Tricksereien bei Hartz IV? [UPDATE]

Einige Indizien weisen darauf hin, dass die Bundesregierung bei der Ermittlung der neuen Hartz-IV-Regelsätze getrickst hat, um auf eine von vornherein feststehende Summe (für alleinstehende Erwachsene 364 Euro) zu kommen. Die Vorwürfe besagen im Kern, dass es sich dabei viel mehr um eine politisch gewollte statt  einer objektiv ermittelten Größe handelt und die Regelsätze künstlich heruntergerechnet wurden, um die Ausgaben so gering zu halten.

Träfe das zu, hätte die Bundesregierung grob die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes missachtet und ihnen sogar gezielt zuwidergehandelt. Eine Sammlung der bisher bekanntgewordenen Indizien, die diesen Verdacht erwecken können:


1. Bereits am 27. Oktober 2008 war in einem Bericht der Bundesregierung für 2010 ein Existenzminimum von eben genau 364 Euro vorgesehen. Wirklich nur ”ein reiner Zufall, ein Kuriosum”, wie die Regierung sagt? Und ist es ebenso ein “Zufall”, dass die Erhöhung erstaunlich genau in dem von Regierungspolitikern vorher geforderten Rahmen blieb?

2. Die Rohdaten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, auf deren Grundlage die Berechnung des Existenzminimums erfolgte, werden von der unter Verschluss gehalten und nicht einmal dem Bundestag zugänglich gemacht. Handelt man so, wenn man nichts zu verbergen hat?

3. Probleme und Verdachtsmomente treten auch schon bei der Berechnungsgrundlage auf: Bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wurden nicht, wie bei vorherigen Berechnungen, die ärmsten 20% bei den Einpersonenhaushalten, sondern diesmal die ärmsten 15% zugrunde gelegt (was einem Einkommen vom 901 statt 990 Euro entspricht). Außerdem werden verdeckt arme Familien herausgerechnet, Personen, die neben einer Arbeit Hartz IV beziehen, jedoch ohne jeden ersichtlichen Grund hereingerechnet. Es werden also Transferbezieher hinzugezogen, obwohl dies natürlich zu statistischen Zirkelschlüssen führt und überhaupt nicht im Sinn der Sache ist. All dies führt jeweils zu niedrigeren Beträgen als in einer nachvollziehbareren Berechnung. NACHTRAG (Danke, Katrin!): Noch einmal genauer: Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich geschrieben, dass in der Referenzgruppe keine Transferleistungsempfänger selbst sein dürfen, und dass deren Einkommen “statistisch zuverlässig über   der Sozialhilfeschwelle” liegen soll. Beides ist grob missachtet worden.

UPDATE (12.10.2010): Nun hat die Bundesregierung offiziell bestätigt,  bei den Referenzgruppen getrickst zu haben. Menschen ohne Arbeit und Transferleistungsempfänger wurden dort miteinberechnet, Geringverdiener machen nur einen kleinen Teil aus. In der Referenzgruppe sind lediglich 19.6% sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, 4% sind Selbstständige. Es ist also noch nicht mal ein Viertel erwärbsttätig. 37 Prozent sind Kleinrentner und -pensionäre. Und Arbeitslose sind durchaus vertreten: 20 % sind entweder ALG-I-Bezieher oder “Aufstocker”, 18% sonstige Nichtserwerbstätige.

4. Die Datensätze für die Ermittlung sind zu klein, um statistisch als valide gelten zu können. Es gibt also deutlich zu wenige Stichproben: Für 14- bis 18-Jährige beispielsweise basiert die Berechnung auf den Daten von insgesamt nur 168 Haushalten.

5. Die Stichprobe wurde außerdem nur für drei Monate erhoben, kann also deutlich verzerrt sein. Und – Ausgaben für  Posten von weniger als 25 Haushalten tauchen im  Gesetzentwurf gar nicht erst auf. Man muss also mit möglicherweise erheblichen Abweichungen und Zufälligkeiten rechnen. Bei den Ausgaben für Jugendliche etwa sind 75 von 82 Einzelposten statistisch höchst unsicher.

6. Auch bei der jetzigen Festlegung wurde der Bedarf von Kindern erneut nicht anhand des individuellen Kinderbedarfs ermittelt, sondern anhand willkürlicher Festlegungen von den Ausgaben Erwachsener anteilig abgeleitet (denn die EVS 2008 ermöglicht diese Trennung nicht, da die Ausgaben nicht altersspezifisch erfasst wurden). Das aber war der Punkt, den das BVerfG wohl am deutlichsten kritisiert und explizit für grundgesetzwidrig hatte.

