Neoliberale wollen doch nur spielen

Von Marc Schanz

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Das liebste Kind der Neoliberalen ist ihre eigene Ideologie. Wer will ihnen das missgönnen? Schließlich ist eine Ideologie bequem, sie vereinfacht komplexe Zusammenhänge und erklärt obendrein dem Dümmsten die große, bunte, weite Welt in einfachen, schlichten Farben.

In Deutschland hat die Ideologie des Neoliberalismus einen Totalitätsanspruch erlangt, der verhängnisvoll an alte Zeiten erinnert. Nicht nur in der Domäne der Wirtschaft gelten seine Dogmen als alternativlos, auch sämtliche gesellschaftlichen Bereiche, wie die sozialen Sicherungsysteme, das Gesundheitswesen oder sogar unsere Freizeitaktivitäten, sind gänzlich von dieser Ideologie durchdrungen. Gier und Geiz müssen primär befriedigt werden, ob es auch sozial, gesund oder spaßig ist, wird zur Nebensache.

Die jetzige Regierung hat sich die das hehre Ziel gesetzt, die neoliberalen Reformpfosten in die noch verbliebenen hinterletzten Ecken der Gesellschaft zu rammen. Es ist daher mehr als überfällig, einmal darauf zu schauen, was diese marktradikalen Fanatiker mit ihrer Ideologie eigentlich erreichen wollen.

Die Kernüberzeugung des Neoliberalismus dürfte in etwa so lauten: die Marktkräfte sind der Ausdruck des reinen göttlichen Willens, sie dürfen daher niemals und unter keinen Umständen angetastet werden. Alle anderen angeblichen Götter, wie Menschenwürde oder -rechte, die demokratischen Spielregeln oder die sozialen Werte einer Gesellschaft, sind des Teufels und müssen sich bedingungslos der ökonomischen Allmacht beugen.

Der freie Markt muss ungestört von irgendwelchen unwichtigen Randbedingungen seine Güter produzieren können. Ob Menschen hungern, endliche Ressourcen verschleudert oder die Umwelt verschmutzt und verseucht werden, ist unwichtig. Hauptsache, der Markt brummt und der Rubel rollt! Dann und nur dann erscheinen plötzlich die neoliberalen Hilfsgeister der unsichtbaren Hände, ergreifen die Gier und den Egoismus der Menschen und geleiten sie sanft, so dass sie nichts Böses mehr anrichten können. Mit der Hilfe dieser unglaublichen Magie des Marktes erschaffen wir dann alle zusammen das Paradies auf Erden.

Sollte es wider erwarten zu Krisen, Kriegen oder anderen Katastrophen kommen, dann begegnet der neoliberale Jünger diesem gottgewollten Schicksal mit unzerstörbarer Zuversicht und sagt zu sich selbst mit der gebotenen Inbrunst: Amen!
Würden irgendwelche Leute an unserer Haustür klingeln und uns zu diesem aberwitzigen Glauben bekehren wollen, wir würden sie – und das auch vollkommen zurecht – als religiöse Spinner ansehen und sie sofort zum Staat, dem größten aller neoliberalen Teufel, jagen.
Predigen aber selbst ernannte Experten diesen Unsinn allabendlich in Talkshows, erhalten sie für die Verkündung dieser alternativlosen Heilslehre von der ganzen Bevölkerung Beifall und Bewunderung.
Das nenne ich Irrsinn in Vollendung.

Die ideologische Welt wäre perfekt, gäbe es nicht diese eine störende Tatsache, dass es auch noch eine Realität gibt. Dieser Schönheitsfehler muss, um nicht die ganze Ideologie zu gefährden, in einem toten Winkel der Aufmerksamkeit versteckt werden, und zwar am besten ganz weit hinten.

