Die Arbeit der Zukunft, die Zukunft der Arbeit (oder: wie Hierarchien schaden)

Zunächst ein Hinweis auf einen Podcast aus der Reihe “Zukunft jetzt: wie wir lernen, leben, arbeiten” von SWR2 Wissen: Aula (Dauer: 29 Minuten):

Arbeit 2.0 – Die Zukunft der Industriegesellschaft

Der relativ neue Begriff “New Economy” ist in der alten Welt angekommen. Doch was ist damit gemeint? Geht es um eine neue Wirtschaftsstruktur? Ja, denn dieser Begriff will deutlich machen, dass es in Wirtschaft und Gesellschaft verstärkt um immaterielle Werte geht, damit verlieren traditionelle Maßstäbe und ökonomische Regeln ihren Sinn. Es dominieren eben nicht mehr Rohstoffe, Kapital und Arbeit, sondern Kreativität, Ideen und Netzwerke. Ulrich Klotz, der sich beim Vorstand der IG-Metall lange mit der Digitalisierung beschäftigte, beschreibt die neue Arbeitswelt.

Die Arbeit der Zukunft werde laut Ulrich Klotz in vielen Bereichen wissensintensiver und anspruchsvoller, Routinetätigkeiten würden immer weniger entscheidend Er vertritt die These, dass diese neuen Formen der Arbeitsorganisation  Formen der hierarchischen und bürokratischen Autoritätsbeziehungen  und hierarchisch top-down-strukturierte Unternehmen und Organisationen veraltet, überflüssig und fortschrittshemmend machen. Hierarchien seien für wissensbasierte Arbeit ungeeignet, was er  recht gut verdeutlicht (hierarchische Systeme seien etwa daran Schuld, dass in Deutschland viele neue Ideen und Innovationen sich nicht durchsetzen konnten und Deutschland viele Entwicklungen im Bildungs- und Unternehmensbereich verschlafen habe).

Als Gegenbeispiel nennt Klotz bspw. Open-Source-Programme, deren Entwicklung ohne Hierarchien und ohne Herrschafts-Wissen organisiert ist. In diese Richtung müssten sich auch die Unternehmen ändern,  aber Deutschland sei dabei im Verzug. In unserem Bildungssystem werde Kreativität zu wenig gefördert.  Formelle Ausbildungsabschlüsse oder standardisierte Berufsbilder u. ä. würden in der Zukunft in vielen Feldern immer mehr an Bedeutung verlieren.

Meiner Meinung nach wäre es noch nötig, die autoritären Einstellungen, die in der Erziehung vermittelt werden und in der neokonservativen “Führungselite” in Wirtschaft, Politik, Bürokratie oder Medien vorherrschend sind und von ihr propagiert werden, zurückzufahren. Die Schulen lehren immer noch, Hierarchien zu achten, Befehle von in der Hierarchie höher gestellten auszuführen und nicht zu hinterfragen. Die Manager-Kaste lernt, dass diese Hierarchien gerechtfertigt und notwendig seien. Gerade die klassische Wirtschaftswissenschaft sollte sich hier aus alten  ideologischen Positionen befreien.

Natürlich hat so etwas viel mit der Geschichte und Kultur eines Landes zu tun. Nicht umsonst ist “der Deutsche” überall als besonders diszipliniert und autoritätshörig mit einer Vorliebe, Befehle von Höhergestellten auszuführen und an “Untergebene” zu erteilen, bekannt. Eineroffenen, demokratischen (und egalitären) Gesellschaft können solche Einstellungen nur schaden. Eine Gesellschaft, die harte körperliche Arbeit durch den technischen Fortschritt und Automatisierung immer mehr reduziert und kreative Arbeit unter Gleichen ohne hierarchische Machtstrukturen ermöglicht, würde viel mehr zu einem wirklichen Fortschritt unserer Gesellschaft beitragen.

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Die Kompromisse von Union und FDP zur Innenpolitik sind mit Vorsicht zu genießen

Bei der “Innen- und Sicherheitspolitik”, oder eher bei der Frage, ob/ wie man beim Aufbau des Überwachungsstaates und bei der Einschränkung der Bürgerrechte weiter verfahren will, haben sich Union und FDP nun in den Koalitionsverhandlungen geeinigt.

Zensursula: aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Bei den Internetsperren müsste das Motto nicht, wie die Medienstream-Medien (diesmal will ich ihnen mal mangelnde Fachkenntnis und nicht Böswilligkeit vorwerfen) titeln “Löschen statt sperren”, sondern wohl leider nur “Löschen vor sperren” heißen. Denn das BKA soll “zunächst versuchen”, Kinderpornoseiten zu löschen, nach einem Jahr sollen dann “die Erfahrungen ausgewertet werden”. Es soll dazu laut ODEM.blog einen “Anwendungserlass” der Bundesregierung geben, dass das BKA keine Sperrlisten erstellen darf (gültig für das Gesetz und für die Verträge mit den Betreibern; das Gesetz bleibt in Kraft, wird aber nicht angewendet). Der Rechtsanwalt Thomas Stadler weist aber darauf hin, dass die Internetsperren nun mal leider vom Bundestag als Gesetz beschlossen wurden, und eine Aussetzung der Anwendung durch das BKA (die Erstellung von Sperrlisten) mittels eines Regierungserlasses also “rechtsstaatlich äußerst fragwürdig” ist.

Eine Aufschiebung ist keine Aufhebung. Es geht darum, dass keine Infrastruktur installiert werden darf, die eine künftige Internetzensur ermöglichen könnte. Die Aussetzung des Netzsperren-Gesetzes ist sicher schon mal ein Erfolg und mit Sicherheit auch auf die enorme Aktivität der Netzcommunity zurückzuführen. Nur leider glaube ich, dass die FDP sich deren Ziele nicht wirklich zu eigen gemacht hat, sondern sich eher bei ihr anbiedern möchte. Falls das Gesetz nach dem einen Jahr dann doch aufgehoben werden sollte, wäre dies natürlich das beste, was wir uns erhoffen könnten. Ich hoffe also, dass ich mich hier in der FDP täusche.

