Ein Gastbeitrag von Matthias Bohlen
Ja, wozu eigentlich? Nicht, dass es  nicht schön wäre, mal was zu wissen, aber der Hessen-Koch kommt doch auch ohne aus. Keine  Ahnung, was das mit Zukunftssicherheit zu tun haben soll, aber wenn man  schon an Grundfesten rüttelt, warum nicht mal darüber nachdenken, warum  die Bildung eigentlich so wichtig ist? Ja, warum brauchen wir  eigentlich Bildung?
Klar, für den Einzelnen ist Bildung  wichtig, wenn Aufstiegschancen erworben werden sollen. Aber warum muss  der Staat für Bildung sorgen? Sicher nicht, weil das Konstrukt aller  Bürger so explizit menschenfreundlich ist – ob es das ist, liegt  schließlich an den Mitgliedern. Doch ist es für den deutschen oder  jeglichen Industriestaat damit getan, Bildung zu fördern, um die  bisherige Vormachtstellung und den technischen Vorsprung zu halten? Sind  es lediglich ökonomische Gründe?
Das Problem der gegenwärtigen  Bildung ist, dass keiner weiß, sich darüber auch nur ansatzweise im  Klaren ist, warum sie wichtig ist – und genau das entwertet sie. Bildung  ist nicht wichtig um ihrer selbst willen. Bildung bietet die Fähigkeit  zum Problemlösen. Deshalb brauchen wir eine kreative Bildung. Keine  Schmalspur-Wissenschaft, sondern breit ausgebildete Akademiker, die über  den Tellerrand schauen, die ihre Potentiale in Gänze nutzen.
Natürlich könnte man heute sagen, wir  hätten doch alles wichtige, mehr bräuchte man nicht, warum also noch  Bildung? Genießen wir das, was wir haben, genießen wir das Leben und gut  ist. Doch diese Möglichkeit besteht, vor allem für die jüngere  Generation nicht. Sie sieht sich mit Problemen konfrontiert, die den  Zusammenhalt der Welt in Frage stellen. „Alles Leben ist Problemlösen“,  so der Titel eines Buches des Philosophen Karl Popper, und die Bildung  ist das Werkzeug dazu. Die Bildung muss, unter Anderem, als Werkzeug  begriffen werden. Doch wie jedermann weiß, ist ein Zimmermann ein  schlechter Handwerker, wenn er nur den Hammer bedienen kann, ohne zu  wissen, wo er vielleicht Hilfe von Anderen benötigt. Nicht zuletzt  braucht es Kreativität. Und die bekommt man nicht durch Schmoren im  eigenen Saft, mit streng parametrisierten Ausflügen in fremde  Fachgebiete, die bestenfalls ein unscharfes Zerrbild vermitteln können.
Diese streng modularisierten Ausflüge in  andere Fächer bringen nichts. Für den einen, der nur schnell  durchkommen will, den Fachidioten in spe mag es noch ein wenig nerven,  wenn man sich über ein Semester lang mit irgendeiner Vorlesung befassen  muss, die auf unterstem Niveau andere Fachrichtungen erklären und  repräsentieren soll. Für den, der wirklich Umwege macht, und machen  will, bedeutet dass, dass er sich um einen Haufen Prüfungen kümmern  muss, die alle nicht zusammenpassen, von Fächern die wild aus sog.  Elementen zu Modulen zusammengewürfelt wurden. Ein tieferes Einsteigen  in andere Fachgebiete wird nicht geschätzt oder als sinnvolle  Erweiterung des Horizontes gesehen, sondern lediglich als zeitlicher  Mehraufwand ohne Mehrwert. Im Gegenteil, die neuen Studiengänge sollten  ja gerade die „employability“, also gewissermaßen die „Berufsbefähigung“  erhöhen, geradezu zum goldenen Kalb machen. Aber ist es nicht so, dass 2  Jahre mehr, die man in seine Persönlickeitsbildung investiert hat, auch  diese