Der einfachste Weg, eine Ideologie kennen zu lernen, ist eben in diese toten Winkel zu schauen. Wo sind sie im Neoliberalismus zu finden? Dazu ist es hilfreich, sich die Dogmen einer Ideologie näher an zu schauen, deren Hinterfragung stets unerwünscht ist. Eines dieser neoliberalen Dogmen lautet: Geld ist neutral. Das ist so, weil das Geld von ganz alleine den richtigen Weg findet und das natürlich am besten, wenn sich der böse Staat heraushält. Diese merkwürdige Überzeugung wird gerne auch als Geldschleier bezeichnet, allerdings finde ich den Ausdruck theoretische Burka passender. Dieser ideologische Schleier ist schließlich dafür verantwortlich, dass die Gralshüter der wirtschaftlichen Weisheit die Finanzkrise nicht vorhersehen konnten und sie bis heute nicht beherrschen. Dann und wann heißt es ja in den Qualitätsmedien, die Krise sei vorbei und alles sei besser als vorher. Doch kurz darauf folgt sofort die Horrornachricht, alles sei noch viel schlimmer als gedacht! Diese widersprüchlichen Meldungen wechseln sich ständig ab – und das mehrmals am Tag!

Wenn ich auch nicht an die neoliberalen Götter und ihre Macht glaube, so denke ich doch, dass es im Interesse so ziemlich aller Profiteure des bestehenden Systems ist, die Wirkungsweise unseres Finanzsystems im toten Winkel zu verstecken.

[Anmerkung Guardian of the Blind: Auf der Seite des Originalposts gibt es  eine kleine Simulation verschiedener wirtschaftlicher Systeme, die hier aus technischen Gründen leider nicht eingebunden werden kann.]

Die Vermögensverteilung, welche durch die konkrete Ausgestaltung des Finanzsystems bestimmt wird, ist menschengemacht. Die Natur mag Räume für göttliches Wirken bieten, das Finanzsystem nicht. Es ist im Grunde nichts anderes als die Manifestation von Machtinteressen.

Das Finanzsystem ist steuerbar, ohne Frage. Allerdings setzt dies das Wissen um die Prozesse, Wechselwirkungen und Eingriffsmöglichkeiten voraus. Aufgrund seiner Komplexität kann man jedoch leicht der Illusion der Steuerung unterliegen, wenn man aufgrund einer irrigen Ideologie an den falschen Stellschrauben dreht.
Die weltweite Finanzkrise offenbarte dieses Dilemma in aller Dramatik. Die jahrzehntelang gut funktionierenden Regulierungs- und Steuerungsmechanismen der Zentralbanken greifen auf einmal nicht mehr und zwingen sie zu unorthodoxen Maßnahmen, die aber bis heute die Turbulenzen auf den Finanzmärkten nicht beherrschbar machen und immer noch ein chaotisches Eigenleben führen.

Obwohl Geld immer das gleiche Geld zu sein scheint, ist das Finanzsystem nicht statisch und war es auch nie. Seine Flexibilität ist ja gerade seine Stärke. Im Laufe der Zeit musste es auf gravierende Veränderungen der Wirtschaftwelt reagieren. Das Kreditwesen konnte in vorindustrieller Zeit entstehen und sich bis zur heutigen Globalisierung immer weiter entwickeln, in der weltweit verschiedene Finanz- und Wirtschaftsysteme, Staatsformen und Kulturkreise vernetzt werden müssen.
Die verschiedenen Finanzsystemen mit ihren unterschiedlichen Geldkreisläufen und Regulierungsmechanismen bestehen ohne Probleme nebeneinander. Selbst innerhalb eines Landes existieren unterschiedliche Finanzmärkte, wie der Immobilienmarkt, Versicherungen oder Wirtschaftsinvestitionen, die ihre eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten haben, und stets noch muss der Staat mitmischen. Ein modernes Finanzssystem muss diese unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Märkte und Akteure problemlos managen können.

Es gibt daher kein ideales oder mystisches Finanzsystem, das sich so einfach aus sich selbst heraus bildet und sich auch noch von selbst steuert. Es gibt nur ein passendes Finanzsystem, das von vielen unterschiedlichen Akteuren so gestaltet wird, dass es seine Aufgaben und Ziele möglichst zuverlässig erfüllt.

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Oft und gerne wird im Zusammenhang mit Geld mit moralischen oder ideologischen Bildern gearbeitet. Eines davon ist, dass alle sich nur anstrengen müssten, dann wären alle Gewinner, die Verlierer sind an ihrer Lage selbst schuld. Das ist falsch. Jeder Gewinner benötigt einen oder mehrere Verlierer, das sind die harten Regeln des Systems. Der Einzelne hat nur die Möglichkeit, sich innerhalb der vom Finanzsystem vorgegebenen Verteilung einen möglichst hohen Rang zu erkämpfen.
Die Verarmung von gesellschaftlichen Schichten ist daher kein individuelles oder schichtenbezogenes Versagen, sondern immer ein Versagen der Gestalter des Finanzsystems und das sind nunmal die Finanzeliten und die Politik.
Die in Deutschland abgeschaffte soziale Marktwirtschaft konnte zeigen, dass mit einer intelligenten Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gesamtgesellschaftlicher Wohlstand ohne die prekäre Schicht einer industriellen Reservearmee ermöglicht wird.

