Neoliberale wollen doch nur spielen

Von Marc Schanz

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Das liebste Kind der Neoliberalen ist ihre eigene Ideologie. Wer will ihnen das missgönnen? Schließlich ist eine Ideologie bequem, sie vereinfacht komplexe Zusammenhänge und erklärt obendrein dem Dümmsten die große, bunte, weite Welt in einfachen, schlichten Farben.

In Deutschland hat die Ideologie des Neoliberalismus einen Totalitätsanspruch erlangt, der verhängnisvoll an alte Zeiten erinnert. Nicht nur in der Domäne der Wirtschaft gelten seine Dogmen als alternativlos, auch sämtliche gesellschaftlichen Bereiche, wie die sozialen Sicherungsysteme, das Gesundheitswesen oder sogar unsere Freizeitaktivitäten, sind gänzlich von dieser Ideologie durchdrungen. Gier und Geiz müssen primär befriedigt werden, ob es auch sozial, gesund oder spaßig ist, wird zur Nebensache.

Die jetzige Regierung hat sich die das hehre Ziel gesetzt, die neoliberalen Reformpfosten in die noch verbliebenen hinterletzten Ecken der Gesellschaft zu rammen. Es ist daher mehr als überfällig, einmal darauf zu schauen, was diese marktradikalen Fanatiker mit ihrer Ideologie eigentlich erreichen wollen. (more…)

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Der freie Markt als Ideologie

[D]ie Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen [sind aber], sowohl wenn sie im Recht, als auch wenn sie im Unrecht sind, einflußreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes regiert. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Scheiberling ein paar Jahre vorher verfaßte. Ich bin überzeugt, daß die Macht eworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird. Diese wirken zwar nicht immer sofort, sondern nach einem gewissen Zeitraum; denn im Bereich der Wirtschaftslehre und der Staatsphilosophie gibt es nicht viele, die nach ihrem fünfundzwanzigsten oder dreißigsten Jahr durch neue Theorien beeinflußt werden, so daß die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker und selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, wahrscheinlich nicht die neuesten sind. Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht eigennützige (Gruppen-)Interessen, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.

Noch einmal möchte ich diese Stelle aus der “Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes” von John Maynard Keynes zitieren. Keynes zeigte als bekanntester Ökonom seiner Zeit die Unzulänglichkeiten und Defizite der neoklassischen Wirtschaftstheorie auf, deren Anhänger er selber lange Zeit gewesen war. Bis gegen Ende der 70er Jahre spielten Ideen von Keynes eine bedeutende Rolle. Die Idee aber, die danach in der wirtschaftspolitischen und wirtschaftswissenschaftlichen Debatte und Praxis dominant wurden, mit denen die meisten der heutigen Entscheidungsträger sozusagen aufgewachsen sind und von denen sie sich kaum lösen können, auch wenn sie sich, auch für sie selbst erkennbar als falsch erwisen haben, haben in vielen Punkten den Charakter von “wildem Irrsinn”, von starren Ideologien.

Es sind dies die Ideen, Theorien und Modelle der Neoklassik und des Neoliberalismus, die die Wirklichkeit ignorieren. So dient das “erste Wohlfahrtstheorem” der Neoklassiker, das besagt,  dass jedes Tauschgleichgewicht bei freiem Wettbewerb pareto-effizient ist, diesen als “schlüssiger Beweis” für die Gültigkeit von Adam Smiths “unsichtbarer Hand des Marktes” (wobei diese Aussage nicht auf Smith zurückzuführen ist). Dieser “Beweis” jedoch ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Ideologie: die fundamentalen Annahmen sind viel zu sehr an künstlich konstruierte, nicht in der Realität herstellbare Annahmen gebunden, um Gültigkeit oder Anwendbarkeit beanspruchen zu können. Der methodische Individualismus und das Bild des Menschen als Homo Oeconomicus sind wissenschaftlich nicht haltbar. Vielmehr ist es wohl so, dass die Anhänger der Neoklassik diesen ausschließlich egoistischen und in ihrem, im egosistischen, Sinne “rational” handelnden Menschen v. a. so haben wollen. Die von der Neoklassik vorausgesetzte Marktrationalität (Planübereinstimmung) der Wirtschaftssubjekte ist (als nachgeschoben unterstellte Rationalität)  problematisch, wenn sie in die Zukunft gerichtet ist (rationale Erwartung). Diese Vorstellung ist in der Realität nicht zutreffend. Warum wird sie dennoch von der neoklassischen Ökonomie vertreten? Auf ihr beruht ihr “Nachweis”, dass staaliches Eingreifen die Allokation nicht verbessern, sondern nur Störungen verursachen kann. Dieser “Nachweis” war die Intention des (nicht zutreffenden) Modells. Sich aber ein (nicht zuteffendes) Modell zu basteln, um einen politischen Zweck (kein Eingreifen des Staates in die Wirtschaft) scheinbar wissenschaftlich zu legitimieren, ist alles andere als ein wissenschaftliches Vorgehen.

