Die Finanzkrise und die VWL: ist die Ökonomie doch noch lernfähig?

Immer mehr Volkswirtschaftler kommen offenbar endlich zu der Erkenntnis, dass die Theorien und Modelle des bisherigen neoklassischen Mainstreams wenig mit der Realität zu tun haben. Auf der Jahrestagung der American Economic Association (AEA), der weltweit wichtigsten von Ökonomen, wurde deutlich wie nie eine grundsätzliche Neuorientierung der VWL gefordert: Fundamentalkritik: Wie die Finanzkrise die VWL auf den Kopf stellt (Handelsblatt) (via).

Die Finanzkrise etwa konnte mit den gängigen Theorien der Mainstream-Ökonomen nicht vorausgesagt und auch nicht erklärt werden. So wurde selbst für viele überzeugte Anhänger dieser Richtung innerhalb kurzer Zeit klar, wie eingeengt ihr Blick bisher war. Die Bedeutung der Kreditvergabe durch Banken für die Realwirtschaft wurde viel zu wenig untersucht. Die Theorien der rationalen Entscheidungen, der Homo oeconomicus und die effiziente Informationsverarbeitung durch die Finanzmärkte sind Modelle, die während der Finanzkrise, aber auch sonst nicht zutrafen. “Viele beschäftigen sich nicht mit der Welt, in der wir leben, sondern mit der Welt, in der sie gerne leben würden“, so der Harvard-Professor Benjamin Friedman. Die Irrationalität von vielen Entscheidungen oder die Instabilität und Krisenanfälligkeit völlig freier Märkte aber können nun kaum mehr bestritten werden.

Zudem konnten die neoliberalen Talkshow-Ökonomen die Krise nicht nur nicht erklären, sondern haben mit ihren ständigen Deregulierungsforderungen auch maßgeblich zu dieser beigetragen, wie Joseph Stiglitz ausführt. Und noch ein sehr schönes Zitat von ihm: „Vielleicht ist die unsichtbare Hand auf vielen Märkten deshalb unsichtbar, weil sie gar nicht da ist.“

Ein gutes Zeichen jedenfalls, wenn bei vielen Ökonomen – wenn auch erst jetzt – endlich einmal etwas Umdenken einkehrt. Wenn die Neoklassik dann konsequent ihre Modelle und Theorien mit der Wirklichkeit abgleichen würde, müsste den meisten klar werden, als wie wenig aussagekräftig, ja wie schädlich diese Richtung der Ökonomie sich erwiesen hat – und dann könnte ihre in den letzten 30 Jahren erfolgte Ausbreitung vielleicht endlich mal umgekehrt werden – den Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaft und der Gesellschaft wäre damit viel geholfen. Und sinnvollere ökonomische Ansätze mit einem realistischen Menschenbild und der Einsicht, dass unbegrenzt freie Märkte nicht unbegrenzte Freiheit bedeuten,oder mit den Einsichten, dass ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung schädlich sindund  dass der Staat durchaus wohlfahrtsfördernd in die Wirtschaft eingreifen kann und auch sollte, gibt es genug.

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Zensursula im Ministerium für Arbeit und Soziales: das fängt ja schon mal gut an …

Was die neue Bundesregierung unter “Veränderungen von Hartz IV” wirklich versteht, zeigt die neue Arbeitsministerin Zensursula von der Leyen jetzt ganz deutlich. Und dabei ist von den angeblich angedachten “Verbesserungen” außer Floskeln nichts zu sehen – im Gegenteil. Auf Artikel in der Springer-Presse zu verlinken ist natürlich immer so ne Sache, aber dieser zeigt ganz deutlich, was die Bundesregierung und ihre medialen Unterstützer wirklich wollen: Wer nicht arbeiten will, soll härter bestraft werden (BILD) (via).

Zensursula will, so sagt sie in einem Interview mit diesem Blatt, eine umfangreichere und härtere Anwendung von Sanktionen gegen “arbeitsunwillige” Hartz IV-Empfänger. Sozialleistungen soll es nur gegen Arbeitszwang geben.

– Genau, das Problem ist nicht, dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt, nein, diese faulen Schmarotzer wollen ja alle nur nicht arbeiten!! Dann muss man sie eben zwingen! Und notfalls sollen sie auch für 1 Euro oder sogar weniger arbeiten, schließlich soll man doch auch nichts geschenkt bekommen! Es gibt noch nicht genug Sanktionen – die Leistungen komplett, zu 100%, streichen, reicht noch nicht! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!!1!! –

Und Zensursula zeigt außerdem, dass sie nicht nur nichts von Arbeitsmarkt-, sondern auch nichts von Wirtschaftspolitik versteht:  “Da wir so viel exportieren, muss die weggebrochene Nachfrage aus dem Ausland wieder steigen”, wird sie in dem Artikel zitiert.