Berufsbefähigung erhöht? Eine intensive Beschäftigung mit anderen  Themen, als dem Hauptstudiengebiet lässt zudem eine neue geistige Elite  heranwachsen, und wo sollte ein geistiger Eliteanspruch sein, wenn  nicht an den Universitäten, weil diese Zusammenhänge zwischen den  Fachrichtungen erkennen können. So können von vornherein Fehler und  Irrtümer, die auf Unverständnis, auf Inkompatibilität der einzelnen  Menschen in einer Gruppe, sei es zur Arbeit oder auch nur eine andere  soziale Gruppe, vermieden werden. Das zweite goldene Kalb ist aber die  Fixierung auf ein schnelles Studium. Das vermittelt aber nur stark  verdichtetes Wissen über die Problemlösung von Spezialfällen, nicht aber  die Fähigkeit, mit neuartigen Problemen umzugehen. Grundlegende  Forschungsprinzipien werden nicht oder nur am Rande thematisiert. Hier  wäre also eine grundlegende Umgestaltung nötig, weg vom Turbo-Studium,  hin zum Twainschen Bild des Bummelstudenten, der seinerzeit nach  Deutschland kam und die Universitäten bewunderte – man ging einfach hin  und studierte, was man wollte. Es wurde niemand schief angeschaut, nur  weil er ein bisschen durcheinander studierte. Wohlgemerkt war das im 19.  Jahrhundert. Wer wollte behaupten, wir könnten uns das heute nicht  erlauben? Von einem derartigen Bildungsideal sind wir heute leider weit  entfernt.
Betrachtet man das gegenwärtig die  Universitäten, sieht man ein Bild erstarrter Systeme, die studentisches  Lernen in engen Bahnen hält, fachlich stark abgeschottet und streng an  vorgegebenen modulierten Arbeitsaufwand orientiert. Unter dem Vorwand,  Vergleichbarkeit und Flexibilität zu schaffen, wurde jeglicher Anflug  von Flexibilität unterminiert, die Vergleichbarkeit ist ebenfalls nur  scheinbar gegeben. Wie also zu einer Bildung finden, die dem Namen  gerecht wird, dem Begriff eines Mittels zum Zweck des Fortbestandes der  Menschheit in einer Welt, die besser ist als heute, die mehr Menschen  ein Leben nach eigenen Vorstellungen ermöglicht. Wie kann eine derartige  Bildung aussehen?
Nochmal: Eine Bildung, die nur um ihrer  selbst Willen betrieben wird, läuft sich tot. Es füllt weder die zu  bildenden aus, noch bringt es ein Verständnis mit sich für die  Sinnhaftigkeit, die dieser Bildung innewohnt. Mir schwebt eine Bildung  vor, die ein tieferes Verständnis fördert. Sei es in der Physik (meinem  persönlichen Studiengebiet) und anderen Naturwissenschaften, in  ökonomischen Studien, in Geisteswissenschaften oder Künsten. Es ist  gerade das Gegenteil der Bildung, die existiert und weiter in Richtung  Verwertbarkeit getrieben wird – wir können es uns nicht leisten, in  gewohnten Bahnen zu bleiben und diese nutzen zu wollen. Wir brauchen ein  neues, verrücktes Denken, Grundlagenforschung, kritische Überprüfung  von Althergebrachtem, die stetige Erneuerung des Wissens durch ständiges  Hinterfragen, was wir wissen.  Wie heißt es so schlicht wie flapsig?  „Wissen ist nur der Stand des letzten Irrtums!“ Was hochtrabend  philosophisch als Suche nach dem Wahren bezeichnet wird, ist die beste  Chance auf Fortschritt, auf Erkenntnis. Wenn Probleme nicht mit dem  aktuellen Wissen gelöst werden können, oder es große Einbußen an Komfort  bedeuten würde, dann sollte man vielleicht anfangen, über ganz neue  Dinge nachzudenken.

