“Meine Brieftasche gehört mir!”

Die heutige Frauenbewegung handelt den eigentlichen Intentionen des Feminismus zuwider. Sie hat sich längst mit dem herrschenden kapitalistisch und hierarchisch organisierten System verbündet. Ihre Forderungen laufen dabei sogar auf eine Ausbreitung von bestimmten – durch die geschichtliche Entwicklung als männlich charakterisierten – Eigenschaften und Verhaltensweisen (wie Härte, Aggressivität, Egoismus, Konkurrenz- und Karrieredenken) hinaus und erstrecken sich auf alle Frauen. Das Ziel einer wirklich emanzipatorischen Bewegung sollte jedoch in deren Überwindung liegen.

Es war in der Tat vorhersehbar: Nachdem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu den Rechten unverheirateter Väter verkündete, kam der erwartbare Protest der üblichen Verdächtigen (via Zeitgeist Blog). Die Argumentation: die meisten Männer müssten erst einmal beweisen, dass sie überhaupt etwas mit dem Sorgerecht anfangen können und es nicht nur aus Machtinstinkten wollen. Falls auch manche Frauen ihre Kinder vernachlässigen, ist das nicht so schlimm wie bei Männern, da Frauen ja in der Vergangenheit die Kindererziehung übernommen hatten. Und nicht zuletzt: ein Vater, der nicht genügend Unterhalt zahlen kann, ist kein guter Vater.

Ich benutze den Ausdruck “die üblichen Verdächtigen” nicht gerne, aber er gibt es nun einmal wieder: Wenn heutzutage Feministinnen in den Medien zu Wort kommen, sind es fast immer die einer einzigen, bestimmten Sichtweise. Diese sogenannten Feministinnen sind diejenigen, die Feminismus in erster Linie in einer Weise verstanden wissen wollen, die letztendlich darauf hinausläuft, dass sich Frauen immer mehr dem annähern, was heute zumeist als männlich bezeichnet wird. Fangen wir aber am besten an mit den Gemeinsamkeiten, die diese sich so bezeichnenden Feministinnen und ich (und ich stütze mich in der Folge vor allem auf Gedanken von Herbert Marcuse) haben. In der Vergangenheit der Menschheitsgeschichte haben in erster Linie Männer eine herrschende Rolle inne gehabt. Die gesellschaftlichen Machtstrukturen waren in erster Linie ihnen vorbehalten. Ebenso waren sie in der Arbeitswelt übermäßig vertreten, die Frauen auf Kindererziehung und Hausarbeit reduziert, und sie wurden nicht selten auch direkt unterdrückt. So weit sind wir uns in jedem Fall einig. (more…)

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Die deutsche Bildungspolitik als ein Mittel zur Sicherung von Egoismus, Konkurrenzdenken und gesellschaftlicher Ungleichheit

In Hamburg ist die Schulreform, mit der eine sechsjährige Primarschule ermöglicht werden sollte, gescheitert. Obwohl es eine breite Unterstützung der politischen Parteien, von der Linken bis zur CDU, gab, wurde sie in einem Volksentscheid abgelehnt. Wie kann man dies erklären und deuten? Ein sehr guter Ansatz bietet sich bei Telepolis: Niederlage für eine solidarische Gesellschaft

Das ist eine Absage an eine Schulpolitik, die davon ausgeht, dass die “stärkeren” Schüler die “schwächeren” beim Lernen unterstützen können und alle davon profitieren. Zur Bildung gehört nach dieser Lesart auch das Ausbilden von sozialen Kompetenzen, wie Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Zu Zeiten der Bildungskämpfe der siebziger Jahre waren solche Werte in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet. Das ist aktuell nicht mehr der Fall. So liegt das Hamburger Ergebnis ganz im Trend einer Gesellschaft, in der das Prinzip “Jeder ist seines Glückes Schmied” und “Der Schwache ist selber schuld und soll den anderen nicht zur Last fallen” zum Dogma erhoben wurde . Im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten drückt sich diese Politik ebenso aus, wie in den Maßnahmen gegen Hartz IV-Empfänger und eben jetzt auch in der Bildungspolitik.

In einer Gesellschaft, in der es als normal gilt, wenn jeder mit jedem in Konkurrenz liegt, sorgen die Eltern dafür, dass damit schon im Schulalter angefangen wird. Ein solidarisches Lernen wird als Konkurrenznachteil für die eigenen Kinder empfunden […]

Dass “Volkes Stimme” wie in Hamburg gegen eine ganz große Parteienkoalition von Union, SPD, Grünen und Linkspartei, die sich für die Primärschule aussprachen, stimmte, kann nur verwundern, wer noch immer noch meint, dass “die da unten” oder auch “der kleine Mann” sozialer abstimmen als die politischen Parteien. Eine solche Vorstellung verkennt, wie stark die Idee der Ungleichheit und des Konkurrenzgedanken in großen Teilen der Bevölkerung Konsens sind.

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Ich tue hier nur meinen Job!

“Ich tue hier nur meinen Job!” oder ” Ich tu hier nur meinen verdammten Job!”  Nein, diese Sätze, die immer dann benutzt werden, um eine moralische Verantwortung zu leugnen, um eigene Schuld zu bestreiten, um sich selbst zu einem Werkzeug zu diskreditieren, um Zweckrationalität heilig zu sprechen, nein, diese Sätze bewirken bei mir das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollen. Sie sind keine Legitimation unmoralischen Handelns – sie sind der Ausdruck, wie weit sich ein unmoralisches System durchgesetzt hat bis zum Selbstbetrug des Einzelnen.

“Ich tue nur meinen Job!” Gerade in Ländern, in denen es zwar nicht angenehm, aber eben auch nicht gerade tödlich ist, einen bestimmten Job nicht zu tun, ist dieser Satz eben nicht immer eine Rechtfertigung für jegliche Taten, die “man eben tun muss”.  Besonders absurd natürlich, wenn dieser Satz von denen gesprochen wird, die aufgrund ihrer Qualifikation einen beliebigen anderen Job bekommen könnten. Von skrupellosen Managern, gnadenlosen Offizieren, gewissenlosen Lobbyisten. “Ich hab ja auch meine Hypotheken abzuzahlen!” “Ich bin dafür ja nicht verantwortlich!” Keiner wäre danach verantwortlich. Und alle waren Widerstandskämpfer.

“Ich tue nur meinen Job!” Vom alten “Ich erfülle hier nur meine Pflicht” abgelöst durch die amerikanische “Leitkultur”. Die blinde Autoritätshörigkeit und ein diffuses Gefühl der Pflichterfüllung des deutschen, speziell des preußischen Beamtentums, die an sich schon Instrumente der Unterdrückung und Freiheitsberaubung waren, wurden abgelöst durch eine von aller Verantwortung gelöste neue Moral – die des bloßen Geldverdienens. Das Geldverdienen legitimiert alles. Ethische Werte und Überzeugungen zählen nichts. Der Zwang dazu setzt sich bis ins Innerste des Menschen durch. Die heutige Unterdrückung ist keine äußere, sie ist eine psychologische. Alles, was einer kalten, auf die Vermehrung des persönlichen Reichtums fixierten Zweckrationalität im Wege steht, soll ausgeräumt, alles sensible, alles mitmenschliche und solidarische, alles Schwache soll ausgemerzt werden. Die narzisstische Persönlichkeit ist gefangen zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und der Erfahrung von tatsächlicher relativer Ohnmacht. Dies führt zum Willen zur Verschmelzung mit dem herrschenden System.

“Es ist sein Beruf” Irgendwie kann man daraus noch das Wort “Berufung” ablesen. Eine Aufgabe, mit der man sich identifiziert, die einen Zweck erfüllt, einen Sinn hat und stiftet. Der fortgeschrittene Kapitalismus kennt diese Art von Erfüllung oder wirklicher Selbstverwirklichung durch einen bestimmten Beruf nicht. Selbstverwirklichung soll nur in einem gefüllten Bankkonto bestehen, alles andere steht dem Fortschritt im Wege.

“Es ist sein Job” ist das sprachliche Äquivalent zu einem amoralischen, einzig auf Verwertung ausgelegtem ökonomischen und gesellschaftlichen  System. In diesem muss man flexibel sein, alle, wirklich alle Aufgaben auszuführen, die einem befohlen werden, was nicht nur eine qualifikatorische, sondern bei vielen Aufgaben auch eine moralische Flexibilität verlangt. Wo wäre diese Gesellschaft, wenn sich kein Pressesprecher mehr für Monsanto, kein Lobbyist für die Rüstungsindustrie, kein Mediziner, der sich von der Tabaklobby kaufen ließe, kein Politiker, der den Dienst am Volk dem Dienst an seiner Karriere opfert, finden ließe?