Klar. Und wie sollen wir das machen? Sollten wir nicht stattdessen eher die Binnennachfrage steigern, dafür sorgen, dass eben durch höhere Sozialleistungen, höhere Löhne und weniger Arbeitslosigkeit der Konsum steigt? Aber nein, das würde nicht ins Konzept einer neoliberalen Politik passen. Auch wenn es sinnvoll wär, egal.

Welche Vorstellungen und welches Gesellschaftsbild diesen Vorstellungen zugrunde liegt, erläutert derweil das Zeit-Essay “Armutsdebatte: Ab in die Dienerschule”:

Die Allianz der Leistungsträger träumt von einer neuen Gesellschaft, in der die Schwachen sich selbst überlassen bleiben

Und es zeigt, was von den Vorstellungen Sloterdijks und Co. zu halten ist,, warum in Wirklichkeit eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet und wie wir derzeit einen Klassenkampf von oben erleben, was vom angeblichen “Leistungsprinzip” zu halten ist und warum Gerechtigkeit und Chancengleichheit wichtig sind.

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Die deutsche Wirtschaft im Teufelskreis?

Schleche Aussichten für die  Wirtschaft und die Beschäftigung in Deutschland dieses Jahr. Noch schlechter, wenn die Politik nicht (und danach sieht es leider aus) auf sinnvolle Vorschläge, wie die des IMK, hören sollte:

Die deutsche Wirtschaft könnte im neuen Jahr in einen Teufelskreis der Konjunktur geraten. Das befürchten zahlreiche Experten. Steigende Arbeitslosigkeit führe zu sinkender Kaufkraft und zusätzlich zu einem “Angst-Sparen”. Dies wiederum lasse die Umsätze von Handel und Herstellern schrumpfen und beschleunige den Jobabbau.

Aus diesem Grund muss nach Einschätzung des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Aufschwung weiterhin “dringend” mit einer expansiven Geld- und Finanzpolitik unterstützt werden. “Sonst ist das Risiko groß, dass die konjunkturelle Belebung in diesem Jahr eine Episode bleibt”, warnt der Chef des Instituts, Gustav Horn. (…)

Die politischen Weichenstellungen der vergangenen Monate weisen aus IMK-Sicht in die falsche Richtung. “Geld, das in gesamtwirtschaftlich wenig sinnvolle Steuersenkungen fließen soll, fehlt für Maßnahmen, die wirklich Wachstum bringen”, betonte Horn. Stattdessen sollte die Politik den langjährigen Stau bei den öffentlichen Investitionen auflösen und sowohl in Infrastruktur als auch in Bildung investieren. (…)

Warnsignale kommen aus den anderen Staaten der Euro-Zone. Im Oktober waren die Industrieaufträge in der europäischen Industrie um 2,2 Prozent gesunken – und damit ähnlich stark wie in Deutschland. Für die Konjunkturentwicklung besonders prekär: Am stärksten schrumpften die Investitionsgüterbranchen, also vor allem der Maschinenbau.

Frankfurter Rundschau: Teufelskreis der Konjunktur (via NachDenkSeiten)

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Deutschland nicht mehr Exportweltmeister? Katastrophe!!1!!

China hat Deutschland nach chinesischen Angaben als Exportweltmeister überholt. Nach jüngsten Handelszahlen der chinesischen Zollverwaltung erreichten die Ausfuhren Chinas trotz der weltweiten Wirtschaftskrise bis November ein Volumen von 1071 Milliarden Dollar (derzeit rund 746 Milliarden Euro). Damit dürfte China den Deutschen bereits im Oktober den prestigeträchtigen Rang des Exportweltmeisters abgelaufen haben, wie Experten berichteten. (Tagesschau.de)

“Katastrophe!” werden wohl bald wieder die üblichen Verdächtigen in den Wirtschaftsforschungsinstituten schreien. Doch was ist nun wirklich los? Was besagt der “prestigeträchtige Rang” des Exportweltmeisters denn überhaupt? Zunächst einmal ist es natürlich für ein bestimmtest Land völlig unerheblich, welchen “Rang” es nun einnimmt. Dass China mit seiner Milliardenbevölkerung Deutschland überholen wird, war vorherzusehen. Und selbst ein das wirtschaftlich wohlhabendste Land Luxemburg oder stark exportierende Länder wie Singapur werden nie “Exportweltmeister” werden können. Man muss die Größe der Volkswirtschaft beachten. Die Exportquote wäre dort ein interessanter Faktor. Oder wenigstens sollte man die absoluten Gesamteinnahmen durch Exporte betrachten, nicht die relative Position: schwächelt der gesamte Welthandel, kann ein Land relativ steigen, die Einnahmen aber tatsächlich fallen. Schauen wir uns die absoluten Zahlen also einmal an:

Einem Bericht des “Wall Street Journal” zufolge exportierte China in den ersten zehn Monaten des Jahres 2009 Waren im Wert von 957 Milliarden Dollar, während Deutschland auf 917 Milliarden Dollar kam. Das Blatt berief sich auf Angaben der Genfer Global Trade Information Services. In der Krise seien die chinesischen Exporte in den ersten zehn Monaten zwar um 20,4 Prozent gesunken, aber damit weniger stark als die deutschen Ausfuhren mit einem Minus von 27,4 Prozent. (Tagesschau.de)

