auch eine andere Vorstellung von Hochschulen, als sie die meisten Studenten und Dozenten haben. Durch die genannten Aspekte kommt es in großen Teilen auch schon zu einer Solidarisierung von Studierenden und Lehrenden. Sie wissen, dass für sie alle unter dem Bologna-Prozess und seiner Umsetzung fast ausschließlich negative Konsequenzen  erfolgen, und sie wissen am besten, wo Verbesserungsbedarf und -möglichkeiten bestehen. Politik muss aber in einer Demokratie die Interessen derer, die sie vertritt ernst nehmen. Sonst provoziert sie Protest.

Auf die Straße!

http://www.youtube.com/watch?v=J9riPlkCzv8

Wenn die Parteipolitiker Bildung immer noch als Randthema betrachten und die einzigen “Reformen” dazu führen, Konkurrenzdenken, Leistungsdruck und soziale Selektivität zu stärken, kann ein Weg zur Veränderung nur über alternative Politikformen gefunden werden. Wir brauchen einen umfassenden Bildungsbegriff, der kritikfähige und eigenständige Individuen statt nur egoistisch agierender Marktteilnehmer zum Ziel hat. Und eine Bildung, die keine sozialen Schranken kennt. Wir brauchen ein Schulsystem, dass auf Bildung der breiten Bevölkerung statt auf Eliteförderung setzt, wir brauchen die Abschaffung der Studiengebühren und eine Ausweitung des BAföGs, wir brauchen eine Rücknahme der negativen Eigenschaften des Bologna-Prozesses.

Dafür besetzen nun Schüler ihre Schulen, Studierende ihre Hörsäle. Dafür gehen sie in friedlichen Demonstrationen auf die Straße. Die Schüler, die Studierenden und viele der Lehrenden und ihrer Vertretungen (z.B. die GEW) stehen dabei auf einer Seite, und auch die Medien haben erkannt und berichten, wie es in unserem Bildungssystem aussieht und wie nachvollziehbar und berechtigt die Proteste sind. Begonnen haben die Proteste, als Studierende in Wien das Audimax besetzten. Sie weiteten sich auf andere Unis v. a. in Deutschland und Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern aus. 85.000 Studenten beteiligten sich in Deutschland letzte Woche an Protesten, die Zahl der besetzten Unis in ganz Europa nimmt von Tag zu Tag zu.

Erfolgreich werden die Proteste sein, wenn sie erreichen, dass durch eine steigende Aufmerksamkeit auf die Belange der Bildung die verantwortlichen Bildungspolitiker und auch etwa die Hochschulrektorenkonferenz unter steigenden öffentlichen Druck geraten, dringend notwendige Verbesserungen im Bildungssystem vorzunehmen und Fehlentwicklungen zurückzufahren. Über die Form von Protesten kann man sich immer streiten, wie sinnvoll diese sind. Dass die derzeitigen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, können wir sehen. Vielleicht wäre es zweckdienlich, die Proteste über die eigene Schule oder Hochschule auszuweiten und dass diese sich auch direkter an die Verantwortlichen wenden.

Die Ziele und Forderungen jedoch sind ohne jeden Zweifel berechtigt. Eine vernünftig finanzierte, sinnvoll gestaltete und allen offen stehende Bildung kommt der gesamten Gesellschaft zu Gute. Und dafür kann es sich auch lohnen, zu protestieren.

Links zum Thema

unsereunis

Bundesweiter Bildungsstreik

Bildungsstreik Trier

“AK Protest!” Trier

Blogposts:

Quelle: Horatiorama (http://gelb.net/gelblog/2009/11/17/unibesetzung-trier-impressionen-von-der-vollversammlung-am-17-november-2009/) unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

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Der Jesuitenschüler und die Baroness

Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU haben in gewohnt intransparenter Weise hinter verschlossenen Türen die durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen neuen Posten ausgeschachert, mit zwei durchaus überraschenden Besetzungen.