 
- Humboldt-Universität zu Berlin. http://www.flickr.com/photos/zug55/4042967469/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de
 
 
Mit all dem vorhergegangenen meine ich  auch ausdrücklich die Kunst. Wenngleich Musik die Erderwärmung nicht  stoppen wird, ein Bild nicht mehr Wasser aus dem Wüstenboden holt und  eine Skulptur keine Hungersnöte beendet, so ist der Mensch doch ein  ästhetisch veranlagtes Wesen. Warum ein Nachkommen dieser Veranlagung,  dieses natürlichen Triebes sinnvoll ist? Ganz ehrlich, ich weiß es  nicht. Es rührt an den Sinn des Lebens, den ich ebenso wie alle anderen  Menschen dieser Erde nicht kenne. Aber jeder wird wohl anerkennen  müssen, dass auch Künste Völker verbinden können, Gräben überwinden,  oder einfach nur das Leben schöner machen. Schon die griechische  Philosophie teilte sich in die Grundströmungen des Wahren, des Guten und  des Schönen auf, Logik, Ethik und Ästhetik. Über Logik und Ästhetik  habe ich mich bereits ausgelassen, doch wie steht es mit dem Guten? Wo  findet man an einer Universität das Gute? Nur in den philosophischen  Fakultäten. Doch die werden von anderen Fachrichtungen häufig kritisch  beäugt, bringt doch ihre Wissenschaft keine direkt verwertbaren  Erkenntnisse. Speziell die Ethik bringt Sätze hervor, die beginnen mit  „Du sollst…“, was heute einen negativen Beiklang hat. Es klingt nach  Hilflosigkeit der Politik. Dass es kaum einen anderen Weg gibt, um  Menschen von einer bestimmten Denkrichtung hinsichtlich eines weltlichen  Problems gibt, als ihnen zu erklären, warum sie es sollten, wird in  meinen Augen in den allermeisten Fällen vollkommen verkannt. Dass die  Philosophie sich derartigen Anfeindungen stellen muss, ist teilweise  auch selbstverschuldet. Es gibt viele hübsch verklausulierte Sätze, die  Bildung heucheln, meist von schlechten Philosophen, auf die dann  Journalisten hereinfallen, wenn sie nicht selbst das Philosophieren  gelernt haben (wobei im Bezug auf das Philosophie treiben das Wort  „lernen“ nicht mit dem ein Einklang zu bringen ist, was aktuell als  Lernen bezeichnet wird). Es mag auch viele gute Philosophen an den Unis  geben. Tatsache ist doch, dass diese sich wieder vermehrt selbstbewusst  an die Oberfläche trauen müssen. Wenn jemand sagt, er studiere  Philosophie, dann haben wir erst dann einen Schritt in die richtige  Richtung getan, wenn die Antwort ist: „wow“, und nicht mehr „Und davon  kann man leben?“ oder „Und was macht man damit?“
In Verbindung damit  steht auch das Humboldtsche Bildungsideal, das  sich auf eine  ganzheitliche Ausbildung fixierte. Das heißt nicht, dass jeder alles  können muss, Gott bewahre, das wäre von ausnahmslos jedem Menschen zu  viel verlangt. Doch es wäre eine Hinwendung zu einer Bildung, die  Verständnis um die Zusammenhänge liefern soll, zum Fachgebiet, das  eigentlich hauptsächlich behandelt wird. Darüber hinaus muss die  Universität die Aufgabe übernehmen, Vordenker zu entwickeln. Wo sonst  sollten sich Menschen Gedanken machen, und diese Aufgabe, diese stetige  Suche, die Idee eines Nachdenkens über die eigene Bezugsgruppe hinaus,  wo sonst sollte diese Idee weitergegeben werden? Sicher, es gibt auch  kluge, nicht studierte Leute. Doch diese werden gern geschnitten, ob  ihres Mangels an akademischen Graden und es sind bei weitem doch nicht  genug, um später die Geschicke eines Landes als Vordenker, eben als  geistige Elite zu gestalten. Sie müssen als Mittler dienen zwischen  Politik, die die Wünsche der Menschen umsetzen soll und den Menschen  selbst, die zwischen den Denkrichtungen wählen sollen, denen aber auch  diese verschiedenen Richtungen erklärt werden müssen. Nicht jeder hat  die Fähigkeit, selbst derart tiefgreifende Gedankengänge zu verstehen,  wie es in der akademisch-philosophischen Ausbildung notwendig wäre.  Dennoch haben auch diese Menschen eine Stimme und diese weniger  wertzuschätzen als die eines Akademikers wäre mindestens eine gewisse  Geringschätzung des demokratischen Gedankens.