Was sehen wir also? China hat Deutschland zwar überholt, aber insgesamt auch weniger exportiert, nur nicht so viel weniger wie Deutschland. Ok. Aber was sehen wir hier noch ganz exemplarisch? Dass der Welthandel extrem instabil ist. Globaler Ausstausch von Waren und Dienstleistungen ist eine tolle Sache, und kein Land, dass sich dem entzieht, ist auf die Dauer wirtschaftlich erfolgreich. Aber die starke Unstetigkeit dieser Handelsbeziehungen – der Wert von 27,4% ist ein Rekordeinbruch, der durch die starke Abhängigkeit von Exporten auf die deutsche Wirtschaft fatal wirkt – setzt einer sinvollen Exportquote für eine Volkswirtschaft, zumal eine, die wie Deutschland, über eine ausbaufähige Binnennachfrage verfügt, auch Grenzen.

Eine Wirtschaftspolitik, die für mehr Stabilität sorgt, ohne die Wirtschaft zu schwächen, sollte dabei natürlich nicht so verlaufen, dass man die Exporte gezielt vernachlässigt o. ä. – das wäre natürlich Unsinn. Vielmehr muss der Staat die  inländische Nachfrage gezielt stärken (etwa durch staatliche Beschäftigungsprogramme, hohe Sozialleistungen, Investitionsanreize für Unternehmen. Hohe Löhne tragen ebenfalls dazu bei; aber die Löhne in Deutschland in den letzten 20 Jahren real um nicht einmal 2 Prozent gestiegen, während sich die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen vervielfachten – diese gehen jedoch, da sie v. a. den Beziehern hoher Einnahmen zu Gute kommen, nur zu einem kleinen Teil in den Kosum und damit in die Nachfrage, während sie etwa bei steigenden Arbeitslosenleistungen fast vollständig dorthin wandern würden)  Denn die inländische Konsumneigung ist bei weitem stabiler und weniger elastisch als die Einnahmen durch Exporte.

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5 Jahre Hartz IV: 5 Jahre zuviel

Seit dem 1. Januar 2005 besteht das “Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt”, mit dem die neoliberalen Workfare-Prinzipien, Menschen ohne Arbeit das Leben so schwer wie möglich zu machen, in Deutschland eingeführt wurden. Mit ihm erreichten in kurzer Zeit Armut und Unsicherheit in Deutschland ein neues Rekordhoch. Die Ensoldidarierung der  Gesellschaft wurde vorangetrieben und, mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, geradezu zur Tugend erhoben. Kein Geburtstag also, den man feiern könnte – und auch die deutsche Witschaft kann dies nicht.

Die Folge dieses auch als “Hartz IV” bekannten Gesetzes war für einen großen Teil der Bevölkerung, für Millionen von Menschen, v. a. auch für Frauen und Kindern, ein Abgleiten in die Armut, in eine von Politik und veröffentlichter Meinung geschaffene und zudem stigmatisierte Schicht, aus der es kaum ein Entkommen gibt. Weitere Auswirkungen sind eine wachsende soziale Ungleichheit, der mittlerweile zweitgrößte Niedriglohnsektor aller Industrieländer, die massive Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, soziale Unsicherheit und nicht zuletzt ein Wandel im gesellschaftlichen Klima. Galt es früher eher, Arbeitslosen zu helfen, eine neue Beschäftigung zu finden, auch denen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, die nicht arbeiten können, und auch die wenigen, die wirklich nicht arbeiten wollen, nicht verhungern zu lassen, so sollen heute, ganz wie von den geistigen Vätern und den unmittelbarern Schaffern und Umsetzern der neoliberalen Agenda beabsichtigt, Hart IV- Bezieher leiglich “faulenzende Sozialschmarotzer” darstellen, die der Gemeinschaft nur Geld kosten, die man zwingen muss, zu arbeiten, notfalls auch unbezahlt, denen man noch ein paar Mittel zugesteht, die vielleicht gerade noch das Überleben sichern, mehr aber auch nicht. Die Sanktionen nach §31 SGB ermöglichen es, bis zu 100% der Leistungen nach Hartz IV zu streichen – Leistungen, die ein soziales Existenzminimun darstellen sollen (wenn sie nicht darunter liegen – mit dieser Frage wird sich in Kürze ja das Bundesverfassungsgericht befassen). Erstmals seit vielen Jahrzehnten gibt es daduch wieder Hunger in Deutschland.