Der belgische Premierminister Hermann Van Rompuy wird der erste Präsident des Europäischen Rates. Der als “tiefgläubiger Christ” beschriebene ehemalige Jesuitenschüler und Absolvent einer katholischen Universität stellt dabei den Vertreter der konservativen Parteien. Aufgrund eines üblichen Proporzes  hätte eigentlich ein Vertreter der linken das zweite Amt übernehmen sollen. Doch Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik soll die britische Baroness und Mitglied auf Lebenszeit des House of Lords Catherine Ashton  übernehmen. Sie als Mitglied der Labour Party als Sozialistin zu bezeichnen kann aber nur als mäßig gelungener Scherz betrachtet werden. Schließlich hat New Labour mit der konsequenten Fortsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik Thatchers mit Maßnahmen wie grenzenlosen Privatisierungen, einem gnadenlosen Aufbau von Workfare-Politiken oder der Einführung von Studiengebühren eine am treffendsten als neoliberal zu charakterisierende Politik betrieben, die sich schließlich auch im Programm der Partei mit einem Abschied vom Ziel der sozialen Gerechtigkeit und eines umverteilenden Sozialstaates ausdrückte. Und mit dem Aufbau eines umfassenden Überwachungsstaates hat Labour eine Innenpolitik zu verantworten, wie sie etwa eine CSU nie durchführen würde. Nein, die Labour Party hat außer ihrer Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Europas kaum noch Gemeinsamkeiten zu einer sozialdemokratischen oder demokratisch sozialistischen Politik. Ein etablierter Außenpolitiker einer linken Partei wie bspw. Massimo D’Alema war offensichtlich vielen in Europa zu gefährlich.

Konservatismus und Neoliberalismus, Katholizismus und Adel, mit diesen beiden Personen wird nur die Politik fortgesetzt, die auch für die Entstehung des Lissabonvertrages kennzeichnend gewesen ist. Denn dieser Vertrag kann als ein Projekt der konservativen Eliten Europas charakterisiert werden. Er sorgt nicht für eine Beseitigung der demokratischen Defizite der EU (und schafft neue, z.B. dadurch, dass nur die Bürger Irlands über diese umbenannte EU-Verfassung abstimmen durften), er schafft Machtkonzentrationen, schreibt eine marktradikale  Wirtschafts- und Sozialpolitik mit weiteren Privatisierungen und Deregulierungen sowie eine Militarisierung und Aufrüstung fest und, schränkt Bürgerrechte ein.

Beide Personen haben aber noch etwas gemeinsam: sie gelten als weitgehend unbekannte und wenig profilierte Gesichter. Ashton hat zudem – auch nach eigener Bekundung – kaum Erfahrung auf dem Gebiet der Außenpolitik. Es kommt also die Frage auf, inwiefern sie sich gegen gestandene und einflussreiche Vertreter der EU-Staaten durchsetzen könnten. Tatsächlich wird es auch offen geäußert, dass die beiden sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner und die Kandidaten waren, die am wenigsten Konflikte zwischen den Regierungschefs auslösten. Man scheint Kandidaten gesucht zu haben, die den Vertretern der Nationalstaaten nicht die Show stehlen.

Jedoch muss dies aber – nun kommt die Überraschung – keinesfalls negativ gesehen werden. Den beiden neu geschaffenen Posten mangelt es an demokratischer politischer Legitimität. Die Bürger Europas haben auf sie und ihre Politik so gut wie keinen Einfluss, und auch die Parlamente haben diesen nicht. Ein einziges Treffen der Regierungschefs soll die Legitimation für deutlich umfassendere Kompetenzen und Machtressourcen als bisher darstellen? Dazu kommt, dass die Kompetenzen deutlich in nationale Politiken eingreifen, wie gesagt ohne dafür genügend demokratisch legitimiert zu sein. Die Ausweitung des Mehrheitsprinzips in der EU wird dazu führen, dass wenige vorwiegend konservative Politiker eine Macht über die Bürger und die demokratischen Institutionen sowohl der EU als auch ihrer Mitgliedsstaaten erhalten werden. Insofern sind zwei schwache Vetreter auf den beiden neu geschaffenen Posten das beste, was man sich wünschen kann. Eine Ausweitung der europäischen Integration auf weitere Politikfelder und eine handlungsfähigere Europäische Union sind durchaus wünschenswert – aber nicht, wenn diese derart undemokratisch und intransparent gestaltet ist wie im Vertrag von Lissabon.

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