Vorratsdatenspeicherung: alles wie gehabt

Die Nutzung der Daten aus der Vorratsdatenspeicherung solle künftig auf schwere Gefahrensituationen beschränkt, wird als Kompromiss der künftigen Koalitionäre gemeldet. Das Bundesverfassungsgericht hat aber bereits eine Beschränkung auf schwere Straftaten einstweilig angeordnet! Zudem lassen derartige Formulierungen wie “schwere” oder “konkrete” Gefahrensituationen immer viele Deutungen und Anwendungmöglichkeiten offen. Sie bilden nicht selten außerdem den Ausgangspunkt für eine schrittweise Ausweitung.

Hier ist also im Endeffekt gar kein Fortschritt erzielt worden. Der einzige Fortschritt ist dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken. Die Kommunikationsdaten aller Bundesbürger werden also auch zukünftig ohne jeden Verdacht gesammelt. Wäre die FDP eine Bürgerrechtspartei, hätte sie hier handeln müssen.

Online-Durchsuchungen: vom BKA zur Bundesanwaltschaft

Bei den Online-Durchsuchungen muss die Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (statt das BKA beim Amtsgericht Wiesbaden) einen Antrag stellen, der Verfassungsschutz darf sie nicht vornehmen.

Fefe weißt zurecht darauf hin, dass die Bundesanwaltschaft, die ja nicht grade für einen besonderen Hang zu den Bürgerrechten bekannt ist (Heiligendamm), derartige Anträge voraussichtliche wohl auch nicht zurückhaltend stellen wird. Wenigstens hat das Bundesverfassungsgericht auch hier strenge Regeln vorgegeben.

Fortschritt für die Bürgerrechte oder bloß PR?

Insgesamt zeigen sich die gefundenen Kompromisse als weniger weitreichend, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Die Frage der Internetsperren wurde zunächst aufgeschoben, bei den Online-Durchsuchungen hat sich wenig, bei der Vorratsdatenspeicherung gar nicht verbessert. Es fanden geringe Verbesserungen statt, aber diese musste man von einer sich “liberal” nennenden Partei erwarten und sie sind für die Schäuble-Fraktion in der Union leider keine große Zumutung geworden. Die Mittel zur Etablierung des Zensur- und Überwachungsstaates stehen bereit, und dass das Innenministerium und das BKA bereit sind, sie zu nutzen, haben sie oft genug demonstriert.

Der Kompromiss und seine mediale Inszenierung stellt sich insgesamt eher als eine PR-Aktion der FDP dar. (Ein Hang zum Populismus zeigt sich auch etwa bei der Verlängerung der Jugendhöchststrafe von 10 auf 15 Jahren.) Euphorie wäre also trotz einiger Fortschritte nicht unbedingt angebracht, man sollte die Ergebnisse sehr viel vorsichtiger interpretieren.

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Steuern runter? Lieber nicht!

Dass die Forderungen der FDP nach Steuersenkungen, insbesondere nach Senkung der Einkommenssteuer, wirtschaftlich nicht sinnvoll sind und dass Steuersenkungen auch nicht vollständig selbstfinanzierend sind, sondern der Staat Defizite macht, legt der Oxford-Finanzwissenschaftler Clemens Fuest im Deutschlandradio (MP3, 4:13 Minuten) dar. Statt Einkommenssteuersenkungen, die v.a. den reicheren Haushalten nützten, seien direkte Hilfen für ärmere Haushalte (bspw. durch eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze) bessere Mittel für die Förderung privaten Konsums. (Andere Ökonomen sehen Steuerentlastungen für Unternehmen, um Investitionen zu erleichtern, als sinnvoller an, aber auch sie sehen keinen großen Nutzen in der Senkung der Einkommenssteuern.)

Hier sei noch einmal auf das Interview der Taz mit Clemens Fuest verwiesen. Ein Auszug:

taz: Herr Fuest, Union und FDP begründen die geplanten Steuersenkungen damit, dass sie das Wirtschaftswachstum stimulieren müssten. Was halten Sie davon?
Clemens Fuest: Augenblicklich halte ich es für falsch, die Einkommensteuer zu senken. Denn ein großer Teil der Entlastung käme Privathaushalten zugute, die nicht unter Geldsorgen leiden. Diese würden die zusätzlichen Mittel überwiegend sparen, aber nicht in den Geschäften ausgeben. Wesentlich stärkere Nachfrage oder Impulse für das Wirtschaftswachstum kann die Bundesregierung so nicht auslösen.
(…)
taz: Union und FDP hoffen, dass niedrigere Steuern das Wachstum ankurbeln und später die Staatseinnahmen steigen. Darf man mit diesem Selbstfinanzierungseffekt rechnen?
Clemens Fuest: Die Auswirkungen niedrigerer Steuern auf das Wachstum sind schwer zu messen. Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass der Staat nur darauf hoffen kann, maximal die Hälfte der Einnahmeverluste, die die Steuersenkung verursacht, durch höheres Wachstum und stärkere Einnahmen zu kompensieren.

Wie Steuersenkungsprogramme in der Vergangenheit eher wirtschaftlichen Schaden anrichteten, legt Zeit Online Herdentrieb dar. Auch der “falsche Charme” des neoliberalen Standard-Argumentes der Laffer-Kurve, die Arthur Laffer, Vetreter der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und Berater von Ronald Reagan, einst  bei einem Abendessesn für Dick Cheney und Donald Rumsfeld auf eine Serviette kritzelte,  und die seither das Argument für eine Selbstfinanzierung von Steuersenkungen dartsellt, wird in dem Artikel behandelt.