Die Ansätze der Mainstream-Ökonomie können ideologisch gewendet werden. Möchte man nicht den Begriff der “Ideologie” verwenden, könnte man sagen, in ihnen herrscht eine wenig oder gar nicht reflektierte oder gar eine negierte Diskrepanz zwischen Vorstellung und Erfahrungswelt. Stimmen Theorie und Modelle nicht mit der Wirklichkeit überein, stört dies die überzeugten Verteter der orthodoxen Wirtschaftslehre nur in den seltensten Fällen. So wird etwa ein freier Wettbewerbsmarkt von ihnen als ein idealer Zustand angesehen, gleichzeitig aber propagieren sie die unveränderte Anwendung von Modellen, die für diesen (für sie) Idealzustand geschaffen wurden, für die Realität, in der dieser so, in reiner Form kaum existent ist (und dies oft auch nicht sein kann). Sie erleben die Diskrepanz zwischen Wunsch(vortellung) und Wirklichkeit nicht, da sie in einer, in ihrer Utopie leben, z.B. in der Utopie des freien Marktes, in einer konstruierten Wirklichkeit, die ihnen als Orientierungspunkt für Denken und Handeln dient.

Woher kommt dieser Mangel an Reflexion? Die Ideologiehaftigkeit der neoliberalen Lehre wird von ihren Anhängern zwar oft bestritten, die sich häufig auf angeblich “objektive Erkenntnisse” berufen und ihre Lehre oft als unwiderlegbar, als die eigentlich einzige überhaupt mögliche verstanden haben wollen. Ab er ab und zu gibt es Aussagen, die einigen Aufschluss erlauben. Alan Greenspan, bis Januar 2006 Vorsitzender der US-amerikanischen Notenbank, gab 2008 in einer Anhörung zur Finanzkrise vor dem US-Kongress zu, dass er, auch in seinen Entscheidungen als Notenbankchef, durchaus eine Ideologie vertreten habe, die Ideologie des freien Marktes. Er sei in Folge der Finanzkrise “geschockt” gewesen, dass die Voraussagen seiner Ideologie nicht zugetroffen habe. Er habe Probleme, die Finanzkrise wirklich zu verstehen (und kommt aber nicht etwa  auf die Idee, vielleicht einmal Minsky zu Rate zu ziehen – dieser würde nicht in seine Ideologie passen). Wohin diese Ideologie und ihr Versagen geführt hat, zeigte in aller Deutlichkeit die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Zur Verdeutlichung von Greenspans (ideologischen) Ansichten sollten wir einen Blick auf die Einflüsse, die auf ihn als junger Mann gewirkt haben, werfen. Grennspan war ein Schüler der US-amerikanischen Schriftstellerin ud Philosophin Ayn Rand. Diese und ihre zahlreichen Schüler forderten einen “rationalen Egoismus”. Sie vertaten einen radikalen Laissez-faire-Kapitalismus und wendeten sich gegen jegliche Sozialmaßnahmen. Doch am meisten Aufschluss über ihre Ideologie liefern die Romane Rands. In “Atlas wirft die Welt ab”  etwa gibt es am Ende den feierlichen Schwur “Ich schwöre, dass ich niemals zum Wohl eines Anderen leben werde und niemals von einem Anderen verlangen werde, für mein Wohl zu leben”. Am Ende erscheint, quasi als Zeichen der Erlösung und der zu erwartenden paradiesischen Zustände des grenzenlosen Egoismus, über den Menschen am Himmel ein $-Zeichen.

Von Ideen kommt Gefahr, zum Guten oder zum Bösen. Wenn dise Ideen Ideologien darstellen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, wenn sie eine Ideologie produzieren, die dalle Menschen als ausschließlich egoistisches Wesen sehen will, in der Gerechtigkeit, Solidarität, Mitmenschlichkeit bloße Hindernisse für das Durchsetzen des Einzelnen darstellen, dann fällt es schwer zu erklären, was diese zum Guten verändern sollten.

Dieser Beitrag ist inspiriert  durch und greift Aussagen auf aus dem Vortrag “Die optimale Allokation durch den Markt als Ideologie?” von Prof. Dr. G. M. Ambrosi (VWL) im Rahmen der Vortragsreihe “Zur politischen Kritik der Ökonomie” an der Universität Trier.

NACHTRAG (Links):

Ein guter Beitrag, der zeigt, wie Keynes eine sinkende Kapitalrendite voraussagte und erklärte – eine Annahme, die auch empirisch beobachtbar ist: Der kollektive Wahn der Anleger-Gesellschaft oder der Wunschtraum ewiger risikoloser Rendite (Blog ohne Namen)

Die Talkshow-Ökonomen fordern mal wieder Lohnzurückhaltung, angeblich rein pragmatisch und völlig unideologisch: Frei von Gesinnung (ad sinistram)

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Marcuse, 1968 und heute

Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 268.)