Der Arbeitsmarkt wurde ebenfalls nicht belebt. Hartz IV und die ganze Agenda 2010 schaffen werder Flexibilität des Arbeitsmarktes, noch soziale Sicherheit oder höhere Einkommen, und auch keine neue Beschäftigung. Kaum verfolgt die aktive Förderung oder (Weiter-)Qualifizierung von Arbeitslosen oder eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Dabei erscheint gerade die in Deutschland verfolgte neoliberale Politik nach dem Vorbild der angelsächsischen Staaten, die statt auf Förderungsmaßnahmen einseitig auf den Abbau sozialer Leistungen und erhöhten Druck gesetzt hat, deutlich weniger erfolgversprechend, als eine Strategie, die Flexibilität des Arbeitsmarktes und eine hohe soziale Sicherheit sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik, nach dem Vorbild etwa Dänemarks oder Schwedens miteinander kombiniert (siehe dazu: Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar). Statt Flexibilität im Arbeitsmarkt schuf Hartz IV nur Druck, Druck Arbeitsstellen anzunehmen, die nicht da sind. Denn Arbeitsplätze kann diese Maßnahme nicht schaffen, und dafür war sie auch nicht gedacht. Der Konsum der Bevölkerung, die Binnennachfrage, wurde durch die massive Minderung der Kaufkraft der von Hartz IV Betroffen stark geschwächt, während die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft wuchs, die Exporterlöse aber, v. a. im Zuge der Weltwirtschaftskrise absackten. Und auch die Unternehmen erhalten kaum mehr Anreize, Beschäfigte einzustellen oder ihre Investitionen auszuweiten. So kommt es, dass die Abnahme der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren fast ausschließlich auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen ist, die tatsächlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit, v. a. die schwache effektive Nachfrage, aber unberührt bleiben

Aber was schreibe ich, die Erkenntnis, dass Lohnsenkungen und damit Sinken der Nachfrage zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen sind bei den neoliberalen Talkshow-Ökonomen, den Lobbyisten der Arbeitgeberverbände und den Politikern, die ihren Ratschlägen wie die Ratte dem Flötenspieler folgen, nicht angekommen – für sie stellen hohe Löhne nu Kostenfaktoren dar, Sozialleistungen mindern nu den gewünschten Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen. Diese Kuzsichtigkeit lässt seit fast 30 Jahen unsere Arbeitslosigkeit ansteigen, die Löhne stagnieren, die soziale Ungleichheit zunehmen, die Investitionsraten der Unternehmen abnehmen. Staatliche Beschäftigungsprogramme zu guten Löhnen, nicht ein durch staatliche Zuschüsse geschaffener Niedriglohnsektor der “Aufstocker” wären ein Weg zu einer steigenden Nachfrage, sinkenden Sozialkosten, niedrigerer Arbeitslosigkeit und einer Belebung der Wirtschaft.

Die Verantwortliche der Hartz IV-Gesetze unterdessen sind, zwar teilweise vorbestraft, so doch in einträglichen Posten untergekommen. Schröder, Clement, Riester, Müller und wie sie alle heißen, sie vertreten nun auch offiziell die Interessen, für die sie in der Vergangenheit Politik gemacht haben. Für sie zumindest hat sich die Einführung von Hartz IV gelohnt. Und die neue Bundesregierung führt, wie sollte es auch anders sein, die Politik, die sie als (Neo-)Konservative und (Neo-)Liberale kaum “besser” hätten umsetzen können, weiter fort.  Sollten vielleicht wenigstens ein paar Unternehmen irgendwann einsehen, dass sich eine niedrige Nachfrage, durch prekäre und stets unsichere Beschäftigungsverhältnisse demotivierte Arbeitskräfte, ein Klima der Angst und des Misstrauens, der Bevormundung und Überwachung, auch für sie negativ auswirken, so wäre vielleicht aus dieser Richtung etwas zu hoffen. Doch danach sieht es leider nicht aus. Gerade in Zeiten des ungebremsten (und von der Realwirtschaft nahezu vollständig entkoppelten) Finazmarktkapitalismus steht mehr denn je die kurzfristige Rendite denn die langfristige Performance eines Unternehmens oder gar einer Volkswirtschaft im Vordergrund.

Nein, Widerstand gegen die witschaftlich schädliche Politik und gegen die unsozialen, menschenverachtenden Praktiken, die mit der Agenda 2010 und besonders mit Hartz IV  zur vollen Entfaltung kamen, muss aus der Bevölkerung kommen: aus den betroffenen Gruppen, aus den Gewerkschaften, aus sozialen Gruppierungen, von der Straße, aber auch von kritischen Seiten der Wissenschaft und der Medien – und, da diese versagen, aus der Gegenöffentlichkeit zum Mainstream, die die Möglichkeiten des Internets in vollem Umfang nutzen muss. Während die Mainstream-Medien, offenbar verschämt über die offensichtlichen Misserfolge und die durch die Hartz-Gesetze verstärkten oder erst geschaffenen Missstände über das “Gbeurtstagskind” Stillschweigen bewahren, gibt es dort sehr treffende Analysen, die den Geist und die Folgen von Hartz IV beleuchten. Hier eine kleine Auswahl von lesenswerten Beiträgen:

Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2005 (Christoph Butterwegge auf den NachDenkSeiten):

Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das Gesicht der Bundesrepublik seither prägt. (…) Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet. (…) Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. (…)

Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Dass heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Betriebsrät(inn)en in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat. (…) Da trotz des irreführenden Namens „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ auch immer mehr (voll) Erwerbstätige das Alg II als sog. Aufstocker, d.h. im Sinne eines „Kombilohns“ in Anspruch nahmen bzw. nehmen mussten, um leben zu können, etablierte Hartz IV ein Anreizystem zur Senkung des Lohnniveaus durch die Kapitalseite. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt die Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Kardinalproblems beizutragen. Mittlerweile hat die Bundesrepublik unter den entwickelten Industriestaaten den breitesten Niedriglohnkorridor nach den USA. (…)

Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Stress und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. (…) Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, dass Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. (…)

Jenseits der Schmerzgrenze (Der Freitag):

Fünf Jahre Hartz IV bringen vor allem eines: mehr Armut. Das entspricht dem Geist, aus dem die „Reform“ entsprang. Betroffene sprechen von “Überlebenstraining” (…)

Beides entspringt einer Vorstellungswelt, die vor fünf Jahren mit Hartz IV ihre bürokratische Entsprechung fand. Danach gibt es gar keine Erwerbslosigkeit, nur der Preis der Ware Arbeitskraft ist zu hoch. Politik aus diesem Geist heraus ist „Räumung des Marktes“, bedeutet Manipulation der Statistik, heißt Ein-Euro-Jobs und nötigt dazu, jede Tätigkeit anzunehmen. Hartz IV hat das Einkommensniveau gedrückt und den Zwang erhöht, sich für Löhne unter dem Existenzminimum zu verkaufen. 1,3 Millionen Erwerbstätige sind mittlerweile auf ergänzende Hartz-Leistungen angewiesen. (…)

Die Grundformel der Arbeitsmarktpolitik heißt „Aktivieren“ – was sich freilich auch mit Bestrafung derjenigen, die mit dieser „Aktivierung“ nicht einverstanden sind, übersetzen lässt. Die Arbeitsagenturen kontrollieren und sanktionieren aber mittlerweile nicht nur das Tun, sondern auch die Haltung, die Einstellung der Langzeiterwerbslosen, wie etwa eine Studie des Siegener Soziologen Olaf Behrend gezeigt hat: Hartz IV wirkt als Mittel zur sozialen Disziplinierung. (…)

5 Jahre Hartz IV – Kein Grund zum Jubeln (Lowestfrequency):

(…) Doch den Betroffenen redete man ein, sie sollten jede Arbeit annehmen, es sei besser, für einen Hungerlohn zu arbeiten, als sich aus dem Lohnerwerb zu verabschieden. Ihnen geht es ja gut. Woanders wäre es schlechter. Schon im alten Griechenland wusste man: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, und dagegen ist es doch wunderbar. (…) Und schauen sie doch, sie bekommen sogar Arbeit, unbezahlt vielleicht, meist nicht ausreichend, um doch ein bisschen weniger Fremder zu sein, aber denen drüben, denen ergeht es noch schlechter, haben die Faulpelze da in der Ferne, jenseits des Stiefels oder des Ural, haben die ein Fahrrad? Urlaubsanspruch? Medizin? Nun sehen Sie doch, es geht immer noch schlechter. Nein, hier ist es gut, solange man den Vergleich gut wählt. (…)

Die ganze Agenda 2010, der Überbau durch das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, ein Sammelsurium aus Angst, Druck und Rückzügen in vorkriegsähnliche Zustände, was die Arbeitslasten an betrifft. Mehr Niedriglohn, warum eigentlich notwendig? Weniger Leistung, nur noch das Allernötigste und dann noch sanktionierend streichen. Arbeit als Pflicht zu jedem Preis, also unter Zwang, um nicht unter das Existenzminimum zu rutschen (…)

Es ist halt nicht zum Nulltarif, immer ein Arbeitsheer haben zu wollen, eine stehende Armee an Hungerleidern, denen eingedroschen wurde, sie sollten, müssten tun, was ihnen gesagt, besser noch als zu fragen, welchen Wert sie haben. (…)

Zwei Geburtstagskinder (binsenbrenner.de) (zur Erklärung: das andere “Geburtstagskind” ist ELENA):

(…) Dass die Zahl der Gratulanten für Hartz IV nicht eben überbordend sein würde, war absolut absehbar, dass die geistigen Väter und derzeitigen Erzieher sich sehr geschmeidig an klaren Stellungnahmen vorbeidrücken würden, erstaunt da schon mehr. Das eine oder andere sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut veröffentlichte „Ja, aber…“-Gutachten zur Wirkung von Hartz IV, die an der Durchführung Beteiligten, also Arbeits- und Sozialverwaltung hielten sich, außer mit einem schmallippigem Bekenntnis, dass man (nach fünf Jahren!) die Kinderkrankheiten ausgemerzt habe, sehr zurück (…)