Eine gute Betrachrung zu den Möglichkeiten von Steuersenkungen gibt es auch bei Telepolis: Wählerbetrug vorprogrammiert. Auch hier wird die Laffer-Kurve angesprochen, z.B.:

(…) Wenn die FDP mit ihren Behauptungen recht hätte, so befände sich das deutsche Steuersystem oberhalb des “Laffer-Maximums”, so dass jede Steuererhöhung die Einnahmen verringern und jede Steuersenkung die Einnahmen erhöhen würde. Dies trifft auf das deutsche Steuersystem allerdings nicht zu. Untersuchungen der Ökonomen Trabant und Uhlig legen vielmehr die Vermutung nahe, dass das “Laffer-Maximum” in Deutschland bei rund 64% Steuerlast liegt. (…)

Es wäre daher gut daran getan, wenn die Beteiligten bei den Koalitionsverhandlungen einmal auf unabhängigen Sachverstand hören würden und nicht weiterhin nur auf die durch die Mainstream-Medien hin- und hergereichten “Wirtschaftsexperten” im Dienste der Arbeitgeberverbände und Banken. Versprechungen wie “Steuern runter!” oder “Mehr Brutto vom Netto!” erweisen sich so eher als hohle Slogans denn als politisch und ökonomisch durchdachte Konzepte.

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Wahlbetrug in grün, die Zweite

Die saarländischen Grünen haben sich für Koalitionsgespräche mit CDU und FDP und gegen ebenso mögliche mit SPD und der Linken entschlossen.  Mit 117 zu 32 Stimmen haben die Parteitagsdelegierten die Entscheidung des Vorstandes abgenickt („sind den Empfehlungen des Vorstandes gefolgt”).

Dass man politisch etwa mehr von grünen Zielen mit schwarz-gelb als mit rot-rot durchsetzen könne, erscheint geradezu grotesk. Und es spricht auch für sich, dass eine ähnliche Begründung gar nicht erst zu liefern versucht wird. In Wahrheit verspricht man sich wohl eher, dass machtpolitisch mehr dabei herauskommt. Wie wenig die Entscheidung mit Inhalten zu tun hat, zeigt auch, dass sich der örtliche Parteichef Ulrich nicht mit Linken-Parteichef Lafontaine an der Saar klarkommt. Und wie er versucht, die „Schuld“ jetzt tatsächlich auf die Linken zu schieben, ist erbärmlich. Er habe zu „diesem Mann [Lafontaine] und dieser Partei kein Vertrauen, lautete nämlich Ulrichs Begründung auf dem Parteitag, keine rot-rot-grüne Koalition bilden zu wollen, und er machte Lafontaine als den „Hauptschuldigen“ aus. Ein Projekt der politischen Reinwaschung mit der Begründung einer „Unzuverlässigkeit der Linken“, dass ähnlich verlogen ist wie bei Matschie in Thüringen (vgl dazu: Thüringen: Linke vs. SPD – Ramelow: “SPD-Chef Matschie lügt”).

Es geht also wie derzeit in Thüringen im Saaraland primär um Machtkämpfe und Postengeschacher, um persönliche Fehden und Animositäten, und um die Eitelkeit von „Führungspolitikern“, diese nicht für die Sache beizulegen und über den Wählerwillen zu stellen. Selbst Parteichef und Realo Özdemir gibt zu: „Offenbar waren neben den programmatischen auch persönliche Gründe wichtig.”

Und noch etwas kommt hinzu: viele der grünen Parteifunktionäre bis hin zu Renate Künast, sehen sich nicht als Teil der politischen Linken und vertreten wirtschafts- und sozialpolitisch Positionen, die auch nahe an denen von CDU und FDP sind. So jubelt auch der saarländische Grünen-Vorsitzende Ulrich, dass die neue Koalition den Grünen die Möglichkeit biete, sich nicht automatisch in ein linkes Lager einordnen zu lassen.  Diese Positionierung aber erfolgt in einem Gegensatz zu dem größten Teil ihrer Anhänger, ihrer Wähler und ihrer Mitglieder an der Basis. Für die begehrten Posten und Pfründe sind die Funktionäre dann sowohl bereit, den Wählerwillen zu übergehen als auch mit grünen Werten zu brechen. Selbst in der noch am meisten basisdemokratisch und am wenigsten autoritär organisierten Partei in Deutschland geschieht so etwas.

Wie schon in Hamburg folgt auf die Ankündigung eines Politikwechsels eine Anbiederung an die regierende CDU. Als „politisch unflexibel“ bekannt waren die Grünen ja noch nie. Geht es um das Mittragen und später massive Unterstützen der Agenda-Politik oder um Militäreinsätze im Ausland – grüne Positionen sind dort kaum mehr zu erkennen. Und erinnern wir uns: in Hamburg haben sie ja nicht mal ein grünes Minimalziel, dass keine neuen Kohlekraftwerke gebaut werden sollen, durchsetzen können. Und auch im Saarland werden die Grünen sich auf lange Sicht nicht gegen eine neoliberale Einheitsfront aus schwarz und gelb als sozialer oder ökologischer Korrekturfaktor oder ähnliches durchsetzen können, machen wir uns keine Illusionen. Die Zugeständnisse bei der Bildungspolitik sind doch eher als Feigenblatt zu sehen.

Die Grünen werden immer mehr zu der Partei, die die FDP mal war: das Fähnchen im Wind, dass sich opportunistisch an die jeweils Machthabenden annähert. Und die Parteispitze wird sich immer mehr von ihren Mitgliedern entfernen. Wie in anderen Parteien vorher.