Herbert Marcuse lieferte mit “Der eindimsionale Mensch” eine umfassende Beschreibung der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, die jegliche Opposition ersticken – und dies schon im Denken der Menschen. Doch Opposition ist notwendig – eine neue, eine bessere Gesellschaft muss gewünscht, gedacht werden und es muss versucht werden, sie umzusetzen. Eine Gesellschaft, wie sie Marcuse sich vorstellt, kennt keine Herrschaft mehr, keine Klassen, keine Verschwendung und Irrationalität, keine Kriege,  sie befriedigt die menschlichen Bedürfnisse bei einem Minimu an harter Arbeit. Die Möglichkeiten dafür sieht er bereits in der bestehenden Gesellschaft, die Analyse dieser mache aber nur allzu klar, dass dafür eine Umwälzung notwendig sei.

Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten des freien Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten Aktionen des Protests und der Weigerung. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 253.)

Die Akteure, die eine Veränderung möglich machen würden, sieht Marcuse sehr beschränkt, und im Eindimensionalen Menschen kommt er erst auf den letzten zwei Seiten auf sie zu sprechen . “Das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen”: ihre Opposition sei revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein. Würden sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel der bestehenden Gesellschaft mitzuspielen, schließlich sich zu Protest aufraffen, könnten sie “den Beginn des Endes einer Periode” makieren. Diese Chance bestünde, wenn sie als “ausgebeutetste Kraft” der Menschheit mit ihrem “fortgeschrittensten Bewußtsein” aufeinandertreffen würden. Im Zuge von 1968 sah er dieses Bewusstsein teilweise in den Studenten. Marcuse hatte großen Einfluss auf diese gehabt, gerade “Der eindimensionale Mensch” stellte mit seiner Analyse des repressiven Charakters der bestehenden Gesellschaft die Notwendigkeit ihrer Veränderung klar heraus.

Es hat sich wohl gezeigt, dass Herbert Marcuses früherer Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Änderung berechtigter war als sein späterer Optimismus, mit Sicht auf die Studentenproteste und die „68er“ Bewegung, in denen er, mehr als andere Vertreter der kritischen Theorie wie Adorno, Kräfte sah, die einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen konnten. Zwar gab es in der Tat Änderung hin zu größeren gesellschaftlichen Freiheiten, jedoch blieben großes sozialen Änderungen oder gar solche am „System“ aus. Der reaktionär-konservative Spießer-Muff, de die Bundesrepublik Deutschland 1968 in den weitesten Teilen beherrschte, wurde gebändigt. Dass das Ideal einer offenen, toleranten Gesellschaft stärker Fuß fassen konnte, haben wir ohne Zweifel den Protesten von 1968 zu verdanken. Das wirtschaftliche Syste blieb währenddessen nicht nur unangetastet. Nach einer Phase einer umfassenderen Sozialpolitik, einer keynsianischen Wirtschaftssteuerung und einer Ausweitung von Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechten unter den Regierungen mit SPD-Beteiligung glitt Deutschland 1982 vollends in den Neoliberalismus nach dem Vorbild Reagans und Thatchers mit den gesitigen Vätern Hayek, Friedman und speziell für Deutschland Hayek ab. Rot-grün (nach einer 6-monatigen Verschnaufpause) und die große Koalition setzten die Politik des Sozialabbaus und des Marktradikalismus fort – und dies auch unter maßgebliche Beteilgung früherer “68er” und ehemaliger Linker. Und jetzt haben wir mit schwarz-gelber Kopfpauschale, Stufensteuer und Klientelgeschenken eine neue Stufe der Entsolidarisierung.

Dass eine eindimensionale Ideologie, die die Möglichkeiten einer Veränderung und Verbesserung des bestehenden negiert und als unrealistisch oder utopisch brandmarkt, die Ideologie der gegebenen Tatsachen, immer noch vorherrschend ist, sieht man z.B. in den politischen Argumentationen im Hinblick auf „Reformen, zu denen es keine Alternative gibt“ und ähnlichen immer wiederkehrenden Phrasen und Floskeln. Irrationalität, die nicht als solche wahrgenommen wird, besteht weiterhin. Indem man sich immer mehr von der sozialen Seite der Sozialen Marktwirtschaft entfernt und immer mehr Menschen die Nachteile erfahren, könnte sich vielleicht irgendwann Widerstand regen. Doch auch dies bleibt nich mehr als eine Möglichkeit.