Genug Geld rechtfertigt alle Tätigkeiten. Hauptsache, man wird bezahlt. Hauptsache, man “tut seinen verdammten Job”. Wo käme die Gesellschaft hin, wenn nicht jeder seinen Job täte? Wenn er seine Arbeitsweise oder die Aufgabenstellung hinterfragen würde? Wenn er gar eine moralische Rechtfertigung seines Tuns verlangen würde?

Das System ist mächtig, doch seine Macht beruht auch auf dem Einzelnen, der diese hinnimmt, sich dieser unterwirft. Gibt es wirklich kein richtiges Leben im falschen?

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Generation der selbstverliebten Egoisten

TELEPOLIS  über eine Studie der University of Michigan: Empathie trocknet bei der “Generation Ich” aus

Die Psychologen kommen zum Ergebnis, dass die heutigen Studenten weniger Empathie haben als diejenigen in den 1980er und 1990er Jahren. Einen besonders großen Rückgang soll es nach 2000 gegeben haben, wobei es seitdem weiter nach unten ging. Ob das auch damit zu tun hat, dass der an Macht und puren Kapitalismus orientierte Bush an die Macht kam, die Dotcom-Blase platzte und der Krieg gegen den Terror startete, geht aus den Daten nicht hervor, könnte aber wohl damit zu tun haben. Schließlich ist auch zuvor der Wirtschaftsliberalismus, bei dem individuelle Bereicherung, Konkurrenz und Ablehnung des Sozialstaats einen hohen Wert besitzen, in den westlichen Ländern als Ideologie und Praxis stärker geworden und hat sich dadurch auch die Schere zwischen Ärmeren und Reicheren immer stärker geöffnet. (…)

Das Ergebnis sei beunruhigend, da sinkende Empathie mit steigendem antisozialen und aggressiven Verhalten korreliert ist. Treffen die Ergebnisse der Studie zu, dann schwindet die Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen oder mit ihnen zu kooperieren. Tatsächlich sprechen zahlreiche Forscher von einem wachsenden Narzissmus und Individualismus sowie einem Anstieg der Selbstbezogenheit und der Selbsteinschätzung. Die jetzige Studentengeneration, so Konrath, gelte als “Generation Me” und werden von vielen als Generation, die bislang am stärksten “selbstzentriert, narzisstisch, konkurrierend, selbstsicher und individualistisch” sei: “Es überrascht nicht, dass diese wachsende Selbstwertschätzung von einer entsprechenden Abwertung der Anderen begleitet wird.”

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Wozu eigentlich Bildung?

Ein Gastbeitrag von Matthias Bohlen

Ja, wozu eigentlich? Nicht, dass es nicht schön wäre, mal was zu wissen, aber der Hessen-Koch kommt doch auch ohne aus. Keine Ahnung, was das mit Zukunftssicherheit zu tun haben soll, aber wenn man schon an Grundfesten rüttelt, warum nicht mal darüber nachdenken, warum die Bildung eigentlich so wichtig ist? Ja, warum brauchen wir eigentlich Bildung?

Klar, für den Einzelnen ist Bildung wichtig, wenn Aufstiegschancen erworben werden sollen. Aber warum muss der Staat für Bildung sorgen? Sicher nicht, weil das Konstrukt aller Bürger so explizit menschenfreundlich ist – ob es das ist, liegt schließlich an den Mitgliedern. Doch ist es für den deutschen oder jeglichen Industriestaat damit getan, Bildung zu fördern, um die bisherige Vormachtstellung und den technischen Vorsprung zu halten? Sind es lediglich ökonomische Gründe?

Das Problem der gegenwärtigen Bildung ist, dass keiner weiß, sich darüber auch nur ansatzweise im Klaren ist, warum sie wichtig ist – und genau das entwertet sie. Bildung ist nicht wichtig um ihrer selbst willen. Bildung bietet die Fähigkeit zum Problemlösen. Deshalb brauchen wir eine kreative Bildung. Keine Schmalspur-Wissenschaft, sondern breit ausgebildete Akademiker, die über den Tellerrand schauen, die ihre Potentiale in Gänze nutzen.

Karl PopperNatürlich könnte man heute sagen, wir hätten doch alles wichtige, mehr bräuchte man nicht, warum also noch Bildung? Genießen wir das, was wir haben, genießen wir das Leben und gut ist. Doch diese Möglichkeit besteht, vor allem für die jüngere Generation nicht. Sie sieht sich mit Problemen konfrontiert, die den Zusammenhalt der Welt in Frage stellen. „Alles Leben ist Problemlösen“, so der Titel eines Buches des Philosophen Karl Popper, und die Bildung ist das Werkzeug dazu. Die Bildung muss, unter Anderem, als Werkzeug begriffen werden. Doch wie jedermann weiß, ist ein Zimmermann ein schlechter Handwerker, wenn er nur den Hammer bedienen kann, ohne zu wissen, wo er vielleicht Hilfe von Anderen benötigt. Nicht zuletzt braucht es Kreativität. Und die bekommt man nicht durch Schmoren im eigenen Saft, mit streng parametrisierten Ausflügen in fremde Fachgebiete, die bestenfalls ein unscharfes Zerrbild vermitteln können.

Diese streng modularisierten Ausflüge in andere Fächer bringen nichts. Für den einen, der nur schnell durchkommen will, den Fachidioten in spe mag es noch ein wenig nerven, wenn man sich über ein Semester lang mit irgendeiner Vorlesung befassen muss, die auf unterstem Niveau andere Fachrichtungen erklären und repräsentieren soll. Für den, der wirklich Umwege macht, und machen will, bedeutet dass, dass er sich um einen Haufen Prüfungen kümmern muss, die alle nicht zusammenpassen, von Fächern die wild aus sog. Elementen zu Modulen zusammengewürfelt wurden. Ein tieferes Einsteigen in andere Fachgebiete wird nicht geschätzt oder als sinnvolle Erweiterung des Horizontes gesehen, sondern lediglich als zeitlicher Mehraufwand ohne Mehrwert. Im Gegenteil, die neuen Studiengänge sollten ja gerade die „employability“, also gewissermaßen die „Berufsbefähigung“ erhöhen, geradezu zum goldenen Kalb machen. Aber ist es nicht so, dass 2 Jahre mehr, die man in seine Persönlickeitsbildung investiert hat, auch diese Berufsbefähigung erhöht? Eine intensive Beschäftigung mit anderen Themen, als dem Hauptstudiengebiet lässt zudem eine neue geistige Elite heranwachsen, und wo sollte ein geistiger Eliteanspruch sein, wenn nicht an den Universitäten, weil diese Zusammenhänge zwischen den Fachrichtungen erkennen können. So können von vornherein Fehler und Irrtümer, die auf Unverständnis, auf Inkompatibilität der einzelnen Menschen in einer Gruppe, sei es zur Arbeit oder auch nur eine andere soziale Gruppe, vermieden werden. Das zweite goldene Kalb ist aber die Fixierung auf ein schnelles Studium. Das vermittelt aber nur stark verdichtetes Wissen über die Problemlösung von Spezialfällen, nicht aber die Fähigkeit, mit neuartigen Problemen umzugehen. Grundlegende Forschungsprinzipien werden nicht oder nur am Rande thematisiert. Hier wäre also eine grundlegende Umgestaltung nötig, weg vom Turbo-Studium, hin zum Twainschen Bild des Bummelstudenten, der seinerzeit nach Deutschland kam und die Universitäten bewunderte – man ging einfach hin und studierte, was man wollte. Es wurde niemand schief angeschaut, nur weil er ein bisschen durcheinander studierte. Wohlgemerkt war das im 19. Jahrhundert. Wer wollte behaupten, wir könnten uns das heute nicht erlauben? Von einem derartigen Bildungsideal sind wir heute leider weit entfernt.

Betrachtet man das gegenwärtig die Universitäten, sieht man ein Bild erstarrter Systeme, die studentisches Lernen in engen Bahnen hält, fachlich stark abgeschottet und streng an vorgegebenen modulierten Arbeitsaufwand orientiert. Unter dem Vorwand, Vergleichbarkeit und Flexibilität zu schaffen, wurde jeglicher Anflug von Flexibilität unterminiert, die Vergleichbarkeit ist ebenfalls nur scheinbar gegeben. Wie also zu einer Bildung finden, die dem Namen gerecht wird, dem Begriff eines Mittels zum Zweck des Fortbestandes der Menschheit in einer Welt, die besser ist als heute, die mehr Menschen ein Leben nach eigenen Vorstellungen ermöglicht. Wie kann eine derartige Bildung aussehen?