Der Neoliberalismus legt ganz bewusst einen Schleier über das Geld und verdeckt gezielt die manipulierenden Hände der Akteure, die so ohne großes Aufsehen für die größtmögliche Umverteilung des Wohlstands von unten nach oben sorgen können. Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Raubzugs sollen als alternativlose Ereignisse einer höheren gottgewollten Macht erscheinen, um eine bequeme Legitimation für die massiven und menschenverachtende Einschnitte in die Gesellschaft zu haben.

Im Grunde wollen die neoliberalen Fanatiker mit ihrem ideologischen Wahn bewirken, dass wir unsere Gesellschaft zu einem kollektiven Kinderspiel umbauen. Alles soll nach ganz einfachen Regeln funktionieren: die Privatiers erhalten unbegrenzte Macht, der Staat darf außer zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche höchstens noch ein paar kleine Alibi-Reparaturen vornehmen, ansonsten soll er sich einfach aus allem heraushalten.
Dieses Spiel gleicht einem überdimensionierten Monopoly, das jeder zwangsweise mitspielen muss. Wer die falsche Ereigniskarte zieht, ist raus. Er ist schließlich selbst daran schuld, er hätte ja eine andere Karte ziehen können. Läuft dennoch etwas schief oder fängt jemand an zu murren, dann heißt die alternativlose Antwort: die Spielregeln müssen verschärft werden!
Irgendwann wird es “game over” heißen. Ob wir dann einen Reset machen und nochmal eine Runde spielen? Das glaube ich weniger, es wird ein neues Spiel beginnen, dessen strengen Regeln wir noch aus längst vergangenen Tagen kennen sollten.

Für diesen neoliberalen Kindertraum sollen wir unsere Demokratie, unseren Wohlstand und den Frieden opfern. Die traurige, aber bittere Wahrheit ist, wir haben diesen gesellschaftlichen Albtraum in großen Teilen schon umgesetzt.

Bilder:

(1) Flickr (mtsofan) / CC-BY-NC-SA 2.0
(2) Flickr (Matt Stoller) / CC-BY 2.0

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6 thoughts on “Neoliberale wollen doch nur spielen

  1. Es erinnert tatsächlich einiges an Monopoly, vor allem, dass die Sieger schon nach kurzer Spielzeit feststehen, man aber noch ewig weiterspielen darf…

    Die ganze schöne Ideologie wäre halb so schlimm, wenn man sich wenigstens bewusst wäre, dass man es mit einer solchen zu tun hat. Das sich die Anhänger des Neoliberalismus andauernd auf Dogmen berufen, fällt ihnen selbst ja i.d.R. nicht einmal auf.

    Da fehlt’s an Aufklärungsarbeit und Aussteigerprogrammen, um dem neoliberalen Extremismus wirksam den Nährboden zu entziehen. 😉

  2. Es erinnert tatsächlich einiges an Monopoly, vor allem, dass die Sieger schon nach kurzer Spielzeit feststehen, man aber noch ewig weiterspielen darf…

    Jo, oder ganz simpel: Wer eh schon viel hat, wird immer reicher, wer arm ist, dem nehmen sie noch alles weg, so dass er nicht mal seine Hypotheken, die Miete oder dass er aus dem Gefängnis freikommt bezahlen kann. 😀

    Das sich die Anhänger des Neoliberalismus andauernd auf Dogmen berufen, fällt ihnen selbst ja i.d.R. nicht einmal auf. Da fehlt’s an Aufklärungsarbeit und Aussteigerprogrammen, um dem neoliberalen Extremismus wirksam den Nährboden zu entziehen. 😉

    Zum Glück gibt es noch ein paar nicht-neoliberale Ökonomen, die dies aufzeigen (http://guardianoftheblind.de/blog/2010/11/18/die-wirtschaft-des-21-jahrhunderts/ oder http://guardianoftheblind.de/blog/2010/01/05/der-freie-markt-als-ideologie/)

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