Die freie Wahl des Herrn beseitigt nicht die Unterscheidung zwischen Herrn und Sklaven. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“)

Die ursprünglichen und grundlegenden Vorstellungen und Ideale marxistischer Theorie, die auf Abschaffung von Arbeit und Herrschaft gerichtet sind, sollten nicht vergessen werden. Die Gesellschaft, die wir heute haben, ist vielleicht eine der fortgeschrittensten, die historisch je erreicht wurde. Doch das heißt nicht, dass nicht auch hier positive Veränderungen möglich sind. „Das bessere ist der Feind des Guten“, sagte schon Voltaire.

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Eindimensionales Denken, eindimensionale Gesellschaft, eindimensionaler Mensch: Herbert Marcuses Ideologie- und Gesellschaftskritik

Nach der Beschreibung der Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels möchte ich nun die Ideologiekritik von Herbert Marcuse*, einem Vertreter sehenden Kritischen Theorie (Frankfurter Schule), die sich in marxistischer Tradition seieht, diesen jedoch für erneuern und aktualisieren möchte, darstellen.

Stellenwert der Ideologiekritik und Verständnis von Ideologie in der Kritischen Theorie

Das Ideologieverständnis der Kritischen Theorie steht zwar in der Marxschen Tradition. Aber, so ihre Vertreter, die Totalität des Spätkapitalismus (oder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft) besetze das Bewusstsein der Individuen so stark, dass die Differenz und Trennung von Basis/ gesellschaftlicher Realität und ideologischem Überbau (sowie von Individuum und Gesellschaft) des klassischen Marxismus zunehmend relativiert werde. Deshalb werde die Kritik des Überbaus in der Gesellschaftskritik wichtiger, der geistige Bereich  müsse von der drohenden Absorbierung durch die materielle Wirklichkeit gerettet werden und bisherige Kategorien des Marxismusreichten nicht mehr aus.

Ziel ist für die Kritische Theorie eine Gesellschaft, in der Sein und Bewusstsein nicht mehr getrennt sind. In dieser Gesellschaft gibt es außerdem eine „Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des ‘Kampfs ums Dasein'” (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 263). Gegensatz dazu ist ideologisches, „positives“ Denken – solches Denken, das Tatsachen einfach als gegeben akzeptiert und die Möglichkeit oder Notwendigkeit ihrer Veränderung nicht in Betracht zieht.

Eindimensionalität als Ideologie der Industriegesellschaften

Das Verhältnis zwischen Ideologie und Realität ist bei Marcuse eine historische Relation und also veränderbar. Dasein ist für ihn in seinen Frühwerken stets schon material und geistig, ökonomisch und ideologisch zugleich, ideales Sein, auf materialem fundiert (Überbau-Basis).

Der marxistische Bergriff des ideologischen als falschen Bewusstseins nun schiene, so Marcuse, auf die hoch entwickelte Industriegesellschaft nicht mehr anwendbar: diese habe ihre Ideologie in die Realität politischer Institutionen umgesetzt. Man könne nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, das Bewusstsein werde vom gesellschaftlichen System absorbiert. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft kann (dank Überflusses durch die Technologie) Konflikte dadurch vermeiden, dass sie all die assimiliert, die in früheren Gesellschaftsformen Kräfte des Nonkonformismus darstellten. Freiheit von Mangel wird zur Stütze der Herstellung von Abhängigkeit und der Verewigung von Herrschaft, der Konsum befriedigt materielle Bedürfnisse und stellt Identifikation mit dem bestehenden System her.

Unter dem Einfluß des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, der Größe und der Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates und des steigenden Lebensstandards zerbricht die politische Opposition gegen die fundamentalen Institutionen der alten Gesellschaft und wird zur Opposition innerhalb der akzeptierten Bedingungen (…) Errungenschaften (…) und die Integration der Gegensätze (…) fördern die materielle und geistige Stabilisierung (…) Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimese: eine unmittelbare Identifizierung des einzelnen mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als Ganzem“. (Marcuse: „Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft“, S. 321, 323, 334)

So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. (…) Der heutige Kampf gegen diese geschichtliche Alternative findet eine feste Massenbasis in der unterworfenen Bevölkerung und seine Ideologie in der strengen Orientierung von Denken und Verhalten am gegebenen Universum von Tatsachen.  (Marcuse: Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, S. 32, 36)

(…) in den fortgeschrittensten Bereichen der Industriegesellschaft ist heute sogar bei den ,Benachteiligten’ eine ,innere’ Identifizierung mit dem System vorhanden, ein positives Denken und Handeln (Marcuse: Ideologieproblem, S. 326)

Widersprucht erscheint dabei irrational und Widerstand unmöglich (vgl.: Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 29). Sowohl materiell als auch ideologisch seien die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten, in das System integriert, weshalb das Proletariat sich nicht mehr qualitativ von anderen Klassen unterscheide und keine qualitativ andere Gesellschaft schaffen könne. Jedoch existierten immer noch Menschen, deren Opposition, wenn auch nicht ihr Bewusstsein, revolutionär sei. Denn ein von äußeren Umständen unterschiedliches individuelles Bewusstsein, schrumpfe, und der Verlust dieser inneren Dimension sei das ideologische Gegenstück zum materiellen Vorgang, in welchem die Industriegesellschaft Opposition eindämme. Ideologie, Herrschaft, Verwaltung, Wirtschaft, Technologie und Produktionsprozess sind miteinander verflochten und als verdinglichtes System Instrumente zur Beherrschung von Natur und Menschen. Die heutige Realität eines angeblichen Pluralismus sei ideologisch, da die herrschenden Mächte das gemeinsame Interesse der Bekämpfung historischer Alternativen (zu dieser heute bestehenden Gesellschaft) hätten.