Lesenswerte Kommentare zum Thema bisher:

F!XMBR: Die Wahlbetrüger von der Saar

Kommentar vom Deutschlandfunk (MP3)

Erklärung des SPD-Landesvoritzenden Maas

UPDATE:

Feynsinn: Jamaica say “I will”

Der Freitag: Hellsichtiger Buhmann

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Die neue Bundesregierung: Wo wir auf die FDP hoffen müssen

Wirtschaft, Arbeit und Soziales: Hoffen auf die Union

Ich habe in letzter Zeit ziemlich negativ über die FDP geschrieben. In der Tat ist die FDP nicht unbedingt die Partei, die mir wirtschafts- und sozialpolitisch am nächsten steht. Ich sehe mich als Anhänger  einer nachfrageorientierten und keynesianischen Wirtschaftspolitik und eines starken Sozialstaates nach dem Vorbild des “skandinavischen” (auch: “sozialdemokratischen”) Modells, das eine starke umverteilende Komponente beinhaltet.  Die meisten wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Konzepte der FDP lehne ich daher ab, und auch das “Bürgergeld”-Konzept ist in der Tat bloß Augenwischerei (Financial Times Deutschland) und eine Mogelpackung (heise Telepolis).

Dies ist daher auch das Gebiet, wo die Union meiner Meinung nach sozial ausgleichend tätig werden muss. Und die meisten Beobachter sind sich auch einig, dass diese aus wahltaktischen Gründen einen sozialpolitischen Kahlschlag verhindern und vielleicht sogar einige Beschlüsse der Großen Koalition (Mindestlöhne in bestimmten Branchen) nicht unangetastet lassen könnte. Dennoch ist mit Streichungen von sozialen Leistungen zweifelsohne zu rechnen, wodurch die sozial Schwächsten für die Kosten der Wirtschaftskrise aufkommen müssen.

Steuerpolitik: Absenkung des Mittelstandsbauchs

Gibt es aber dennoch Punkte, wo die FDP vielleicht sachlich sinnvolle Konzepte hat? Im Bereich der Steuerpolitik ist eine Senkung der Steuerlast sicher keine, v.a. in Zeiten einer Wirtschaftskrise, durchführbare Maßnahme. Und sie scheint auch ökonomisch wenig sinnvoll:

taz: Herr Fuest, Union und FDP begründen die geplanten Steuersenkungen damit, dass sie das Wirtschaftswachstum stimulieren müssten. Was halten Sie davon?
Clemens Fuest: Augenblicklich halte ich es für falsch, die Einkommensteuer zu senken. Denn ein großer Teil der Entlastung käme Privathaushalten zugute, die nicht unter Geldsorgen leiden. Diese würden die zusätzlichen Mittel überwiegend sparen, aber nicht in den Geschäften ausgeben. Wesentlich stärkere Nachfrage oder Impulse für das Wirtschaftswachstum kann die Bundesregierung so nicht auslösen.
(…)
taz: Union und FDP hoffen, dass niedrigere Steuern das Wachstum ankurbeln und später die Staatseinnahmen steigen. Darf man mit diesem Selbstfinanzierungseffekt rechnen?
Clemens Fuest: Die Auswirkungen niedrigerer Steuern auf das Wachstum sind schwer zu messen. Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass der Staat nur darauf hoffen kann, maximal die Hälfte der Einnahmeverluste, die die Steuersenkung verursacht, durch höheres Wachstum und stärkere Einnahmen zu kompensieren.

(Quelle) (via: lowestfrequency)

Jedoch gibt es ein steuerpolitisches Konzept, das durchaus sinnvoll erscheint:  eine Absenkung/ Abflachung des Steuerbauchs („Mittelstandsbauch“). Dieser beschreibt das Phänomen, dass die Progression beim Steuersatz nicht immer genau linear verläuft, sondern niedrigere und mittlere Einkommen stärker belastet werden, da der Steuersatz zuerst (zwischen 7.834 Euro und 13.140) stärker, dann (zwischen 13.140 und 52.552 Euro) schwächer ansteigt (vgl. Grafik). Ein durchgehender und gleichmäßiger linearer Anstieg, der  kleine und mittlere Einkommen entlastet, wäre durchaus zu befürworten.
[Worauf ich persönlich mich auch einlassen könnte, wäre eine Anhebung der Anrechungsgrenze des bisherigen Spitzensteuersatzes (42%, ab 250.401 Euro für Ledige bzw. 500.802 Euro für Verheiratete 45%), dass er alo erst ab einem höheren Betrag als derzeit 52.552 Euro gilt (wenn der Steuersatz danach, bei höheren Einkommen als 52.552 Euro, weiter steigen würde – sagen wir z.B. bis zum Satz von 53%: dieser galt zum Ende der Kohl-Regierung). Dies liegt aber weit fernab der derzeitigen FDP-Politik und den Interessen ihrer Klientel.]

Historie_Einkommensteuer_D_Grenzsteuersatz
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cb/Historie_Einkommensteuer_D_Grenzsteuersatz.jpg

Abbau der Bürgerrechte und Aufbau des Überwachungsstaates: Hoffen auf die FDP

Hier liegt die größte Hoffnung auf der FDP: es muss Schluss sein mit dem unsäglichen Abbau der Bürgerrechte und mit der Etablierung eines immer weiter reichenden Überwachungsstaates. Diese Politik wurde nach dem 11.9.2001 unter Otto Schily begonnen und unter Wolfgang Schäuble stark verschärft. Gerade die Person Wolfgang Schäuble, der mit Vorschlägen wie denen, die Unschuldsvermutung für “Terrorverdächtige” aufzuheben  “Gefährder” zu internieren und anderen Überraschungen für Anhänger des Grundgesetzes, immer wieder die Grenzen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Menschenrechte auszuloten versucht, kann eigentlich für eine liberale Partei als nicht tragbar erscheinen. Als ein Beispiel der paranoiden Innenpolitik sei hier nur die Vorratsdatenspeicherung, in der alle Telekommunikationsverbindungsdaten aller Deutschen für 6 Monate verdachtsunabhängig gespeichert werden, genannt (siehe dazu auch: Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung: “FDP muss Vorratsdatenspeicherung jetzt abschaffen!”).