Nochmal: Eine Bildung, die nur um ihrer selbst Willen betrieben wird, läuft sich tot. Es füllt weder die zu bildenden aus, noch bringt es ein Verständnis mit sich für die Sinnhaftigkeit, die dieser Bildung innewohnt. Mir schwebt eine Bildung vor, die ein tieferes Verständnis fördert. Sei es in der Physik (meinem persönlichen Studiengebiet) und anderen Naturwissenschaften, in ökonomischen Studien, in Geisteswissenschaften oder Künsten. Es ist gerade das Gegenteil der Bildung, die existiert und weiter in Richtung Verwertbarkeit getrieben wird – wir können es uns nicht leisten, in gewohnten Bahnen zu bleiben und diese nutzen zu wollen. Wir brauchen ein neues, verrücktes Denken, Grundlagenforschung, kritische Überprüfung von Althergebrachtem, die stetige Erneuerung des Wissens durch ständiges Hinterfragen, was wir wissen.  Wie heißt es so schlicht wie flapsig? „Wissen ist nur der Stand des letzten Irrtums!“ Was hochtrabend philosophisch als Suche nach dem Wahren bezeichnet wird, ist die beste Chance auf Fortschritt, auf Erkenntnis. Wenn Probleme nicht mit dem aktuellen Wissen gelöst werden können, oder es große Einbußen an Komfort bedeuten würde, dann sollte man vielleicht anfangen, über ganz neue Dinge nachzudenken.

Humboldt-Universität zu Berlin
Humboldt-Universität zu Berlin. http://www.flickr.com/photos/zug55/4042967469/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

Mit all dem vorhergegangenen meine ich auch ausdrücklich die Kunst. Wenngleich Musik die Erderwärmung nicht stoppen wird, ein Bild nicht mehr Wasser aus dem Wüstenboden holt und eine Skulptur keine Hungersnöte beendet, so ist der Mensch doch ein ästhetisch veranlagtes Wesen. Warum ein Nachkommen dieser Veranlagung, dieses natürlichen Triebes sinnvoll ist? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es rührt an den Sinn des Lebens, den ich ebenso wie alle anderen Menschen dieser Erde nicht kenne. Aber jeder wird wohl anerkennen müssen, dass auch Künste Völker verbinden können, Gräben überwinden, oder einfach nur das Leben schöner machen. Schon die griechische Philosophie teilte sich in die Grundströmungen des Wahren, des Guten und des Schönen auf, Logik, Ethik und Ästhetik. Über Logik und Ästhetik habe ich mich bereits ausgelassen, doch wie steht es mit dem Guten? Wo findet man an einer Universität das Gute? Nur in den philosophischen Fakultäten. Doch die werden von anderen Fachrichtungen häufig kritisch beäugt, bringt doch ihre Wissenschaft keine direkt verwertbaren Erkenntnisse. Speziell die Ethik bringt Sätze hervor, die beginnen mit „Du sollst…“, was heute einen negativen Beiklang hat. Es klingt nach Hilflosigkeit der Politik. Dass es kaum einen anderen Weg gibt, um Menschen von einer bestimmten Denkrichtung hinsichtlich eines weltlichen Problems gibt, als ihnen zu erklären, warum sie es sollten, wird in meinen Augen in den allermeisten Fällen vollkommen verkannt. Dass die Philosophie sich derartigen Anfeindungen stellen muss, ist teilweise auch selbstverschuldet. Es gibt viele hübsch verklausulierte Sätze, die Bildung heucheln, meist von schlechten Philosophen, auf die dann Journalisten hereinfallen, wenn sie nicht selbst das Philosophieren gelernt haben (wobei im Bezug auf das Philosophie treiben das Wort „lernen“ nicht mit dem ein Einklang zu bringen ist, was aktuell als Lernen bezeichnet wird). Es mag auch viele gute Philosophen an den Unis geben. Tatsache ist doch, dass diese sich wieder vermehrt selbstbewusst an die Oberfläche trauen müssen. Wenn jemand sagt, er studiere Philosophie, dann haben wir erst dann einen Schritt in die richtige Richtung getan, wenn die Antwort ist: „wow“, und nicht mehr „Und davon kann man leben?“ oder „Und was macht man damit?“

In Verbindung damit steht auch das Humboldtsche Bildungsideal, das  sich auf eine ganzheitliche Ausbildung fixierte. Das heißt nicht, dass jeder alles können muss, Gott bewahre, das wäre von ausnahmslos jedem Menschen zu viel verlangt. Doch es wäre eine Hinwendung zu einer Bildung, die Verständnis um die Zusammenhänge liefern soll, zum Fachgebiet, das eigentlich hauptsächlich behandelt wird. Darüber hinaus muss die Universität die Aufgabe übernehmen, Vordenker zu entwickeln. Wo sonst sollten sich Menschen Gedanken machen, und diese Aufgabe, diese stetige Suche, die Idee eines Nachdenkens über die eigene Bezugsgruppe hinaus, wo sonst sollte diese Idee weitergegeben werden? Sicher, es gibt auch kluge, nicht studierte Leute. Doch diese werden gern geschnitten, ob ihres Mangels an akademischen Graden und es sind bei weitem doch nicht genug, um später die Geschicke eines Landes als Vordenker, eben als geistige Elite zu gestalten. Sie müssen als Mittler dienen zwischen Politik, die die Wünsche der Menschen umsetzen soll und den Menschen selbst, die zwischen den Denkrichtungen wählen sollen, denen aber auch diese verschiedenen Richtungen erklärt werden müssen. Nicht jeder hat die Fähigkeit, selbst derart tiefgreifende Gedankengänge zu verstehen, wie es in der akademisch-philosophischen Ausbildung notwendig wäre. Dennoch haben auch diese Menschen eine Stimme und diese weniger wertzuschätzen als die eines Akademikers wäre mindestens eine gewisse Geringschätzung des demokratischen Gedankens.

Doch nach all diesen idealistischen Begründungen gibt es auch ganz profane Aspekte, die eine deutliche Umstrukturierung der Bildung notwendig machen.Es müssen mehr junge Menschen an die Unis. Es wird immer weniger Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe geben und nicht zuletzt ist jedem ersichtlich, dass andere Länder billiger produzieren können, was also entweder dauerhafte Subventionen erfordert oder andere Arbeitsplätze. Diese ganz profanen Gründe leuchten ein, doch das wichtigste Grund, viel mehr in Bildung zu investieren, ist schlicht der Fortbestand einer Erde, die eine ausreichende Lebensgrundlage für die Menschen bietet. Wenn wir es heute schon nicht schaffen, alle Menschen zu ernähren, obwohl die Erde es eigentlich hergibt, wie sollen wir es in Zukunft schaffen, wenn nicht durch mehr Forschung und dafür auch durch mehr Bildung? Das schließt natürlich die Schulen mit ein. Um mehr Kinder und Jugendliche auf die Universitäten vorzubereiten, muss ein Studium einen Anreiz darstellen. Wenn heute beim Arbeitsamt erzählt wird, man sollte mit einem Abitur ohne 1 vorne durchaus eine Ausbildung in Betracht ziehen, ausdrücklich auch bei Natur- und Ingenieurwissenschaften, halte ich das für fatal. Gerade da gibt es viel zu wenige Bewerber, um den Bedarf zu decken. Möchte man die Forschung weiter ausbauen, bräuchte es also noch viel mehr Anfänger. Doch auch in anderen Bereichen, beispielsweise beim Lehramt, ist der Bedarf riesig. Dazu muss aber eine Schule zum Lernen motivieren. Einzelbetreuung darf kein Fremdwort bleiben – doch genau das wird es bleiben, wenn die Klassen immer noch mit 30 oder mehr Kindern und Jugendlichen besetzt sind. Die unterdurchschnittlich Begabten werden abgehängt, kommen kaum mit und sind demoralisiert, weil sie jeden Tag im Unterricht und auch in Form von Noten mitbekommen: Egal, wie ich mich anstrenge, ich komme nicht gut weg. Und die überdurchschnittlich Begabten? Tja, die werden künstlich klein gehalten, obwohl diese viel schneller lernen könnten. Im Sinne des Frontalunterrichts, der bei derartigen Klassenstärken nahezu die einzige Möglichkeit bleibt, langweilen sie sich und erfahren Lernen nicht mehr als etwas anstrebenswertes. Ich habe selbst erlebt, wie Kreativität rigoros unterdrückt wurde, Selbstdenken bestraft wurde, selbst der viel zitierte Einsatz für die Leistungsschwächeren sanktioniert wurde, weil ja „auch sie dem Unterricht folgen müssen“, der offensichtlich für sie in etwa so fordernd ist wie das Aufeinanderstapeln dreier Duplo-Bausteine. Sie haben genauso wenig Erfolgserlebnisse, wenn nicht die Eltern oder einzelne Bezugspersonen (wie z.B. ein einzelner ausnehmend guter Lehrer, der zudem noch Zeit und Kraft für diese persönliche Förderung hat) viel Zeit und, nicht zu vergessen, Geld dort einsetzen (natürlich vorbehaltlich der bloßen Möglichkeit).