Technologische Rationalität als Herrschaftsrationalität

Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit zu beseitigen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden. (Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 14)

Die Ideologie der hoch entwickelten Industriekultur (die ideologischer als ihre Vorgänger sei) sei im Produktionsprozess selbst zu finden. Für Marcuse sind im Gegensatz zu Marx die Produktionsverhältnisse nicht die das gesellschaftliche Leben bestimmende Basis. War bei Marx die Kritik der Ideologie Kritik der Abhebung der Philosophie von der sozioökonomischen Realität, sieht Marcuse die Ideologie des herrschenden Bewusstseins im Denken in technologischer Rationalität und seiner Beschränkung auf die bestehende Welt.

Von Marx Unterscheidung der konketen und abstrakten Arbeit kommend, sagt Marcuse, wie in der abstrakte Arbeit Menschen nach quantifizierbaren Qualitäten verbunden werden (als Einheiten abstrakter Arbeitskraft), so hätten sich diese abstrakten Kategorien in wissenschaftliches und technisches Denken übertragen: Abstraktion von Konkretem, Quantifizierung der Qualitäten. Die heutige positivistische Wissenschaft befreie die Natur von allen Zwecken, die Materie von allen Qualitäten. Im Vordergrund stehen Operationalisierbarkeit, praktische Verwertbarkeit. Diese „wissenschaftliche Rationalität“ ist wertfrei, sie setzt keine Zwecke fest, ist ihnen gegenüber neutral. Die technologische Rationalität sieht Natur und Menschen nur noch als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation, als Mittel an sich und hat einen zutiefst instrumentalischen Charakter (“technologisches Apriori”). Die Beherrschung der Natur sei mit Beherrschung des Menschen verbunden; Mensch und Natur werden zu ersetzbaren Objekten. (Marcuse setzt hier eine Analogie zur formalen Rationalität Max Webers: Rationalität der angewendeten Mittel für beliebige Zwecke. Die technologische Rationalität sei zweckrationales Handeln.) Marcuse kritisiert, dass diese Art von Wissenschaft die Realität nicht mehr „transzendiere“: qualitativ andere Sichtweisen, neue Beziehungen Mensch-Mensch und Mensch-Natur werden nicht ins Auge gefasst, es herrscht eine Beschränkung der technologischen Rationalität auf Bestehendes.

Dadurch, dass die Technologie indifferent gegenüber jeglichen (Produktions-) Zwecken ist, wird die gesellschaftliche Produktionsweise bestimmend. Der Logos der Technik wird zum Logos der Herrschaft. Technologie erscheint selbst als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft.  Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung stabilisiert das gesellschaftliche System und legitimiert die Herrschaftsbeziehungen. Sie ist statisch und konservativ. Bürokratie und Technologie werden selbst zu Herrschaftsinstanzen, Herrschaft erweitert sich als Technologie. Die Organisation der Gesellschaft erfolgt nun unter den Erfordernissen der Beherrschung. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen und scheinbar objektiven, verdinglichteten System. Sprache, Libido, Wohlfahrt und Arbeit werden zu Instrumenten totaler Herrschaft (über die Natur und über Menschen). Unfreiheit erscheint als Unterwerfung unter technischen Apparat. Und der technologische Apparat legt sozial notwendige Bedürfnisse, Fähigkeiten und Haltungen fest und bilde Formern von sozialer Kontrolle und sozialem Zusammenhalt,. Er zwingt der materiellen und geistigen Kultur seine wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf. Seine Produkte manipulierten, fördern ein falsches Bewusstsein und binden die Konsumenten an die Produzenten.

Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfut am Main 1969, Seite 9.)

Horkheimer und Adorno entwicklen in der “Dialektik der Aufklärung”, einer der wichtigsten Schriften der Kritischen Theorie, eine ganz ähnliche Kritik der Rolle der technologischen Rationalität, einer Zweckrationalität, die keine Qualitäten, keine Zwecke und keine Ziele mehr kennt.