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Der freie Markt als Ideologie

[D]ie Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen [sind aber], sowohl wenn sie im Recht, als auch wenn sie im Unrecht sind, einflußreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes regiert. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Scheiberling ein paar Jahre vorher verfaßte. Ich bin überzeugt, daß die Macht eworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird. Diese wirken zwar nicht immer sofort, sondern nach einem gewissen Zeitraum; denn im Bereich der Wirtschaftslehre und der Staatsphilosophie gibt es nicht viele, die nach ihrem fünfundzwanzigsten oder dreißigsten Jahr durch neue Theorien beeinflußt werden, so daß die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker und selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, wahrscheinlich nicht die neuesten sind. Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht eigennützige (Gruppen-)Interessen, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.

Noch einmal möchte ich diese Stelle aus der “Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes” von John Maynard Keynes zitieren. Keynes zeigte als bekanntester Ökonom seiner Zeit die Unzulänglichkeiten und Defizite der neoklassischen Wirtschaftstheorie auf, deren Anhänger er selber lange Zeit gewesen war. Bis gegen Ende der 70er Jahre spielten Ideen von Keynes eine bedeutende Rolle. Die Idee aber, die danach in der wirtschaftspolitischen und wirtschaftswissenschaftlichen Debatte und Praxis dominant wurden, mit denen die meisten der heutigen Entscheidungsträger sozusagen aufgewachsen sind und von denen sie sich kaum lösen können, auch wenn sie sich, auch für sie selbst erkennbar als falsch erwisen haben, haben in vielen Punkten den Charakter von “wildem Irrsinn”, von starren Ideologien.

Es sind dies die Ideen, Theorien und Modelle der Neoklassik und des Neoliberalismus, die die Wirklichkeit ignorieren. So dient das “erste Wohlfahrtstheorem” der Neoklassiker, das besagt,  dass jedes Tauschgleichgewicht bei freiem Wettbewerb pareto-effizient ist, diesen als “schlüssiger Beweis” für die Gültigkeit von Adam Smiths “unsichtbarer Hand des Marktes” (wobei diese Aussage nicht auf Smith zurückzuführen ist). Dieser “Beweis” jedoch ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Ideologie: die fundamentalen Annahmen sind viel zu sehr an künstlich konstruierte, nicht in der Realität herstellbare Annahmen gebunden, um Gültigkeit oder Anwendbarkeit beanspruchen zu können. Der methodische Individualismus und das Bild des Menschen als Homo Oeconomicus sind wissenschaftlich nicht haltbar. Vielmehr ist es wohl so, dass die Anhänger der Neoklassik diesen ausschließlich egoistischen und in ihrem, im egosistischen, Sinne “rational” handelnden Menschen v. a. so haben wollen. Die von der Neoklassik vorausgesetzte Marktrationalität (Planübereinstimmung) der Wirtschaftssubjekte ist (als nachgeschoben unterstellte Rationalität)  problematisch, wenn sie in die Zukunft gerichtet ist (rationale Erwartung). Diese Vorstellung ist in der Realität nicht zutreffend. Warum wird sie dennoch von der neoklassischen Ökonomie vertreten? Auf ihr beruht ihr “Nachweis”, dass staaliches Eingreifen die Allokation nicht verbessern, sondern nur Störungen verursachen kann. Dieser “Nachweis” war die Intention des (nicht zutreffenden) Modells. Sich aber ein (nicht zuteffendes) Modell zu basteln, um einen politischen Zweck (kein Eingreifen des Staates in die Wirtschaft) scheinbar wissenschaftlich zu legitimieren, ist alles andere als ein wissenschaftliches Vorgehen.

Die Ansätze der Mainstream-Ökonomie können ideologisch gewendet werden. Möchte man nicht den Begriff der “Ideologie” verwenden, könnte man sagen, in ihnen herrscht eine wenig oder gar nicht reflektierte oder gar eine negierte Diskrepanz zwischen Vorstellung und Erfahrungswelt. Stimmen Theorie und Modelle nicht mit der Wirklichkeit überein, stört dies die überzeugten Verteter der orthodoxen Wirtschaftslehre nur in den seltensten Fällen. So wird etwa ein freier Wettbewerbsmarkt von ihnen als ein idealer Zustand angesehen, gleichzeitig aber propagieren sie die unveränderte Anwendung von Modellen, die für diesen (für sie) Idealzustand geschaffen wurden, für die Realität, in der dieser so, in reiner Form kaum existent ist (und dies oft auch nicht sein kann). Sie erleben die Diskrepanz zwischen Wunsch(vortellung) und Wirklichkeit nicht, da sie in einer, in ihrer Utopie leben, z.B. in der Utopie des freien Marktes, in einer konstruierten Wirklichkeit, die ihnen als Orientierungspunkt für Denken und Handeln dient.