Doch nach all diesen idealistischen  Begründungen gibt es auch ganz profane Aspekte, die eine deutliche  Umstrukturierung der Bildung notwendig machen.Es müssen mehr junge  Menschen an die Unis. Es wird immer weniger Arbeitsplätze im  produzierenden Gewerbe geben und nicht zuletzt ist jedem ersichtlich,  dass andere Länder billiger produzieren können, was also entweder  dauerhafte Subventionen erfordert oder andere Arbeitsplätze. Diese ganz  profanen Gründe leuchten ein, doch das wichtigste Grund, viel mehr in  Bildung zu investieren, ist schlicht der Fortbestand einer Erde, die  eine ausreichende Lebensgrundlage für die Menschen bietet. Wenn wir es  heute schon nicht schaffen, alle Menschen zu ernähren, obwohl die Erde  es eigentlich hergibt, wie sollen wir es in Zukunft schaffen, wenn nicht  durch mehr Forschung und dafür auch durch mehr Bildung? Das schließt  natürlich die Schulen mit ein. Um mehr Kinder und Jugendliche auf die  Universitäten vorzubereiten, muss ein Studium einen Anreiz darstellen.  Wenn heute beim Arbeitsamt erzählt wird, man sollte mit einem Abitur  ohne 1 vorne durchaus eine Ausbildung in Betracht ziehen, ausdrücklich  auch bei Natur- und Ingenieurwissenschaften, halte ich das für fatal.  Gerade da gibt es viel zu wenige Bewerber, um den Bedarf zu decken.  Möchte man die Forschung weiter ausbauen, bräuchte es also noch viel  mehr Anfänger. Doch auch in anderen Bereichen, beispielsweise beim  Lehramt, ist der Bedarf riesig. Dazu muss aber eine Schule zum Lernen  motivieren. Einzelbetreuung darf kein Fremdwort bleiben – doch genau das  wird es bleiben, wenn die Klassen immer noch mit 30 oder mehr Kindern  und Jugendlichen besetzt sind. Die unterdurchschnittlich Begabten werden  abgehängt, kommen kaum mit und sind demoralisiert, weil sie jeden Tag  im Unterricht und auch in Form von Noten mitbekommen: Egal, wie ich mich  anstrenge, ich komme nicht gut weg. Und die überdurchschnittlich  Begabten? Tja, die werden künstlich klein gehalten, obwohl diese viel  schneller lernen könnten. Im Sinne des Frontalunterrichts, der bei  derartigen Klassenstärken nahezu die einzige Möglichkeit bleibt,  langweilen sie sich und erfahren Lernen nicht mehr als etwas  anstrebenswertes. Ich habe selbst erlebt, wie Kreativität rigoros  unterdrückt wurde, Selbstdenken bestraft wurde, selbst der viel zitierte  Einsatz für die Leistungsschwächeren sanktioniert wurde, weil ja „auch  sie dem Unterricht folgen müssen“, der offensichtlich für sie in etwa so  fordernd ist wie das Aufeinanderstapeln dreier Duplo-Bausteine. Sie  haben genauso wenig Erfolgserlebnisse, wenn nicht die Eltern oder  einzelne Bezugspersonen (wie z.B. ein einzelner ausnehmend guter Lehrer,  der zudem noch Zeit und Kraft für diese persönliche Förderung hat) viel  Zeit und, nicht zu vergessen, Geld dort einsetzen (natürlich  vorbehaltlich der bloßen Möglichkeit).
Die konkrete Ausgestaltung von  Früherziehung, Schulbildung und Akademischen Einrichtungen zu  diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wichtig ist nur:  Bildung ist wichtig. Lebenswichtig. Für die Welt: Überlebenswichtig.  Wenn wir nicht weiter forschen, und wir brauchen schließlich Bildung, um  bisher gewonnenes Wissen weiterzugeben, handeln wir nicht nur einem  natürlichen Trieb zum Trotz, wie verbauen die Möglichkeit, die Welt zu  gestalten, so dass sie für alle Menschen besser wird. Und für jeden  Einzelnen.