Ein weiteres Thema ist die Etablierung einer Zensurinfrastruktur für das Internet, die unter dem Vorwand der Bekämpfung von Kinderpornografie beschlossen wurde. Falls die FDP es wirklich schaffen sollte, dieses völlig unsinnige, unwirksame und teilweise kontraproduktive Gesetz, welches weder einer hinreichenden rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegt noch die Möglichkeit einer Ausweitung von Zensursulas Stopp-Schildern ausschließt, zu stoppen, wäre ihr in der Tat großer Respekt zu zollen.

Ein starker Einfluss der FDP im Innen- und Justizministerium liegt also eindeutig in unserem Interesse. In der FDP gibt es in diesem Bereich leider nur noch wenige Politiker wie etwa Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Max Stadler, mit einem ausgeprägten Profil, einem Schwerpunkt und großen Kompetenzen im Bereich der Bürgerrechte. Doch gerade hier hat die FDP wieder eine Chance, sich als etwas anderes als die reine “Steuersenkungspartei” zu zeigen und zu etablieren.

Gesellschaftspolitische Bereiche als Opfer des Koalitionspokers?

Es gibt auch noch andere politische Bereiche, in denen die Positionen der FDP sicherlich sehr viel wünschenswerter erscheinen als die der Union. Dazu würde es gehören, weg vom dem konservativen Bild in der Familienpolitik der Union zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft zu kommen. Auch im Bereich der Integration oder des Verhältnisses der Religionen vertritt die FDP sicherlich sehr viel offenere Standpunkte als viele doch eher rechtskonservative vorurteilsbehaftete Unions-Funktionäre und -Mitglieder. Die Abschaffung der Wehrpflicht wäre ein anderes Beispiel.

Leider ist dieser gesellschaftspolitische Bereich, ebenso wie der vorher skizzierte der Bürgerrechte, zusehend aus dem Fokus der FDP geraten. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet dort doch deutlich die Steuer- und Wirtschaftspolitik. Lobenswerte gesellschaftspolitische Positionen der FDP unterliegen so leider der Gefahr, Opfer des Koalitionspokers zu werden.

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Die Springer-Presse im Oktober 2009: Presserat, SPD und Sarrazin

BILDBlog zeigt, womit sich der Deutsche Presserat im Jahr 2008 bei der Bild beschäftigt hat – wie zu erwarten wieder jedesmal ohne faktische Konsequenzen. So geht es z.B. um einen Versuch, eine der wutschnaubenden Hasstiraden von Franz Josef Wagner zu verstehen.

Die NachDenkSeiten veranschaulichen, wie die Springer-Presse und außerdem Spiegel und Süddeutsche versuchen, die SPD auf den “rechten Weg” zu trimmen. So warnt Steinmeier in der Springer-Presse davor, sich nur um soziale Gerechtigkeit, also um die sozial Schwachen, um die „Resignierten und Abgehängten“, zu kümmern. Die SPD würde dann absinken zur „Klientelpartei“. Ein toller “Oppositionsführer”, nicht wahr …?

Besonders ekelhaft aber sind Versuche der Bild (kuckt euch mal den Artikel bis zum Ende an – der beginnt harmlos/ sich kritisch-ausgewogen gebend, um dann richtig loszulegen), aus den widerlichen Lügen des Thilo Sarrazin “lang geschönte Wahrheiten” zu machen, die Sarrazin endlich “offen ausspreche” (was auch 87% von 34.000 Teilnehmern einer Bild.de-Umfrage glauben). Da dürfen dann auch mal prominente Botschafter der Versöhnung wie Arnulf Baring, Hendryk M. Broder oder Ralph Giordano gegen “Zuwanderer aus der Türkei und dem arabischen Raum”, die “politische Korrektheit”, die “Gutmenschen”, “Multikulti-Illusionisten” oder “Umarmer vom Dienst, Sozialromantiker und Beschwichtigungsapostel” ätzen.

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Entwicklungspolitik ohne Entwicklungsministerium?

Bei den Koalitionsverhandlung zur neuen deutschen Bundesregierung steht neben dem Abbau von Steuern, Sozialstaat und Bürgerrechten leider noch ein Punkt auf der Agenda: die FDP fordert die Auflösung des Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Seine Aufgaben soll fortan das Außenministerium mit übernehmen.

Diese Forderung geht durchaus konkruent mit dem neoliberalen Gedankengut und den Äußerungen Westerwelles zur Entwicklungspolitik, dass diese in erster Linie eigenen (in diesem Fall deutschen) Interessen dienen solle. Auch wurde die Auflösung des Entwicklungsministeriums von der FDP vor der Wahl explizit gefordert.

Eine Auflösung des BMZ und eine “Eingliederung” in ein von einem Neoliberalen geführtes Außenministerium wäre aber nicht nur ein falsches Signal, sondern auch politisch ein falscher Schritt. Bei der Außenpolitik geht es in der Tat in erster Linie um nationalstaatliche Interessen. Bei der Entwicklungspolitik sollte das jedoch anders sein. Auch in den Jahren, in denen dass  BMZ von Unions-Ministern geführt wurde, verfolgte es zum Glück nie eine dermaßen egoistische Poltik, wie die Neoliberalen dies sich vorstellen und wünschen. Entwicklungspolitik entspringt aus einer Einsicht für soziale Verantwortung, auch weltweit, für die Bekämpfung von Armut und Hunger, und nicht nur aus dem Interesse, möglichst wenige Flüchtlinge aus Entwicklungsländern zu haben und diese ungestört ausbeuten zu können.

Ein weiterer Punkt: Nicht umsonst trägt das Ministerium “wirtschaftliche Zusammenarbeit” im Titel. Diese macht einen wichtigen Teil der Arbeit aus, wirtschafts- und finanzpolitischer Sachverstand sind gefordert (und ob da die doch eher auf diplomatischem Gebiet liegenden Qualitäten im Auswärtigen Amt ausreichen, möchte ich eher bezweifeln). Gerade eine Verknüpfung von Diplomatie, wirtschaftlichem und technischem Sachverstand stellte jedoch immer eine Stärke des BMZ dar. Die (eigenständige) Struktur des BMZ bietet praktisch gesehen große Vorteile.