Die konkrete Ausgestaltung von Früherziehung, Schulbildung und Akademischen Einrichtungen zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wichtig ist nur: Bildung ist wichtig. Lebenswichtig. Für die Welt: Überlebenswichtig. Wenn wir nicht weiter forschen, und wir brauchen schließlich Bildung, um bisher gewonnenes Wissen weiterzugeben, handeln wir nicht nur einem natürlichen Trieb zum Trotz, wie verbauen die Möglichkeit, die Welt zu gestalten, so dass sie für alle Menschen besser wird. Und für jeden Einzelnen.

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Der “Dritte Weg”: Vorstellung und Wirklichkeit

Dieter Rulff singt in einem taz-Artikel, in dem es eigentlich um die Koalition in NRW gehen sollte (Rot, Rot, Grün und die Koalitionsfrage: Nur auf Bewährung), ein Loblied des “Dritten Weges”. Sprachlich in einem sehr merkwürdigen Stil und mit einigen unverständlichen Formulierungen und eigenwilliger Semantik verfasst, scheint der Artikel auf jeden Fall eher daraufhin ausgelegt, vordergründigen Eindruck zu schinden als inhaltlich zu überzeugen. Der ganze Artikel versucht, sich die – für viele gescheiterte – “Neue Mitte”-Politik noch einmal, sich selbst seiner Richtigkeit versichernd, schönzureden. Dies, indem er neben der Verwendung von rhetorischen und auf positiven Emotionen abzielenden Mitteln, die negativen Seiten des Dritten Weges ausblendet oder sie einfach als diesem nicht anzulastend auf andere schiebt. Dabei schlägt er alle möglichen Fortschritte andererseits dem Dritten Weg zu, merkt jedoch wohl gar nicht, wie er sich selbst in Widersprüche verwickelt.

Nun ist diese Mitte kein sozialer Ort, sondern markiert die Deutungshoheit über Diagnose und Behandlungsweise gesellschaftlicher Probleme. Insofern war die Übertragung von Anthony Giddens Politik jenseits von rechts und links auf deutsche Verhältnisse der zunächst erfolgreiche Versuch der SPD, die Stagnation der Ära Kohl zu überwinden.

Was Rulff zu dem ersten Satz bewegt hat, weiß wohl nur Rulff. “Politik jenseits von links und rechts” ist natürlich ein Schlagwort, es ist aber kaum zutreffend. Im Grunde ist die Politik von Anthony Giddens ein in der Tat in ihren Grundvorstellungen und -ideen (der Begriff wird hier bewusst nicht als Schlagwort gebraucht) eine, wenn auch gemäßigte und sozial ausstaffierte, neoliberale Politik. Die Grundzüge dieses Weges, und damit soll den Anhängern dieser Politik kein Unrecht widerfahren, sind weg vom “vorsorgenden”, hin zum “aktivierenden” Wohlfahrtsstaat, weg von der Sozial-, hin zur Bildungspolitik, weg von der sozialen, hin zur Chancengleichheit orientiert. Der Staat soll in diesem Konzept von vorneherein dafür sorgen, dass Armut nicht entstehen kann, indem er allen eine möglichst gute Ausbildung gewährt, und im Falle von Arbeitslosigkeit sollen die Betroffenen schnell wieder eine neue Beschäftigung finden.

Diese Punkte sind ja zweifelsohne begrüßenswert, aber sie sind nicht auseichend, sondern nur ein Ausschnitt dessen, wofür die Sozialdemokratie seit je her eingetreten ist. Sie sind die Punkte, auf die sich auch Liberale und Neoliberale einlassen, denn mit einher gehen die Vorstellungen, dass ein Wohlfahrtsstaat, der (z.B. bei Arbeitslosigkeit) für eine ausreichende Existenzsicherung sorgt, den Ansporn, sich eine neue Arbeit zu suchen, mindert, die Menschen in Arbeitslosigkeit verharren lässt usw. (hier wurden die neoliberalen Vorstellungen zu diesem Thema übernommen). Man ist ausschließlich selbstverantwotlich und der Staat nur dazu da, “unverschuldet in Not geratene” (und das gilt bei Arbeitslosigkeit nicht) abzufangen und bei Arbeitslosigkeit gerade noch den Lebensunterhalt zu sichern, dies aber verbunden mit einer Arbeitspflicht (Workfare). Zudem, und hier ist der größte Bruch mit der Sozialdemokratie, sei soziale bzw. Verteilungsgerechtigkeit schädlich, da sie Anreize mindere. Daüber hinaus wird dem Staat keine Rolle im Wirtschaftsablauf eingeräumt, er soll sich möglichst weit zurückziehen und möglichst viele Bereiche der Gesellschaft den Marktmechanismen überlassen.

Die Umsetzung von Giddens Politik besteht daher neben dem Ausbau der Bildungseinrichtungen in erster Linie aus der Senkung von Sozialleistungen, der Verbindung von Arbeitslosengeld mit der Pflicht zu nicht oder niedrig bezahlten öffentlichen Tätigkeiten, umfangreichen Privatisierungen und Deregulierungen und dem Ende von umverteilenden Maßnahmen, z.B. durch die Senkung von Unternehmens- und Spitzensteuern. Im Grunde ist das viel bejubelte Konzept von Giddens das, was eine wirtschaftsliberale Partei fahren würde, wenn sie ehrlich und frei von Klientelinteressen wäre, plus noch Gesundheitsversorgung für alle (denn diese sollte – auch bei Giddens – nicht vom Einkommen abhängen), versehen mit einem sozialdemrokatischen Etikett. Es ist eine Ideologie der Chancen und der Eigenverantwortung, es misstraut den Vorstellungen der Gleichheit und der sozialen Sicherheit. In ihm ist der Mensch egoistisch und auf sich alleine gestellt, in ihm gibt es keine Solidarität.

Unterschieden sich die politischen Ansätze unter Kohl und Schröder im wirtschaftlichen und sozialen Bereich inhaltlich auch nicht so sehr, so  geht Rulff auf das Tempo der Umsetzung ein und besetzt dieses positiv, so, wie der ursprünglich positiv assoziierte Begriff “Reform” als Schlagwort für Sozialabbau-Gesetze inflationär gebraucht wurde. Stagnation bedeutet in diesem Falle eher, dass die Sozialabbau-Maßnahmen nicht in einem ganz so atemberaubenden Tempo duchgeführt wurden wie insbesondere nach der Agenda 2010. Aber – durch den Satz soll natürlich die Assoziation mit der muffigen Kohl-Ära geweckt werden, die erst durch den frischen Wind der rot-grüne Koalition abgelöst wude. Das ist sicher bei vielen Gebieten, zutreffend aber nicht bei der Umsetzung der Dritten-Weg-Maßnahmen. Damit sollen positive Erinnerungen verbunden werden, alles, was Rot-Grün Positives rhervobrachte, ist natürlich dem Dritten Weg zu verdanken. Auch hier ist dieses rhetorische Mittel klar:

Vier strukturelle Veränderungen markierten diese Politik: Das “Modell Deutschland” der Unternehmensverflechtungen und des Korporatismus wurde für die globalisierte Wirtschaftsstrukturen geöffnet, die Energiewende sowie eine Einwanderungspolitik wurden eingeleitet und der Arbeitsmarkt von der Statussicherung auf Aktivierung umorientiert.

Die Öffnung der Deutschland-AG muss man von zwei Seiten betrachten. Einerseits führte sie zum Abbau von Seilschaften, Vetternwirtschaft und kartellartigen Absprachen. Andererseits war das Mittel dafür die Liberalisierung der Finanzmärkte. Den Abbau von Mitbestimmungsrechten und die Schwächung der Tarifparteien als Öffnung für die globalisierte Wirtschaft (der sich vemeintlich alles und jeder unterordnen muss) zu verkaufen, erfordert schon viel Phantasie. Energiewende und Einwanderungspolitik haben nun wirklich nichts mit dem Dritten Weg zu tun. Die Umwandlung der Arbeitslosenversicherung (und nicht des Arbeitsmarktes) allerdings schon. Doch was bedeutet “Statussicherung” und “Aktivierung”? “Statussicherung” meint, dass die Sozialleistungen zumindest auf einem ähnlichen Niveau wie der vorherige Verdienst sind, also einkommensabhängig. “Aktivierung” klingt gut und wäre es wohl auch, wenn damit mehr Weiterbildungsmaßnahmen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik verbunden wären, beinhaltete aber in Deutschland nur eine Senkung dieser und bestand fast nur aus gesenkten Sozialleistungen und der Pflicht zur Annahme fast jeder Arbeit, mit der Drohung, sonst unter das Existenzminimum zu fallen.