7. Anscheinend willkürlich wurden aus den Verbrauchsdaten bestimmte Posten hinausgenommen: die Ausgaben für Alkohol und Tabak, aber auch zum Beispiel die für Haustierfutter, Ausgaben für den Garten, Blumen, Handy, chemische Reinigung, Benzin, Camping, Reisen, Schmuck, Besuche von Restaurants, Gaststätten oder Kantinen zählen künftig nicht mehr zum Existenzminimum. Manche Kategorien wurden nun weniger hinzugerechnet als 2003, andere wieder mehr, alles völlig intransparent und unverständlich. Insgesamt ergibt sich durch alle Streichungen eine Regelsatzkürzung von 28,99 Euro.  Und noch weitere Tricks kommen hinzu: So wurden etwa Nachhilfeausgaben nur noch bei gefährdeter Versetzung hinzugerechnet. All dies ist weder irgendwie transparent noch nachvollziehbar. Vielmehr ist der Eindruck kaum von der Hand zu weisen, dass panisch irgendwelche Posten gesucht wurden, die man kürzen konnte, um auf eine von Anfang an feststehende, fiskalpolitisch vorgegebene Summe zu kommen

8. Innerhalb der Berechnungen selbst gab es Unregelmäßigkeiten, Rechenfehler und ” ärgerliche Zahlenpannen”. Seriöse und kompetente Arbeit sieht anders aus. Können wir sicher sein, dass, falls die komplette Berechnung tatsächlich mal veröffentlicht werden sollte, nicht noch mehr Ungereimtheiten zu Tage treten?

9. Bei Maybrit Illner gab Arbeitsministerin Zensursula von der Leyen zu, dass bei der Festlegung des Hartz-IV-Regelsatzes auch das Lohnabstandsgebot miteinbezogen wurde. Derartige Äußerungen gab es zuvor schon von anderen Mitgliedern der Koalitionsparteien. Dies wäre ein eindeutiger Verstoß gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes , das dies ausdrücklich verboten hatte.

10. Auch der künftige Anpassungsmechanismus steht in der Kritik. Dieser soll zu 70 Prozent von der Preis- und zu 30 Prozent von der Lohnsteigerung abhängen. Dabei sagt die Entwicklung der Löhne (von über dem Existenzminimum Lebenden) nichts über die Höhe der notwendigen Ausgaben und über die Höhe des soziokulturellen Existenzminimus aus.


Weitere Indizien werden gerne aufgenommen!

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13 thoughts on “Tricksereien bei Hartz IV? [UPDATE]

  1. Pingback: Existenzminimum
  2. Dazu hab ich mal eine Frage:
    Ist es denn überhaupt “richtig”, dass man sich anschaut, wieviel Geld die unteren Schichten ausgeben, um zu erfahren, wie hoch der Bedarf eines Menschen in diesem Land mindestens ist?
    Gemeinhin würde ich davon ausgehen, dass man sich die Preise anschaut. Das macht doch das Statistische Bundesamt dauernd, wenn es erklärt, dass Kohl wieder teurer geworden ist und CD-Player billiger werden.

  3. Pingback: Stefan Enke
  4. “Getrickst” ist gut… Das Ganze ist ein einziger Betrug !

    Ein ganz wesentlicher Punkt:

    gegen zwei Gebote aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Februar dieses Jahres verstoßen: erstens gegen das sogenannte „Zirkelschlussverbot“ und zweitens gegen die Auflage, daß die Einkommenssituation der Referenzgruppe eindeutig über Sozialhilfeniveau zu liegen habe.

    Diese Punkte haben die Damen und Herren bei ihrer Berechnung anscheinend völlig “vergessen”.

    Eine ganz hervorragende Analyse dieses Themas habe ich übrigens vorhin hier gefunden. Das sollte wirklich JEDE/R lesen:

    http://www.meinpolitikblog.de/2010/10/05/kleinrechnerei-als-grobetrug/

  5. @ m4rc:
    Ja, das ist durchaus problematisch. Es kann ja durchaus sein, dass die tatsächlichen Ausgaben der unteren Einkommensschichten bereits unter dem soziokulturellen Existenzminimum liegen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich eine Warenkorbmethode (Verbrauchsstichprobe) zugelassen (und auch die Möglichkeit, bestimmte Posten daraus zu kürzen).

  6. Lieber Kollege,

    ich danke Dir für die wichtigen Ergänzungen zu meinem Artikel bei meinpolitikblog.de, auf den oben Katrin hingewiesen hat.

    Wichtig ist natürlich Dein Hinweis, daß mir bei der Sache mit der “Inflationsanrechnung” ein Fehler unterlaufen sein könnte. Doch schau selber nochmal ins Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar dieses Jahres hinein! Da gibt es eben genau dieses nicht: Willkürfreiheit für den Gesetzgeber, sich das Datum einfach freihändig so aussuchen zu dürfen, ab dem die Preissteigerungen, die inzwischen eingetreten sind, zu berücksichtigen sind – schon gar nicht, wie Du vielleicht annimmst, 2008! Im Gegenteil, der Bundesregierung ist aufgetragen worden, eben jenen Hartz-IV-Satz (mit seiner willkürlichen Falschberechnung) zu korrigieren, unter voller Berücksichtigung der Preissteigerungen inzwischen sowie der Erhöhung der Mehrwertsteuer 2007, wie er zum 1. Januar 2005 in Kraft trat. Dieser Regelsatz war Gegenstand der Gerichtsverhandlungen und Gerichtsentscheidungen. Oder wo steht anderes im Urteil?

    Herzlich,
    Holdger Platta

  7. Pingback: Stephan Dörner
  8. Pingback: Heiko Witte

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