Woher kommt dieser Mangel an Reflexion? Die Ideologiehaftigkeit der neoliberalen Lehre wird von ihren Anhängern zwar oft bestritten, die sich häufig auf angeblich “objektive Erkenntnisse” berufen und ihre Lehre oft als unwiderlegbar, als die eigentlich einzige überhaupt mögliche verstanden haben wollen. Ab er ab und zu gibt es Aussagen, die einigen Aufschluss erlauben. Alan Greenspan, bis Januar 2006 Vorsitzender der US-amerikanischen Notenbank, gab 2008 in einer Anhörung zur Finanzkrise vor dem US-Kongress zu, dass er, auch in seinen Entscheidungen als Notenbankchef, durchaus eine Ideologie vertreten habe, die Ideologie des freien Marktes. Er sei in Folge der Finanzkrise “geschockt” gewesen, dass die Voraussagen seiner Ideologie nicht zugetroffen habe. Er habe Probleme, die Finanzkrise wirklich zu verstehen (und kommt aber nicht etwa  auf die Idee, vielleicht einmal Minsky zu Rate zu ziehen – dieser würde nicht in seine Ideologie passen). Wohin diese Ideologie und ihr Versagen geführt hat, zeigte in aller Deutlichkeit die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Zur Verdeutlichung von Greenspans (ideologischen) Ansichten sollten wir einen Blick auf die Einflüsse, die auf ihn als junger Mann gewirkt haben, werfen. Grennspan war ein Schüler der US-amerikanischen Schriftstellerin ud Philosophin Ayn Rand. Diese und ihre zahlreichen Schüler forderten einen “rationalen Egoismus”. Sie vertaten einen radikalen Laissez-faire-Kapitalismus und wendeten sich gegen jegliche Sozialmaßnahmen. Doch am meisten Aufschluss über ihre Ideologie liefern die Romane Rands. In “Atlas wirft die Welt ab”  etwa gibt es am Ende den feierlichen Schwur “Ich schwöre, dass ich niemals zum Wohl eines Anderen leben werde und niemals von einem Anderen verlangen werde, für mein Wohl zu leben”. Am Ende erscheint, quasi als Zeichen der Erlösung und der zu erwartenden paradiesischen Zustände des grenzenlosen Egoismus, über den Menschen am Himmel ein $-Zeichen.

Von Ideen kommt Gefahr, zum Guten oder zum Bösen. Wenn dise Ideen Ideologien darstellen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, wenn sie eine Ideologie produzieren, die dalle Menschen als ausschließlich egoistisches Wesen sehen will, in der Gerechtigkeit, Solidarität, Mitmenschlichkeit bloße Hindernisse für das Durchsetzen des Einzelnen darstellen, dann fällt es schwer zu erklären, was diese zum Guten verändern sollten.

Dieser Beitrag ist inspiriert  durch und greift Aussagen auf aus dem Vortrag “Die optimale Allokation durch den Markt als Ideologie?” von Prof. Dr. G. M. Ambrosi (VWL) im Rahmen der Vortragsreihe “Zur politischen Kritik der Ökonomie” an der Universität Trier.

NACHTRAG (Links):

Ein guter Beitrag, der zeigt, wie Keynes eine sinkende Kapitalrendite voraussagte und erklärte – eine Annahme, die auch empirisch beobachtbar ist: Der kollektive Wahn der Anleger-Gesellschaft oder der Wunschtraum ewiger risikoloser Rendite (Blog ohne Namen)

Die Talkshow-Ökonomen fordern mal wieder Lohnzurückhaltung, angeblich rein pragmatisch und völlig unideologisch: Frei von Gesinnung (ad sinistram)

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Die Macht der Ideen

Ist die Erfüllung dieser Ideen eine visionäre Hoffnung? Haben sie ungenügende Wurzeln in den Motiven, welche die Entwicklung der politischen Gesellschaft beherrschen? Sind die Interessen, die sie durchkreuzen werden, stärker und deutlicher als jene, denen sie dienen werden?

(…) Wenn aber die Ideen richtig sind – eine Vermutung, auf die der Autor das, was er schreibt, notwendigerweise stützen muß – wäre es, wie ich voraussage, ein Fehler, zu bestreiten, daß sie im Verlauf einer gewissen Zeit Macht gewinnen werden. (…)

[D]ie Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen [sind aber], sowohl wenn sie im Recht, als auch wenn sie im Unrecht sind, einflußreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes regiert. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Scheiberling ein paar Jahre vorher verfaßte. Ich bin überzeugt, daß die Macht eworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird. Diese wirken zwar nicht immer sofort, sondern nach einem gewissen Zeitraum; denn im Bereich der Wirtschaftslehre und der Staatsphilosophie gibt es nicht viele, die nach ihrem fünfundzwanzigsten oder dreißigsten Jahr durch neue Theorien beeinflußt werden, so daß die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker und selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, wahrscheinlich nicht die neuesten sind. Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht eigennützige (Gruppen-)Interessen, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.