Letzteres gilt noch heute in der SPD als Sündenfall und als Geburtsstunde der Linken. Dabei erwies sich das Konzept, wie das Beispiel der nordeuropäischen Staaten und die Entwicklung des Arbeitsmarktes zeigen, als richtig, der Staat versagte (und versagt) allerdings bei der Betreuung, Vermittlung und vor allem bei der Qualifizierung der Arbeitslosen.

Genau hier liegt der Punkt: In Dänemark und Schweden etwa sind Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sehr hoch. Das Arbeitslosengeld in Dänemark liegt auf dem zweithöchsten Niveau OECD-weit – nach den Niederlanden, die ein ähnliches Modell haben. In beiden Staaten, gefolgt von Schweden, sind zudem die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik mit Abstand am höchsten. Gerade dadurch konnten enorme beschäftigungspolitische Erfolge in diesen Ländern erzielt werden, und dazu eben ein sehr hohes Maß an sozialer Sicherheit und eine sehr egalitäre Einkommensverteilung. Siehe auch: Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar. Der Dritte Weg jedoch ist nur Flexibilität,  jedoch ohne Sicherheit.

Auf die dabei aufgeworfene Gerechtigkeitsfrage konnte die Regierung Schröder schon deshalb keine glaubwürdige sozialdemokratische Antwort mehr geben, weil sie zuvor bei der Unternehmens- und Einkommenssteuerreform ohne strukturelle Notwendigkeit eine massive Umverteilung nach oben vorgenommen hatte. Das hatte wenig mit dem Dritten Weg, aber viel mit neoliberalem Zeitgeist-Opportunismus zu tun (…)

Den Dritten Weg könnte man durchaus mit guten Gründen als einen eindeutig neo-liberalen betrachten. Ein Ende der Umverteilung ist dabei durchaus ein Schritt auf dem Dritten Weg.

Mit dem vorläufigen Scheitern des FDP-Steuerkonzeptes ist die neoliberale Angebotspolitik in die Defensive geraten. Das bedeutet jedoch nicht, dass nun wieder eine klassische Nachfragepolitik zum Zuge kommt. Eine linke Politik, die jeden Akt des Konsums mit dessen vermeintlich wirtschaftsfördernder Kraft legitimiert, wird schnell mit deren begrenzter Wirkung in einer entgrenzten Welt konfrontiert sein – wie es sich zuletzt an der Abwrackprämie erwiesen hat.

Angebotspolitik ist neoliberal, und wird deshalb auch im “Dritten Weg” verfolgt. Und – der Fairness halber: selbstverständlich ist nicht jeder “Akt des Konsums” zu begrüßen. Die Abwrackprämie ist in der Tat fraglich (einseitige Subvention einer bestimmten Branche usw.), aber konjunkturell erfolgreich war sie ja zumindest. Mittel wie höhere Sozialleistungen und Löhne, sowie öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen wären aber eher zu begrüßen. Dass diese die in Deutschland extrem niedrige Binnennachfrage insgesamt erhöhen und für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen würden, kann auch nicht mit dem verbrauchten Argument von der globalisierten Weltwirtschaft und den “Grenzen nationalstaatlicher Politik ” (fehlt nur noch das “konjunkturpolitische Strohfeuer”) bestritten werden.

Rulffs Beitrag ist einer, wie man sie um die Jahrtausendwende zu Hunderten gelesen hat. Einer, der eine Politik des Dritten Weges  rechtfertigen, ihren Kern eines neoliberalen Umbaus der Gesellschaft verschleiern und verhüllen will (und sich sogar des Wortes “neoliberal” bedient, um die negativsten Aspekte dieses Modells einer angeblich anderen Richtung anzulasten). Er wirft mit Buzz-Words und Standardfloskeln um sich und kann dennoch hinter allen hochtrabend klingenden Formulierungen nicht verstecken, was er wirklich ist: der Ausdruck eines zeitgeistig-opportunistischen Gesinnungswandels, wie ihn der ehemalige Marxist Giddens mustergültig vorexerziert hat.

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Zum Wahlausgang in Großbritannien

Die Wahl in Großbritannien ist also wie erwartet ausgegangen. Die Conservative Party errang zwar eine Mehrheit, diese ist aber nicht groß genug, um alleine die Regierung bilden zu können. Ob Labour oder Conservative Party, wer auch immer den Regierungschef stellen wird, wird nun auf die Unterstützung der Liberal Democrats angewiesen sein. Dies ist zu begrüßen – für Großbritannien und für Europa.

Die britischen Parteien

Dabei müssen wir beachten, dass das britische Parteiensystem kaum mit dem deutschen vergleichbar ist.

Die Labour Party etwa als Sozialdemokraten oder gar als Linke zu bezeichnen ist kaum zutreffend und höchstens irreführend. Seit Ende der 90er Jahre unter Tony Blair und den Konzepten von Anthony Giddens kann man Labour meiner Meinung nach nicht mehr als Sozialdemokraten bezeichnen. Von dem gemeinsamen Charakteristikum und der Tradition sozialdemokratischer und demokratisch-sozialistischer Parteien weltweit haben sie sich explizit verabschiedet, der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit) – sie wollen nur noch “Chancengerechtigkeit”. Umverteilung steht nicht mehr auf dem Programm. Die neoliberale Politik der Thatcher-Ära haben sie in der Grundtendenz fortgeführt, mit nur kleinen Verbesserungen. Umfangreiche Privatisierungen, tendenzieller Abbau der Sozialleistungen, keine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft, Förderung des Finanzmarktkapitalismus. Einzig auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik (trotz all der Klischees über das britische Gesundheitswesen) und in der Bildungspolitik (auch wenn man dort nicht einmal so weit ging, die Studiengebühren abzuschaffen – das wäre wohl zuviel Chancengleichheit) gab es weitreichende Verbesserungen. Und unter Gordon Brown gab es durchaus eine leichte Wende nach links in der Sozialpolitik. Noch drastischer allerdings war die Politik von Labour auf dem gesellschaftspolitischen Feld – in Großbritannien haben sie den wohl technisch fortgeschrittensten Überwachungsstaat der Menschheitsgeschichte aufgebaut. Die Einschränkungen der Bürgerrechte und der Freiheiten sind kaum aufzählbar.

So kam es, dass die Conservative Party paradoxerweise fast schon als eine sogar etwas liberalere Alternative auf diesem Gebiet schien. Allerdings unterscheiden sich die Positionen der beiden Parteien dort nicht sehr stark. Und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik würden die Tories durchaus einen großen Rückschritt hin in die Thatcher-Ära bedeuten, auch wenn dies Cameron immer wieder zu bestreiten versuchte. Die Pläne zur Wirtschaftspolitik, zur weiteren Einschränkung des Sozialstaats, zur Schulpolitik oder zum öffentlichen Dienst wären durchaus fatal. Zudem sind die meisten Mitglieder der Conservative Party in vielen Feldern nicht so fortgeschritten wie ihr Vorsitzender.

Die Liberal Democrats sind in der Tat eine Partei mit in vielen Fällen grundsätzlich anderen Positionen als Tories und Labour. Ich würde sie als klassisch liberale Partei bezeichnen, mit dem Schwerpunkt auf gesellschaftspolitischen Gebieten. Sie treten als einzige gegen den ausufernden Überwachungswahnsinn ein, waren als einzige gegen den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg. Wirtschaftspolitisch würde ich sie in der Nähe von Labour einordnen – also nicht marktradikal wie andere sich “liberal” nennende Parteien, aber auch nicht links. Dennoch traten auch nur sie für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte ein.

Die Green Party hat zwar den Einzug ins Parlament geschafft – aber nur mit einer Stimme. Die anderen dort vertretenen kleineren Parteien sind vor allem solche mit regionalen bis hin zu nationalistischen Interessen.

Das britische Wahlsystem

Zudem fordern die Liberal Democrats eine Reformierung des britischen Wahlsystems, und die ist dringend geboten. Denn das Mehrheitswahlrecht führt nicht nur dazu, dass kleinere Parteien systematisch benachteiligt werden (nur die, die einen Wahlkreis gewinnen können, erhalten ja einen Parlamentssitz), es sorgt für eine extreme Verzerrung der Stimmen (z.B. diesmal: Liberal Democrats: 22,9% der Stimmen, 8,8% der Sitze. Es gibt aber noch viel drastischere Fälle).