Darin aber, dass nicht erst die kapitalistische Anwendung der Technik Herrschaft, sondern Technik selbst Herrschaft sei, widerspricht die Kritische Theorie klar Marx: Wissenschaft und Technik können für diesen auch für andere als kapitalistische Zwecke verwendet werden, die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit erst lässt diese zu Instrumenten der Ausbeutung und Herrschaft werden, sie seien an sich neutral.

Statt Entfremdung: die Menschen “identifizieren sich mit ihren Produkten”

Der Mechanismus, der das Individuum mit seiner Gesellschaft verbindet, habe sich verändert, da die soziale Kontrolle nun in den neuen Bedürfnissen, die sie hervorgebracht hat, verankert sei. Die Bedürfnisse (die im klassischen Marxismus Maßstab und nicht Gegenstand der Kritik waren) werden manipuliert, politisch-wirtschaftliche Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu individuellen Bedürfnissen, repressive Bedürfnisse dienen der Erhaltung und Ausdehnung des Systems und der Verewigung des Kampfs ums Dasein.

Und der klassische Marxsche Begriff der Entfremdung erschiene fragwürdig, da die Menschen sich nun in ihren Gütern erkennen und mit ihrer Existenz identifizieren. Das entfremdete Subjekt werde von seiner entfremdeten Existenz „verschlungen“, und das Bewusstsein werde zum glücklichen Bewusstsein, dass auch Untaten der Gesellschaft mit dem Glauben an die Vernünftigkeit des Wirklichen hinnimmt – dies sei der produktive Überbau über der Basis der Gesellschaft. Die Subjekt-Objekt-Differenz ist aufgehoben oder irrelevant, die Differenz von gesellschaftlicher Basis und Überbau (im Medium der Machbarkeit) ausgelöscht und die Aussage Marxens, dass das gesellschaftlich-materielle Sein das Bewusstsein bestimmt, ist nicht länger sinnvoll.

Eindimensionalität in Sprache, Kultur und Philosophie

Die kritische Theorie hat sich als „Theorie des Überbaus“ gegen eine Sicht, die in Kultur und Philosophie nur einen passiven Reflex der ökonomisch-technischen Entwicklung, bloße Ideologie, sieht, gewandt. Die „affirmative Kultur“ der bürgerlichen Epoche habe dazu geführt, die geistig-seelische Welt als selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen, die Kultur bejahe und verdecke die neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen; der Wandel sei durch den veränderten Charakter der Klassenverhältnisse verursacht.

In Sprache und Denken würde nur noch die empirische Dimension bestehen. Die transzendentale, über das Bestehendehinausgehende, die oppositionelle, “negative” Dimension wird ausgeblendet. Widerspruch gegen Bestehendes erscheint nun irrational, es entsteht eindimensionales Denken und Verhalten. Bei der „eindimensionale Kultur“, wurden deren transzendente Elemente, die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, geschmälert und sie wurde kommerzialisiert. Es gäbe Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlich-philosophischen und gesellschaftlichen Vorgängen, der soziale Kampf gegen historische Alternativen finde seine Ideologie in der Eindimensionalität, der starren Ausrichtung von Denken und Handeln an gegebenen Tatsachen und Möglichkeiten, der empiristischen Bewegung in den Sozialwissenschaften und dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, die die transzendenten, negativen Elemente der Vernunft verneinen. Sie seien das akademische Gegenstück zum sozial notwendigen Verhalten und hätten ideologischen Charakter. Stärke der Philosophie zeigt sich bei Marcuse im Gegensatz zu Marx in ihrer Loslösung vom Konkreten und unmittelbar gegebenen und der Entgegensetzung des Reiches der Möglichkeit, sie ist also gewissermaßen „Utopie“. Sie wirke auch teilweise ideologisch, da abstrakt, spekulativ und von einer Position außerhalb der Gesellschaft.

Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Marcuse: Der Eindimensionale Mensch, S. 268.)

Zusammenfassung

Marcuse, der sich und die Kritische Theorie in der Marxschen Tradition versteht und diese für seine Zeit anwendbar machen wollte, benutzt viele von Marxens Gedanken und Begriffen, doch er passt sie an seine Zeit an. Daher gibt es Unterschiede zu Marx. Die Trennung von Basis und Überbau von Marx wird zunehmend nebensächlich, man kann nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen, da das Bewusstsein vom gesellschaftlichen System absorbiert werde. Marx kritisierte die Abgehobenheit der seinerzeitigen deutschen Philosophie von der Realität, aber aufgrund dieser geänderten Realität sieht Marcuse die Aufgabe der Philosophie, die bestehende Realität zu überschreiten, eine zweite, negative, utopische Dimension zu besetzen und die Eindimensionalität der gegnwärtigen Philosophie, der gegenwärtigen Wissenschaft, der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuheben. Er sieht Eindimensionalität in Denken und Handeln als die Ideologie seiner Zeit.