Das BMZ muss als eigenständiges Ressort erhalten bleiben. Es ist kein Wunder,  dass Entwicklungspolitik-Experten von CDU, CSU und SPD, der Linken und der Grünen, Entwicklungsorganisationen und Hilfswerke wie VENRO, Misereor, “Brot für die Welt” und der Evangelische Entwicklungsdienst oder die Kirchen in einer Abschaffung verherrende Wirkungen sehen. Und mehr noch: Deutschland muss endlich seine internationale Zusage einhalten, 0.7% des BIP für die Entwicklungspolitik zur Verfügung zu stellen. Für die Besetzung müssen wir in diesem Politikfeld wohl auf einen Unions-Politiker hoffen, und zwar einen mit einem ausgeprägten sozialen Profil – auch wenn es davon immer weniger gibt. Der FDP wäre gut geraten, diesen Politikbereich, der weder ihren Interessen- noch in ihrem Kompetenzschwerpunkt bildet der Union zu überlassen, und sich mehr auf wahre liberale Stärken zu besinnen: den Stop der unsäglichen Überwachungsstaatsmaßnahmen der Union.

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Todesstrafe und Sozialdarwinismus

Bei SWR2 Leben gibt es einen interessanten Podcast: Der Tod als Strafe (MP3) (Alternativlink):

Was tut archaisches Recht in einer Demokratie des 21. Jahrhunderts?

Von Lotta Suter. SWR2Leben vom 01.10.2009.

Die USA haben den alttestamentarischen Rachegedanken “Auge um Auge” ins neue Jahrtausend hinübergenommen. Die öffentliche Meinung zum Thema Todesstrafe ist geteilt. Als 15. US-Bundesstaat hat New Mexico die Todesstrafe aufgehoben. Im Neuenglandstaat New Hampshire jedoch, wo die letzte Exekution 70 Jahre zurückliegt, wird gegenwärtig der Bau einer Exekutionskammer diskutiert, um die “ultimative Strafe” an einem einzigen Täter vollstrecken zu können. An der öffentlichen Anhörung debattieren Befürworter und Gegner die Todesstrafe nach allen Regeln der Demokratie.

Der Podcast dauert etwa 24 Minuten.

Das Manuskript der Sendung gibt es hier als pdf.

Besonders gut fand ich den folgenden Abschnitt:

Die meisten westlichen Demokratien betrachten die Abschaffung der Todesstrafe heute als einen der wichtigsten und wertvollsten Zivilisations- und Kulturalisierungsfortschritte. Die USA sind noch nicht ganz so weit.
Noch hält die Nation an der Idee einer absoluten Gerechtigkeit fest und ist überzeugt, dass man das Böse eindeutig identifizieren, vom Guten trennen und ein für allemal eliminieren kann. Der biblische Rat, man solle das schlechte Glied abhauen, um den gesunden Leib zu retten, bestimmt und korrumpiert die amerikanische Gesellschaft. Im Innern der USA führt diese Haltung zu einer gnadenlosen Sozialpolitik gegenüber den Armen und einer rekordverdächtigen Inhaftierungsrate von unerwünschten Menschen. In der Außenpolitik wird der Feind mit allen Mitteln, auch mit Krieg und Folter, unschädlich gemacht.
Die Todesstrafe dient der Elimination des Bösen. Wobei unverzüglich klar wird, dass dieses Böse stets das ganz Andere ist: Die andere Rasse, die andere soziale Klasse, der krankhafte Psychopath. Es ist kein Zufall, dass die Todesstrafe in Kriegszeiten heute sogar in der EU, im Lissabon Vertrag, wieder zur Debatte steht; denn im Krieg ist die Entmenschlichung des feindlichen Andern am weitesten fortgeschritten. Leider verstehen sich die USA ständig als eine Nation im Ausnahmezustand, wenn nicht gar im akuten Krieg. Die Abschaffung der Todesstrafe wäre in diesem Sinn eine friedenssichernde Maßnahme.

Und auch in Deutschland gibt es Versuche, sozialdarwinistische Auffassungen wieder zu verbreiten: Thilo Sarrazin und der Neuaufguss des Sozialdarwinismus.

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Petition gegen Hartz IV-Sanktionen

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Unter dem Existenzminimum versteht man die Mittel, die zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse notwendig sind, um physisch zu überleben; dies sind vor allem Nahrung, Kleidung, Wohnung und eine medizinische  Notfallversorgung (wikipedia).

Eben dieses Existenzminimum wird aber als gefährdet betrachtet für die Bezieher des Arbeitslosengeldes II, gegen die seitens der Jobcenter Sanktionen verhängt werden. Im Zuge der sogenannten “Hartz IV”-Gesetze ist es möglich, gegen ALG II- Bezieher bei bestimmten Versäumnissen Sanktionen nach §31 SGB zu verhängen. Dies geschah allein im Jahr 2008 789.000 mal. So kann, wer etwa eine  „zumutbare“ (also so gut wie jede) Arbeit oder einen Ein-Euro-Job ablehnt oder wer ein Bewerbungstraining versäumt, mit einer Leistungskürzung um 30% für 3 Monate bestraft werden, bei Wiederholung bis zu 100%. 100% einer Leistung, die das Existenzminimum darstellen soll. Leistungen, die das Existenzminimum darstellen, können also komplett gestrichen werden. Erwachsenen unter 25 Jahren wird häufig schon bei der ersten „Pflichtverletzung“ der Regelsatz komplett gestrichen, beim zweiten mal die Unterkunftskosten (2008 gab es das 97.000 mal). Die legale Rechtmäßigkeit der Sanktionen darf unterdessen angezweifelt werden: 41% der Widersprüche und 65% der Klagen vor Gericht waren ganz oder zumindest teilweise erfolgreich. (Siehe auch: In Deutschland muss niemand hungern! Oder doch?)