Die Wahl hat nicht nur die Grenzen des Mehrheitswahlrechts aufgezeigt, sondern dieses als ein Wahlsystem ohne auch nur einen einzigen positiven Aspekt dastehen lassen. Als vermeintlich positiver Punkt der Mehrheitswahl wird eigentlich nur aufgeführt, dass dieses zu “stabilen Mehrheiten” für eine Regierungspartei führe – das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wobei dieser Punkt für mich nie positiv war, da bei der Mehrheitswahl ja die Stimmenverteilung nicht der Sitzverteilung entspicht, nicht jede Stimme gleich viel zählt. Dies aber ist eine Grundforderung an eine demokratischen Wahl.

Welche Möglichkeiten bieten sich?

Welche Optionen stehen nun für eine Regierungsbildung offen und wie sind diese zu bewerten? Eine Neuwahl wäre ein Armutszeugnis. Auch wenn man sozusagen kaum Erfahrung mit Koalitionsregierungen hat, hat der Wähler so entschieden. Ob eine Neuwahl andere Ergebnisse bringen würde, wäre außerdem zweifelhaft. Eine Minderheitsregierung der Tories würde wohl kaum lange überleben.

Eine “Große Koalition” halte ich ebenfalls für schwer vorstellbar. Höchst wahrscheinlich werden die Liberal Democrats der entscheidende Faktor sein. Es wäre auf jeden Fall positiv zu bewerten, wenn diese in einer Regierung vertreten sind, vor allem, da die Bürgerrechte in Großbritannien endlich wieder auf das Niveau eines freiheitlichen Rechtsstaates gebracht werden müssen. Eine Einführung (oder wenigstens eine neue Entscheidung darüber) des Verhältniswahlrechtes wäre außerdem eine Bedingung der Liberal Democrats, ohne die eine Koalition mit ihnen schwer vorstellbar wäre. Als wahrscheinlichste Koalitionen gelten also (möglicherweise unter Einbeziehung anderer kleinerer Parteien – dies soll hier ausgelassen werden):

Conservative Party und Liberal Democrats: Für die Bürgerrechte wäre diese Koalition wohl wünschenswert. Hier wären die Konservativen wohl auch bereit, Zugeständnisse zu machen. Allerdings leidet Großbritannien neben der Unterdrückung der Rechte und Freiheiten auch immer noch unter den Folgen des Marktextremismus der letzten Tory-Ära. Das Sozialsystem, die öffentliche Daseinsfürsorge, das Gesundheitssystem dürfen keineswegs noch weiter eingeschränkt werden. Dies wäre aber unter den Konservativen zweifelsohne zu erwarten, schon im Wahlkampf wurden genug Sozialabbau-Maßnahmen angekündigt, und Cameron hat auch angekündigt, dass sich dort wenig Verhandlungsmöglichkeiten ergeben.

Labour und Liberal Democrats: Solle Labour in der Lage sein, mit den Liberal Democrats eine Koalition zustande zu bekommen, und würden sie umfangreiche Zugeständnisse an diese in gesellschaftspolitischen Feld machen, kann das für alle nur von Nutzen sein, und Labour könnte sich vielleicht eher wieder auf seine alten, durchaus ehrhaften Wurzeln besinnen. Auch auf wirtschafts- und sozialpolitischem Feld wären Verbesserungen im Vergleich zur Alleinregierung von Labour zu erwarten, insbesondere bei der Regulierung der Finanzmärkte. Bisher ist Großbritannien zusammen mit Deutschland bei dieser Frage ein hartnäckiger Blockierer und ein Hemmnis für welt- oder wenigstens europaweites Vorgehen. Auch in der EU würde eine eher sozialliberale britische Regierung vielleicht (eventuell zusammen mit der eher gemäßigt-konservativen französischen Regierung) eine Gegenmacht bilden können zum marktradikalen Hardliner-Vorpreschen der deutschen Regierung. Und auch bei der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten ist die EU ja ganz vorne mit dabei, bisher unter einem großen Einfluss der britischen Regierung.

Sicher wäre dies insgesamt keine wirklich gute Regierungskonstellation, aber wohl die bestmögliche. Wir sollten also für Großbritannien und auch für Europa hoffen, dass nicht wieder eine liberale Partei zur Umfallerpartei und zum Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen wird.

[Auch erschienen beim binsenbrenner.de.]

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Sensationelle Entwicklung oder simple Täuschung?

Die angeblichen Wunder um den Rückgang der Erwerbslosenzahlen in Deutschland im April 2010 sind relativ einfach zu entzaubern: es handelt sich um eine bloßen statistischen Trick. Statt durch eine Erholung ist der deutsche Arbeitsmarkt in Wirklichkeit durch mehr Prekarität gekennzeichnet.

Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt?

Die deutschen Medien jubeln, dass die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sensationell sei. Eine Schlagzeile jagt die nächste. Staunen, Wunder, Euphorie. Alle scheinen völlig aus dem Häuschen zu sein. Und alles kam völlig überraschend! Ein unfassbar starker Rückgang der Arbeitslosigkeit wird verlautbart, die Wirtschaft kommt wieder in Schwung – und das haben wir alles nur unserer klugen und umsichtigen Regierung zu verdanken! Klingt ja erstmal ganz gut, könnte man denken. Macht die Regierung ja doch vielleicht mal was richtig. Doch wie sieht es wirklich aus?

178.000 Erwerbslose wurden diesen April weniger gezählt als im April 2009, so meldet man. Doch hinterfragt wird nicht. Wieso auch? Heißt das etwa nicht, 178.000 Erwerbslose weniger, fragt man sich jetzt zu Recht? Um die Pointe vorwegzunehmen: Nein, das heißt es nämlich nicht! Das Stichwort lautet: Schönrechnen. Dabei ist es hier noch einfacher als bei vielen anderen der üblichen Verdrehungnen und Verzerrungen, hinter den nackten Zahlen die tatsächliche Entwicklung zu erkennen. Eigentlich schon zu einfach, ist es doch nur ein wirklich ganz billiger Statistiktrick.

Ein simpler Rechentrick

Denn, tadaa!, alle Arbeitslosen, die bei privaten Arbeitsvermittlern gemeldet sind, zählt man 2010 einfach nicht mehr zu den Arbeitslosen! Laut Schätzungen sind dies etwa 200.000. Schauen wir noch mal auf den angeblichen Rükgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vergangenen Jahr. Wie hoch soll der noch mal gewesen sein? Ach ja, 178.000. Und schon hat man statt tatsächlich mehr Arbeitslosen sogar offiziell weniger! Und der angeblich so überraschende “Rückgang” im Vergleich zum Vorjahr ist dann keineswegs mehr überraschend (und ja noch nicht einmal ein Rückgang). So einfach kann man sich Erfolge stricken, so einfach kann man von katastrophalen Entscheidungen in der Wirtschaftspoliik ablenken.

Wenn diese Tatsache in den meisten Berichterstattungen mal gar nicht erwähnt wird, weiß man schon, was man hinsichlich journalistischer Qualität von diesen zu halten hat. Offenbar freut man sich in vielen Redaktionen so sehr, endlich mal wieder etwas Positives über die Regierung schreiben zu können, dass man alle Einwände, auch wenn sie noch so offensichtlich sind, schnell unter den Teppich kehrt. Hat ja hoffentlich keiner bemerkt. Ok, wäre diese Maßnahme wenigstens irgendwie statistisch sinnvoll, meinetwegen (trotzdem hätte man es erwähnen müssen). Aber wieso soll denn bitte ein Arbeitsloser, der bei einer privaten Job-Agentur nach einem Arbeitsplatz sucht, weniger arbeitslos sein als jemand, der bei der Bundesagentur gemeldet ist? Nein, so eine Zählweise ist nur verschleiernd und gar kontraproduktiv, erschwert sie doch eine für politische Progamme notwendige umfassende Bestandsaufnahme des Arbeitsmarktes.

Eher Wandlung statt Zunahme der Arbeitsplätze

Natürlich, bleiben wir fair, gab es dennoch einen relativ großen Rückgang im Vergleich zum Vormonat. Worauf ist dieser nun zurückzuführen? Das Kurzarbeitergeld war im Prinzip richtig und hat viele Jobs gerettet, keine Frage (aber natürlich hätten gößere Konjunkturprogramme auch mehr bewirken und die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sich schneller erholen lassen). Aber: die Kurzarbeit, sowie die oft erfolgte Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen (s.u.), hat dazu geführt, dass zwar vielleicht nicht die Zahl der Beschäfigten, aber die Arbeitsleistung insgesamt (in Stunden) zurückgegangen is, auch das muss man betrachten. Und andere Faktoren, die zu den Arbeitslosenwerten im April beigetragen haben, wie saisonale und demographische, darf man auch nicht vernachlässigen.