Die Ideologie erscheint bei Marcuse ungemein totaler und umfassender als bei Marx. Die Menschen werden von einer totalen Technokratie im Interesse der Aufrechterhaltung von Herrschaft manipuliert, Opposition wird in das System integriert (so die Klassen, die einst die Negation des Kapitalismus darstellten). Ideologie, Verwaltung, Wirtschaft, Sprache, Technologie sind zusammenhängende Instrumente der Beherrschung. Menschen erkennen sich in ihren Gütern, der Entfremdungsbegriff ist so nicht mehr zeitgemäß. Bedürfnisse können manipuliert und müssen hinterfragt werden, sie können der Herrschaft dienen. Ein großer Unterschied zu Marx ist außerdem, dass Marcuse technologische Rationalität als Logik der Herrschaft sieht und die Ideologie im Produktionsprozess. Marx sah dagegen in den Produktionsverhältnissen die das gesellschaftliche und das geistige Leben bestimmende Basis,  und er betonte die Neutralität der Technik.

Marcuses Betrachtung der Industriegesellschaften und ihrer Ideologie wirkt sicher drastisch, verstörend, desillusionierend und seine Beschreibung ist sicherlich auch überzogen, griff jedoch damals existierende und meiner Meinung nach noch existierende Tendenzen auf und veranschaulichte ihre Gefahren. Sein Verdienst ist im Hinblick auf die Ideologiefrage besonders, gezeigt zu haben, wie die heutigen Gesellschaften frühere oppositionelle Kräfte integriert hat, die nun zu glühenden Verfechtern des Systems geworden sind, und wie die heutige Gesellschaft jegliche Kritik des bestehenden Systems und jegliche Konzeption von Alternativen als “unrealistisch”, “utopisch”, gar als “unmöglich” brandmarkt.

Quelle: www.marcuse.org/herbert/booksabout.htm (Marcuse family, represented by Harold Marcuse unter creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

*: Marcuse liefert diese v. a. in den folgenden Werken, aus denen auch die Zitate stammen:

Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (hier zitiert nach: Neuwied und Berlin 1967, Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand, September 1970).

“Über das Ideologieproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft”, aus: Paper: Fifth World Congress of Sociology, Washington D. C. 1962, in: Lenk, Kurt (Hrsg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenssoziologie, herausgegeben und eingeleitet von Kurt Lenk, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 320 – 341.

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Das Sein bestimmt das Bewusstsein: die Ideologiekritik von Karl Marx und Friedrich Engels

„Nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.“ (Aristoteles zugeschrieben)

Ist unser Denken wirklich frei? Von wem ist es beeinflusst? Können wir unser Denken und uns selbst befreien? Diese Fragen sind grundlegende Fragen der menschlichen Existenz, doch auch und v. a. der gesellschaftlichen Realität, seit Karl Marx sagte, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein bestimmt. Ist unsere “freiheitliche” Gesellschaft wirklich freiheitlich für alle Menschen? Warum wird eine andere Gesellschaftsform kaum diskutiert, geschweige denn gewünscht?

Dies sind ein paar grundsäzliche Fragen der Ideologiekritik, und ich möchte hier darstellen, was diese bedeutet anhand des Beispiels, wie Karl Marx als der Begründer der Ideologiekritik diese Fragen beantwortet hat.

(In einem folgenden Beitrag möchte ich dann betrachten, wie die Kritische Theorie, die den Marxismus erneuern will, so dass er für die heutigen Gesellschaften anwendbar ist, dies sieht und welche “Aktualisierungen” der klassischen Marxschen Theorie sie hier vorgenommen hat. Als Beispiel soll dann Herbert Marcuse mit seiner Kritik der Eindimensionalität dienen).

Ideologiekritik und Materialismus

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um: Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten.

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Oberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, 1859, MEW 13, S. 7-11.)

Die Kritik des Bestehenden begann bei Karl Marx und Friedrich Engels als Kritik des Bewusstseins. Erst Marx und  Engels haben „Ideologie“ zu einer politischen Theorie ausgebaut, und diese durchzieht ihr Werk. Die Lehre von der Ideologie ist also auch eines der wichtigsten Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung, die Erkenntnis der Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins der Menschen in ihrem Bewusstsein eine ihrer zentralen Aussagen. Auch wenn die Voraussagen des historischen Materialismus sich als falsch erwiesen haben, kann doch die Ideologiekritik als philosophische Idee durchaus weiter existieren.

Wurzeln des Ideologiebegriffs von Marx und Engels sind Kritik an Hegels  Philosophie, v. a. seiner Staatsphilosophie (die Hegelsche Vorstellung von Geschichte als Werk von Ideen ist für Marx Verkehrung im Bewusstsein der deutschen Ideologen als theoretischer Ausdruck der Verselbstständigung der Waren; Menschen sind für Marx der alleinige Träger der historischen Entwicklung), an Feuerbachs Anthropologie und an der klassischen Nationalökonomie (etwa Adam Smith oder David Ricardo). Die Geschichte der Philosophie habe sich laut Engels durch die Erkenntnisse von Marx und ihm weitgehend als Geschichte der Ideologie erwiesen.