Nun läuft beim Deutschen Bundestag noch bis zum 28.10. eine Online-Petition, die sich gegen diese zutiefst unsozialen und meiner Meinung nach menschenverachtenden Praktiken, die zu Obdachlosigkeit und Armut, ja sogar zu Hunger in einem der reichsten Länder der Welt führt, ausspricht:

Petition: Arbeitslosengeld II – Abschaffung der Sanktionen nach § 31 SGB II vom 20.08.2009

Text der Petition

Der Deutsche Bundestag möge beschließen … sofort die Sanktionen nach § 31 SGB II abzuschaffen.

Begründung

Begründung: § 31 SGB II verletzt die Menschenwürde und die Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit und wandelt die gebotenen Hilfestellungen des Staates zu Zwangsmaßnahmen um. Abzüge vom absoluten Lebensminimum können nur durch Hungern kompensiert werden. Die Sanktionierung mit Hunger oder mit gesellschaftlicher Ausgrenzung steht auf derselben Stufe wie die Sanktionierung durch unmittelbare staatliche Gewalt.

Außerdem gibt es ein Bündnis für ein Sanktionsmoratorium von Politikern, Gewerkschaften und verschiedenen Initiativen, bei der man für eine Aussetzung der Sanktionen unterschreiben kann.

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Und es hat sich im Netz eine Unterstützer-Initiative gebildet: Sanktionen wegbloggen! Blogger gegen Hartz IV-Sanktionen. Falls ihr ein Blog habt, schaut doch bitte mal, ob ihr diese unterstützen wollt.

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Der Vertrag von Lissabon: Gründe für eine Ablehnung

Gegen Lissabon heißt nicht gegen die EU

Nun haben also die Bürger Irlands sich im einem zweiten Referendum doch für die Annahme des EU-Vertags von Lissabon ausgesprochen. Auch wenn man den europäischen Einigungsprozess und auch ein wirtschaftliches Zusammenwachsen der europäischen Staaten befürwortet, kann man durchaus gegen den Vertrag von Lissabon sein. Man braucht weder ein Nationalist noch ein Kommunist zu sein, der jede Förderung eines marktbasierten Wirtschaftssystems von vornherein ablehnt. Und das nicht nur Vorurteile und Ressentiments, wie es oft dargestellt wird, sondern durchaus auch rationale Gründe gegen den Vertrag von Lissabon sprechen, soll im folgenden Beitrag erläutert werden.

Eine Verfassung für die Bürger ohne die Bürger?

Die ursprünglich geplante Verfassung für Europa wurde in  repräsentativen Umfragen von einer Mehrheit der europäischen Bürger nicht befürwortet – und von den Bürgern Frankreichs und der Niederlande in Volksabstimmungen abgelehnt. In Deutschland wurde eine solche gar nicht erst durchgeführt – obwohl Art. 146 GG ausdrücklich sagt:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Die EU-Verfassung ist also gescheitert, könnte man denken. Ist sie das? Nein, denn im Umgang der politischen Eliten mit dem Votum des Volkes zeigt sich wieder, was erstere von letzterem halten. Kriegt man keine “EU-Verfassung” auf dem direkten Weg, führt man sie durch die Hintertür ein. Im Grundlagen-Vertrag für die EU von Lissabon sind 96% des Textes derselbe wie in der abgelehnten Verfassung. Nur bietet er den Komfort, nicht erst das Volk darüber abstimmen lassen zu müssen. Nur Irland hat dies getan, nur die Iren durften über eine EU-Verfassung ohne diesen Titel abstimmen. Am 12. Juni 2008 lehnten sie den Lissabon-Vertrag ab.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte für Deutschland, dass der Vertrag von Lissabon zwar mit dem Grundgesetz vereinbar sei, dass es aber Begleitgesetze verfassungswidrig sind, soweit den Gesetzgebungsorganen keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurde, es keine demokratisch nicht legitimierte Zustimmung Deutschlands zu EU-Gesetzen geben dürfe, die die nationale Souveränität betreffen, die Kompetenzen der EU erweitern oder die Abstimmungsmodalitäten ändern.

Demokratiedefizite

Europa soll mit einer Stimme sprechen, wird immer wieder gefordert. Doch das dann lieber nicht mittels einer europäischen Demokratie oder wirklichen Beteiligungsrechten des Europäischen Parlamentes (oder gar der Bürger Europas). Auch wenn das Europäische Parlament im Lissabon-Vertrag etwas aufgewertet wird, wirkt es immer noch wie die Simulation einer Volksvertretung in einem autokratischen Staat. Die Kommission ist weiter nur indirekt demokratisch legitimiert, und  sie trifft als Exekutive legislative Entscheidungen.

Nein, man  möchte lieber eine starke Stimme mittels eines “starken Mannes”, mittels einer höheren Konzentration von Macht und Autorität in weniger Händen (auch die Verkleinerung der EU-Kommission und anderer Institutionen wird immer wieder mit der “Handlungsfähigkeit” begründet, stellt aber tatsächlich auch eine Verkleinerung der Entscheidungsbasis dar – so dass manche kleineren Länder in manchen Bereichen sogar gar nicht mehr mitsprechen dürfen). Diese offenbar bei den europäischen Konservativen vorhandene Sehnsucht nach autoritärerer Politik will man mittels der Stärkung des Ratspräsidenten und der Schaffung des Amtes eines Europäischen Außenministers durchsetzen. Auch wenn man ein entschiedener Befürworter eines stärkeren politischen Zusammenwachsens Europas ist: die Außen- und Sicherheitspolitik ist das Kerngebiet staatlicher Selbstbestimmung, und das nicht ohne guten Grund: hier geht es um Krieg und Frieden. Man stelle sich nur vor, Deutschland müsste aufgrund eines Mehrheitsvotums in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – sagen wir einmal der USA – ziehen.