Andere wichige Eckpunkte des Arbeitsmarktes, die die Bundesagentur bekanntgab, werden in der medialen Berichterstattung meist einfach verschwiegen: Die Zahl der Unterbeschäftigten blieb im vergangenen Jahr weitgehend konstant (4,6 Millionen). Die gemeldeten offenen Stellen sind nicht viel mehr geworden. Es gibt deutlich mehr Hartz-IV-Bezieher (6,7 Millionen), darunter auch viele “Aufstocker”, die nur Niedriglöhne verdienen. Im letzten Jahr gab es 300.000 Vollzeitstellen weniger und 200.000 Teilzeitsarbeitsstellen mehr. Die Zeitarbeit hat deutlich zugenommen. Insgesamt gab es deutlich mehr prekäre Beschäftigungsformen und nur wenig tatsächliches Wachstum der Arbeitsplätze. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden durch prekäre ersetzt. Wahrlich kein Grund, in voreiligen Jubel auszubrechen.

[Quellen: Arbeitsmarkt: Wo das “deutsche Job-Wunder” herkommt (Frankfurter Rundschau), Arbeitsmarkt im April (NachDenkSeiten)]

Deutschland, Land der Niedriglöhne

Das Wachsen prekärer Arbeitsformen und die zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft wird auch von ganz unerwarteter Seite bestätigt. Die Bertelsmann-Stiftung (!) stellt in einer neuen Studie (“Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit. Benchmarking Deutschland: Befristete und geringfügige Tätigkeiten, Zeitarbeit und Niedriglohnbeschäftigung”; Autoren: Werner Eichhorst, Paul Marx, Eric Thode; Zusammenfassungen: Taz, Bertelsmann, S. 5-7 der Studie) fest, dass in Deutschland zwischen 2000 und 2007 von 17 OECD-Ländern die Lohnungleichheit am meisten gewachsen ist. Untersucht wurden in der Studie die EU- und die OECD-Staaten. Auch im europäischen Vergleich gebe es in Deutschland eine “ausgeprägte Lohnspreizung”. Außerdem ist es hier sehr schwer, in jeweils höhere Lohngruppen aufzusteigen.

Niedriglöhne haben sich hierzulande sehr stark verbreitet. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Frauen, junge Arbeitnehmer und Ausländer sowie der Bau- und der Dienstleistungssektor. Der Niedriglohnanteil unter den beschäftigen Frauen ist sogar der zweithöchse unter allen Industrieländern (nach Südkorea, noch vor den USA). Der deutsche Niedriglohnsektor hat außerdem am meisten zugenommen und lag 2007 bei einer Größe von 17,5% der Beschäftigten. Ursachen sind eine abnehmende Tarifbindung, mehr “Aktivierungsbemühungen von Transferbeziehern” und eine Zunahme von Mini-Jobs, Teilzeitarbeit und Aufstockern.

Wachsende Prekarität

Ein weiteres Ergebnisse der Studie: atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit (auch Zeitarbeit genannt), befristete Beschäftigung und Mini-Jobs haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen, oft auf Kosten regulärer Beschäftigung. Zeitarbeit wird dabei nicht primär genutzt, um den Beschäftigungsstand der Auftragslage anzupassen, sondern als eigenständige prekäre Beschäftigungsform (vor allem in der Industrie). Sie führt – ähnlich bei befriseter Beschäftigung – außerdem nicht zu mehr Übergängen in reguläre Beschäftigung. Und: die Bertelsmann-Stiftung  empfiehlt eine Angleichung der Bezahlung und Arbeitsbedingungen von Zeitarbeit und regulärer Beschäftigung. Außerdem stellt sie fest, dass Minijobs zu niedrigeren Löhnen und mehr Belastung für die Sozialsysteme führen. Diese sowie andere Kombilohn-Modelle sollten nicht ausgeweitet werden. Der Kündigungsschutz solle bei unbefristeter wie bei befristeter Beschäftigung (und auch bei der Leiharbeit) von der Beschäftigungsdauer abhängig gemacht werden. Außerdem fordert sie eine Pflichtversicherung für Selbstständige und eine Verstärkung von qualifizierenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht neu, auch ich habe auf Guardian of the Blind schon auf entsprechende Untersuchungsergebnisse (z.B. zur Lohnungleichheit und zur Leiharbeit oder zu Kombilöhnen) hingewiesen. Jedoch ist es auch, so wenig man die Bertelsmann-Stiftung mögen muss, gut zu sehen, dass mal nicht alle Neoliberalen vor den ökonomischen Tatsachen die Augen verschließen – und vor allem, dass sie diesmal sogar bereit sind, wenigstens teilweise die Konsequenzen zu ziehen und den Befunden entsprechnde Forderungen zu stellen. Würden unsere Politiker wenigstens ab und zu mal zu solchen Einsichten fähig sein, wäre schon viel geholfen. Mit einer anderen Interpretation könnte man sagen: Die Wandlungen in der deutschen Gesellschaft sind so groß, dass sie nicht mehr geleugnet werden können, auch nicht von den neoliberalen Vordenkern. Auch wenn sie oft zögern, das Wort Prekarität in den Mund zu nehmen, sondern lieber von Strukturwandel oder ähnlichem sprechen. Irgendwie muss man wohl doch noch versuchen, Schlechtes schönzureden.

Aufkommende Krise und deutsche Verantwortung

Wie dem auch sei, die Fakten sprechen für sich, und sie zeigen wenig Erfreuliches. Statt einer Zunahme von regulären, sicheren, gut bezahlten Arbeitsplätzen wurden diese oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch Unsicherheit, schlechte Bezahlung und schlechtere Arbeitsbedingungen abgelöst. Die Kurzarbeit mag Schlimmeres verhindert haben, doch sie verschleiert auch teilweise das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise. Solche Tatsachen zu benennen wäre Aufgabe eines kritischen und sachgerechten Journalismus, und nicht das blinde Zujubeln zu Regierungsverlautbarungen. Doch das will man offenbar gar nicht, wie auch die Berichterstattung zu Griechenland zeigt.

Die aufkeimende Euro-Krise, für die Angela Merkel durch ihr verantwortungslose Handeln die Hauptverantwortliche ist, wird in Europa zu fatalen Folgen führen, und, das ist abzusehen, sie wird auch an der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Arbeitsmarkt nicht spurlos vorbeiziehen. Doch sei es drum, hat man ein paar Wähler in Nordrhein-Westfalen durch die von den Mainstream-Medien bejubelte “harte Haltung” zu Griechenland und die “sensationellen Erfolg am Arbeitsmarkt” (die ja, wie gezeigt, nur sehr wenig sensationell sind), gewonnen, dann ist ja das Ziel erreicht. Auch wenn solche möglichen Wahlerfolge aufgrund der drohenden Krisen relativ klein und unbedeutend erscheinen könnten. Doch auch große Lawinen werden von kleinen Erschütterungen ausgelöst.

Bilder:

Eigene Screenshots; Merkel: http://www.flickr.com/photos/30698512@N04/4414905694/ / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

[Dieser Artikel wurde auch beim binsenbrenner.de und beim Oeffinger Freidenker veröffentlicht.]

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Wenn sich Inkompetenz und Wahlkampfmanöver paaren

Der durch einseitige Ausrichtung auf Wahlkampfinteressen bestimmte und von hetzerischen Kampagnen der Boulevardpresse begleitete zögerliche Schlingerkurs der deutschen Bundesregierung in der Griechenlandfrage hat schon jetzt zu erheblichen wirtschaftlichen und politischen Schäden geführt. Die weiteren Folgen könnten noch verheerender sein.

Die Berichterstattung der deutschen Medien zur Griechenland-Krise ist von einer selbst für diese fast beispiellosen Inkompetenz geprägt, oft besteht sie nur im Nachplappern der von Wahlkampfmanövern bestimmten Positionen der Bundesregierung bis zu offener Hetze, Diffamierungen und niederste Beleidigungen seitens des Rechts-Boulevards. Positiv ragen in der Berichterstattung fast nur Onlineveröffentlichungen, etwa bei Weissgarnix (z.B. “Drohendes Desaster”), beim Herdentrieb (Zeit Online), auf Telepolis oder vom Spiegelfechter hervor.

Statemens von (ernstzunehmenden) Ökonomen sind in den Mainstream-Medien zudem selten zu finden. Aus gutem Grund, denn deren Analysen unterscheiden sich stark von dem populistischen Griechen-Bashing des Politik-Medien-Konglomerats. Heiner Flassbeck bezeichnet in einem Interview mit tagesschau.de das Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung zu Griechenland als katastrophal, u.a. da sie “dem Irrsinn, der im Moment an den Märkten herrscht, nicht Einhalt gebietet”, der “das Resultat von Zockerei und Panikmache” sei. Europa habe es leider versäumt, Maßnahmen zur Reform der Finanzmärkte wie die aktuell von Obama geplanten zu treffen. Finanzhilfen für Griechenland seien im Grunde richtig, aber in einer solchen Krise würden Sparmaßnahmen in Griechenland, die v.a. bei Löhnen und Sozialleistungen erfolgen, dessen wirtschaftliche und soziale Schieflage weiter verschärfen. Außerdem, so ein weiterer Punkt, solle die verzerrte Wettbewerbsfähigkeit in Europa aufhören: in Deutschland müssten höhere Löhne gezahlt werden.

tagesschau. de: Andere Stimmen sagen: Wir haben die Stabilitätskriterien eingehalten durch eine zurückhaltende Lohnpolitik und gut gewirtschaftet, und jetzt sollen wir für die einspringen, die das nicht getan haben. Ist das nicht ein berechtigter Einwand?