Bewusstsein als gesellschaftliches Produkt

Das Bewusstsein des Menschen ist bei ihnen von vornherein gesellschaftliches Produkt. Ideologien sind falsches Bewusstsein im Sinne gesellschaftlich notwendigen Scheins, können nicht bewusst inszeniert werden und sind – da gesellschaftlich erzeugt -notwendiger Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse.

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Position, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp, aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung der Produktivkräfte (…) Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera Obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“. (Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie – Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 1845-1846.)

Entfemdung, Verdinglichung und Warenfetischismus

Entfremdung ist eine für den Produzenten von Waren, den Arbeiter, als unterjochende Herrschaft der Waren, seiner vergegenständlichten Arbeit, fühl- und erfahrbare Erscheinung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und -bedingungen. Durch industrielle Produktion und Arbeitsteilung habe die Arbeit für den Proletarier jeden selbstständigen Charakter verloren, er werde „Zubehör der Maschine“, „Arbeitsinstrument“ und produziere eine ihm fremde, ihn aber beherrschende Macht.

Warenfetischismus als wesentliches Element der Entfremdung bedeutet eine Verzerrung von Subjekt und Objekt, die Herrschaft der Produkte über den Produzenten: gesellschaftliche Phänomene verselbstständigen sich von ihren Entstehungsbedingungen („Verdinglichung“, „Versachlichung“). Diese erscheinen als allgemeingültig. Die Produkte der menschlichen Arbeit werden nur noch im Tauschwert (der sich im Preis ausdrückt), nicht mehr im Gebrauchswert (der Nützlichkeit) der Dinge erfahren, und dies hat Auswirkungen auf das Bewusstsein. Arbeitsprodukte, Dinge erhalten als Waren eine gesellschaftliche Beschaffenheit. Die Ware spiegelt den Menschen die gesellschaftlichen Eigenschaften ihrer eigenen Arbeit als Eigenschaften des Arbeitsprodukts selber, als natürliche Eigenschaften dieser wider.

Ideologie als falsches Bewusstsein

Sozusagen Gegenstück zu der ökonomischen Entfremdung (als totales Fremdsein von sich selbst, Mitmenschen, Arbeit, Natur, Gesellschaft und Transzendenz) sind „ideologische Nebelbildungen“ scheinbar ewiger Ideen (die auch zu selbstständigen Mächten verdinglicht werden) und Prinzipien. Produkte des menschlichen Geistes scheinen mit eigenem Leben ausgestattete selbstständige Gestalten. Wirklichkeit wurde und wird bei  Marx und Engels (unbewusst) verzerrt widergespiegelt. Die Basis des Kapitalismus reproduziert sich, die Bewusstseinsprozesse überwinden den Rahmen der Gesellschaft nicht und werden bürgerliches Bewusstsein. Ideologie ist mit Lage und Interessen der herrschenden Klassen verknüpft, sie stützt deren Macht und lähmt die politische Kraft derer, die sie über ihre Lebensverhältnisse täuscht.

Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker Vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. (Aus einem Brief von Friedrich Engels an Frank Mehring.)

Während in den Frühschriften von Marx Ideologien von aller Realität losgelöste metaphysische Gedanken sind, sind sie in den ökonomischen Schriften mit falschem, der (ökonomischen) Wirklichkeit nicht entsprechendem Bewusstsein identisch  (idealistisch-spekulatives als Grundzug bürgerlichen Denkens sei Ideologie). Im Historischen Materialismus hat ideologisches Bewusstsein eine Tendenz, gegenüber dem materiellen Unterbau selbstständig zu werden und durch einen Rückkopplungsprozess das gesellschaftliche Sein wiederum zu bestimmen.

… es kommt aber darauf an, sie zu verändern

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. (Karl Marx: Thesen über Feuerbach., 1845, MEW 3, S. 7.)

Die (ideologischen) Philosophen der Vergangenheit hatten die materiale Basis ihrer Ideologie nicht erkannt. Es soll dagegen bei der  Ideologiekritik von Marx und Engels nicht nur bei Erkenntnis des falschen Bewusstseins bleiben – die gesellschaftlichen Ursachen sollen angetastet werden. Ideologiekritik und Basis-Überbau-Konstruktion sind in ein politisches Programm eingebunden.

Über Stärken und Schwächen dieses politischen Programms zu sprechen, ist ein anderes Thema. Fest steht, dass  Karl Marx und Friedrich Engels mit dem historischen Materialismus und seiner Aussage, dass das Sein das Bewusstsein bestimt, die Philosophie revolutioniert haben. Um das zuzugestehen, muss man kein orthodoxer Marxist sein.

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