Dem i das Tüpfelchen setzt noch auf, dass die europäischen Eliten mit dem Vertrag von Lissabon die Demokratisierung der EU als abgeschlossen betrachten wollen. Ein Europa, in dem Entscheidungen auf transparentem Wege über ein demokratisches Parlamentsverfahren und über Volksabstimmungen getroffen werden, mit so einem Europa könnten sich sicherlich deutlich mehr Europäer identifizieren. Doch der Lissabon-Vertrag läuft eher in die entgegengesetzte Richtung.

Aufrüstung und Militarisierung

Der Vertrag von Lissabon verpflichtet die Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung.  Auch dass er die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht anstelle, sondern zusätzlich zu der nationalen fördern will, kann kritisch betrachtet werden. Militärische Mittel werden gegenüber zivilen überbetont. Unbedingt betrachtet werden sollte dabei auch eine Studie des EU Institute for Security Studies: What ambitions for Europeans defence in 2020?, in der ein internationaler, auch militärisch und “mittels des gesamten Spektrums hoch intensiver Kampfmaßnahmen“ geführter Klassenkampf des reichen Nordens gegen die “unterste Milliarde” der Menschen des armen Südens zur Stabilisierung der internationalen Klassengesellschaft gefordert wird (siehe: Krieg gegen die Armen). Menschen, die so denken, darf man nicht die Macht über einen großen Militärapperat übertragen.

Bürger- und Menschenrechte

Die EU-Verfassung erlaubt staatliche Hinrichtungen und Tötungen von Menschen in einem Kriegszustand  oder zur Niederschlagung eines Aufruhrs. Auch wenn diese Regel rechtlich für viele Staaten, u.a. auch für Deutschland nicht gilt, gilt sie doch für andere und zeigt, aus welchem Geist dieser Vertrag gemacht ist. Bei den Menschen- und Bürgerrechten fällt der Vertrag nach Meinungen einiger Kritiker deutlich hinter  das Grundgesetz und sogar hinter die UN-Menschenrechtserklärung zurück.

Problematisch erscheint auch die Rolle der EU im Gebiet der inneren Sicherheit. Verschiedene Maßnahmen  hin zum Überwachungsstaate wurden als Maßnahmen zur Terrorabwehr über Europa eingeführt. Die Vorratsdatenspeicherung etwa wurde über den Umweg über die EU in Deutschland umgesetzt – und als “Sachzwang” verkauft.

Freier Markt über alles

Im Vertrag von Lissabon wird die freie Marktwirtschaft festgeschrieben. Auch wenn sich auch Formulierungen zur “soziale Marktwirtschaft” finden: diese verfolgt nach eigenen Angaben auch die FDP. Was dahinter steckt, ist klar: die Privatisierungs- und Deregulierungswelle, die von der EU in der Vergangenheit angestoßen wurde, soll fortgesetzt werden, die Staaten weiter auf Sozialabbau und Einschränkung von Leistungen der öffentlichen Daseinsfürsorge gedrängt werden.

Und ein weiteres Problem stellt sich: im deutschen Grundgesetz ist bewusst die Frage nach der Wirtschaftsform außen vor gelassen. Diese wollten die “Väter des Grundgesetzes” der demokratischen politischen Auseinandersetzung überlassen. Eine Festschreibung einer Wirtschaftsform in der Verfassung (auch wenn diese nicht so genannt wird) bedeutet ein weniger an Demokratie.

Das Ja Irlands: “Wer für die EU ist, ist für Lissabon”

Die Iren haben den Vertrag von Lissabon beim ersten mal teilweise vielleicht auch aus falschen Gründen abgelehnt. Jedoch spielten auch einige der hier genannten eine Rolle.

Wie kann man die jetzige Zustimmung erklären? Zunächst lief seit der Ablehnung im Juli letzten Jahres eine groß aufgelegte Kampagne über Lobbyisten,  Medien und Parteipolitiker an, die weniger an Argumente, denn an Gefühle, v.a. an Ängste, anknüpfte (wobei ich nicht sagen möchte, dass Kampagnen zur Ablehnung des Vertrages nicht bestanden und diese nur auf Argumenten beruhten – auch dort spielten irrationale Ängste eine Rolle). V.a. die Auswirkungen der Finanzkrise, die durch EU-Hilfsmittel stark abgemildert wurden und das Land vor stärkeren Verwerfungen bewahrten, wirkten sich aber positiv aus. Verbunden mit einer Propaganda nach dem Motto “wenn ihr nicht gegen die EU seid, müsst ihr für den Vertrag stimmen”  oder “eine Stimme gegen den Vertrag ist eine Stimme gegen EU-Hilfen” dürfte diese bei der Zustimmung zum Vertrag die größte Rolle gespielt haben.

Der Vertrag von Lissabon als Projekt der konservativen Eliten Europas

Der Vertrag von Lissabon hebt Demokratiedefizite der EU nicht auf, sondern schafft, allein schon durch die fehlende Zustimmung der Bürger Europas, neue. Er lässt Trends zu einer neoliberalen Wirtshhafts- und Sozialpolitik, zur Militarisierung und zum Abbau von Bürgerrechten erkennen. Insgesamt muss er als ein Projekt der konservativen Eliten Europas angesehen werden – seit Samstag zudem als erfolgreiches.

Der konservative und neoliberale Wind aus Europa wird sich verstärken – was jedoch nicht bedeutet, dass man die EU jetzt ablehnen muss. Die EU ist eine großartige Idee, die auch in weiten Teilden sehr positiv verlaufen ist. Heute bedürfen wir jedoch mehr denn je einer kritischen Gegenöffentlichkeit und einer Zivilgesellschaft – und einer Schwächung der Konservativen in Europas Parlamenten und Regierungen. Damit sie die Mittel nicht ausnutzen können, die ihnen der Vertrag von Lissabon bietet.

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