Flassbeck: Das ist vollkommen falsch. Man hat eine Währungsunion gemacht mit einem Inflationsziel von zwei Prozent. Das ist eine implizite Verpflichtung, die Löhne ungefähr zwei Prozent über der Produktivität zu halten. Deutschland ist massiv darunter geblieben und hat damit sozusagen eine Deflationspolitik betrieben, ohne es den anderen zu sagen. So wurde Deutschland fast zum alleinigen Gewinner, während fast alle anderen darunter leiden. Das hat nichts mit Sparen zu tun: Das war und ist ein klarer Verstoß gegen den Geist der Währungsunion.

Nein, das hört man nicht gerne. Schulden und Inflation vermeiden, das ist dem Deutschen noch heiliger als sein Bier und sein Auto. Dass Deutschland zumindest eine Mitschuld an den europäischen Ungleichgewichten tragen könnte will man nicht einmal in Erwägung ziehen. Und dass die jahrelange Lohndumping-Ökonomie schädlich sein könnte, nein, dass ist ja alles nur sozialromantischer Linksextremismus! In Deutschland lässt man sich von allem, was gegen die neoliberale Ideologie spricht, egal wie gut belegt, egal wie sinnvoll es ist, schon lange keine Ratschläge geben. Flatter von Feynsinn schreibt:

Seit 30 Jahren wird gebetet, Konsum sei schädlich, niedrige Löhne gut und die jährliche Exportweltmeisterschaft pure Glückseligkeit. (…)

Kein Wort war es den gefragten “Experten” wert, wie volkswirtschaftlich – und zwar global – vernünftige Politik gestaltet werden könnte. Im Gegenteil wurde das Wohl und Wehe der Menschen dem “Standortwettbewerb” überantwortet, was nichts anderes heißt, als den manischen Egoismus eines einäugigen Betriebswirtschaftsdenkens der politischen Ökonomie überzustülpen. Werden in der kruden Konkurrenz der Betriebe und Konzerne die Verlierer vom Markt radiert oder ausgeweidet, ist das unschön, aber in Grenzen praktikabel. Dieses Prinzip aber als alternativloses den Staatswirtschaften zu verschreiben, ist ökonomischer Völkermord. Es sollte keine Volkswirtschaft existieren dürfen, die sich nicht den Regeln der profitorientierten freien Märkte unterwarf. Alternativen wurden mit aller Macht unterdrückt.

Die ökonomische Uneinsichtigkeit paart sich zudem mit parteipolitischen Interessen im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Wäre schnelle Handeln seitens der Bundesregierung erforderlich gewesen, gab es einen wochenlangen Schlingerkurs. Die Rettungsaktion für Griechenland nun dürfte als der unprofessionellste bailout aller Zeiten in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Angela Merkel hat durch ihr Wahlkampfgeschacher und -geplänkel nicht nur Griechenlands Krise verschlimmert und die Kosten in die Höhe getrieben, sondern könnte auch einen Flächenbrand in Europa ausgelöst haben, der bald auch Portugal und Spanien und dann Irland und Italien erfassen und die Eurozone in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte.

Diese Regierung hat hier wie in wohl kaum einem anderen Feld gezeigt, dass sie keinerlei Verantwortung, Solidarität oder auch nur Einsicht besitzt. Für ein paar Wählerstimmen ist man bereit, Milliardenverluste in Kauf zu nehmen, ganze Ökonomien weiter zu destabilisieren und Zinssätze und Spekulationstätigkeiten anzuheizen. Die Kosten dafür wird die Bevölkerung in Europa tragen müssen, in den betroffenen Ländern und bei uns. Die Beteiligung des IWF an den Rettungsaktionen, auf denen Merkel so bestanden hat, wid noch größere soziale Schäden verursachen und mehr Armut schaffen. Und die Kosten für die Zukunft der europäischen Integration sind kaum absehbar. Aber immerhin kann sich jetzt der Stammtisch freuen, dass WIR es diesen faulen, streikenden, schuldenmachenden, nicht sparen wollenden, korrupten, lügenden, im Luxus prassenden Pleite-Griechen mal so richtig gezeigt haben!

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Sprecht Mixa heilig!

Der bayerische Landtagsvizepräsident Franz Maget (SPD) fordert, dass Walter Mixas sein Amt als Bischof niederlegen soll. Und auch Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, fordert einen Rücktritt Mixas. Mixa hat inzwischen zugegeben, Kinder und Jugendliche geschlagen zu haben. Ohrfeigen seien noch vor 20 oder 30 Jahren “vollkommen normal” gewesen, so Mixa. Zuvor hatte er beteuert, dass er niemals körperliche Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen angewandt und ein “reines Herz” habe. Zudem wird Mixa vorgeworfen, dass er aus Mitteln einer Waisenhausstiftung Kunstgegenstände für das Pfarrhaus gekauft habe, darunter einen Kupferstich für 43.000 DM (der nebenbei höchstens 4.000 Euro wert gewesen sei und den er von einem Freund gekauft habe).

Ein anderer katholischer Bischof, Richard Williamson, wurde unterdessen wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 10.000 Euro verurteilt. Die Verteidigungsstrategie war, dass Williamson ja schließlich den schwedischen TV-Mitarbeitern gesagt habe, dass der Beitrag, in dem er den Holocaust leugnet, nicht in Deutschland gezeigt werden dürfe. Na dann!

Mixa soll also zurücktreten? Nein, der soll mal schön bleiben. Mehr noch: Die Kirche soll ihn verteidigen, soll ihn ehren, soll ihn noch zu Lebzeiten heilig sprechen. Damit es auch den Letzten klar wird, dass die Kirche ein Hort von autoritären, reaktionären, bigotten, wütenden Männern ist, die statt Nächstenliebe Hass predigen, die Unterwerfung und blinden Gehorsam fordern und hinter der frömmelnden Fassade Ansichten vertreten, die schon im 19. Jahrhundert veraltet und erschreckend wirkten. Sie sollen ruhig weiter Militärseelsorge betreiben, weiter gegen Frauen und Homosexuelle hetzen, weiter gegen Modernität und Liberalismus eintreten. Sie sollen weiter die, die sich für eine Modernisierung der Kirche einsetzen, exkommunizieren. Sie sollen die Pius-Brüder aufnehmen und die Befreiungstheologen ausschließen.

Sie sollen predigen, dass das Bestehende gerecht ist und man sich gehorsam dem Willen Gottes, seiner Stellvertreter und der Staatsmacht fügen soll, dass auch die schlimmste Ungerechtigkeit unveränderlich ist und dass das ganze Leid der Welt einen Sinn hat und einem göttlichen Plan gehorcht, und dass den Sündern ewige Verdammung und ewige Qualen drohen. Ja, sie sollen sagen, dass Homosexuelle kranke Perverslinge sind, dass Frauen weniger wert sind als Männer, dass Verhütung Mord ist und dass Kriege gegen die Ungläubigen von Gott gewollt sind. Sie sollen sagen, dass man Kinder manchmal schlagen muss als eine gerechte Strafe des Herrn, und sie sollen dabei von einem reinen Gewissen sprechen, ja, sie sollen gar ein reines Gewissen haben. Sie sollen sagen, dass diese elenden 68er-Gutmenschen schuld an Kindesmissbrauch sind. Sie sollen heucheln und lügen. Sie sollen alle moralischen Werte und Ansprüche ihrer eigenen Religion ad absurdum führen.

Dann bleiben von ihren Anhänger vielleicht irgendwann nur noch die Hardliner übrig, zu denen ihre Funktionäre gehören. Und dann werden die Kirchen endlich eine so unbedeutende Rolle spielen, wie sie sie in einer laizistischen – und v.a. einer aufgeklärten Gesellschaft – spielen sollten. Versuche derjenigen, die wirklich moralische Werte vertreten, die Kirche zu reformieren, mögen ehrenvoll sein – ich glaube aber nicht, dass sie noch Erfolg haben werden. Zu den eifrigsten Kirchenerneuerern des Zweiten Vatikanischen Konzils zählte Joseph Ratzinger, der jetzige Papst Benedikt XVI.

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