Mit diesen Worten schließt John Maynard Keynes sein Werk “Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes” ab.

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Für eine echte Rückkehr des Keynesianismus

Die IG Metall fordert ein Zukunftsinvestitionsprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro zur Wirtschaftsankurbelung von der Bundesregierung. Damit sollen technologische Innovationen gefördert und krisengeschüttelte Unternehmen unterstützt werden.

Nun ist an sich ein staatliches Investitionsprogramm für uns Keynesianer erst einmal eine gute Idee. Einfach gesprochen: ein antizyklisches Verhalten, wobei der Staat in einer Konjunkturkrise seine Ausgaben hochfährt, um die Krise zu überwinden und die Konjunkturzyklen abzuflachen, anstatt die Schwankungen zu verstärken, indem er in Krisenzeiten spart (prozyklisch), ist durchaus als sinnvoll und als notwendig zu betrachten. Schade ist, dass die Neoliberalen mit dem üblichen Hinweis auf die “Staatsschulden” die veröffentlichte Meinung direkt wieder auf ihre Seite ziehen werden. Dabei gibt es in einer Konjunkturkrise deutlich dringlichere Probleme. Natürlich sollte der Staat bei einer Erholung und einem Wiederaufschwung der Wirtschaft die Ausgaben wieder hinunterfahren und die Staatsverschuldung abbauen. Dass dies in der Vergangenheit nicht immer passiert ist, ist ein politisch zu erklärendendes Problem und keine grundlegende Schwäche des Keynsianismus, wie die Neoklassiker es behaupten. (Natürlich soll das Problem nicht kleingeredet werden, aber schaut man sich einmal die Auslandsschulden an, so sieht man, dass Deutschland eine positive Bilanz hat. Die Inlandsschulden sind im internationalen Vergleich nicht beonders hoch und v. a. eine Verteilungsfrage).

Ein bisschen hat in Folge der Finanzkrise ja auch die letzte und sogar diese Bundesregierung eingesehen, dass der Staat zur Konjunkturentwicklung gegensteuern muss. Aber: natürlich sollte Geld sinnvoll ausgegeben werden – keine Schulden um der Schulden willen – und nicht für reine Klientelpolitik. Ein echtes “Wachstumsbeschleunigungsgesetz” wäre natürlich zur Zeit durchaus geboten, trotz des albernen Namens, und auch wenn natürlich Wirtschaftswachstum kein Allheilmittel an sich ist, und auch wenn das Wachstum seine Grenzen hat und möglichst nachhaltig vonstatten gehen solle. Romantisierende Vorstellungen mögen ja ganz nett sein bei einem Gespräch beim Bio-Latte im netten Café im Prenzlauer Berg – zur Verbesserung des weltweiten Wohlstandes ist Wirtschaftswachstum unerlässlich. Und dies kann durchaus auch nachhaltig geschehen. Umwelttechnologien sind zwar das gern bemühte, aber auch das beste Beispiel. Das derzeitige Wachstumsbeschleunigungsgesetz jedoch ist wie gesagt reine Klientelpolitik. Entlastungen für die Besserverdienenden, Subventionen für eine einzelne lobbystarke Dienstleistungssparte – dies wird kaum jemandem nützen außer den Privatkonten der Hoteliers, wo sie schon zugesichert haben, die Subventionen keinesfalls an die Kunden weitergeben zu wollen. Nicht mal aus neoliberaler, angebotsorientierter Sichtweise ist diese Maßnahme sinnvoll.

Nachfrageförderung wäre ja zur Abwechslung mal was. Was fordert aber die IG Metall? Innovationsförderung, sicherlich, das ist eine sinnvolle Maßnahme. Sie sollte es jedoch immer sein, als staatliche Aufgabe, und nicht nur in Krisenzeiten. Aber ansonsten?

Huber plädierte dafür, die Metall- und Elektrobranche als industrielle Kerne zu schützen, um nach der Krise wieder Wachstum und Beschäftigung voranzutreiben. Ein Investitionsprogramm sei dafür dringend nötig.

Wieder eine Subventionierung einzelner Zweige, diesmal der Industrie. Ein Schutz von Branchen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, möglicherweise. Wie lange dies langfristig volkswirtschaftlich sinnvoll ist, erscheint nebensächlich. Werden nichtwettbewerbsfähige Industrien geschützt (auc wenn es geschieht, um Aebeitsplätze zu sihcern), folgen strukturelle Defizite – abnehmende Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft der Volkswirtschaft. Aber es komt noch was:

Huber kündigte zugleich für die im Frühjahr 2010 anstehenden Tarifverhandlungen mit den Metall-Arbeitgebern zurückhaltende Lohnforderungen an. Voraussetzung dafür seien aber verlässliche Vereinbarungen zur Sicherung der Arbeitsplätze. Sollte dies nicht gelingen, würden die Lohnforderungen deutlich höher ausfallen, sagte er.

In den letzten 20 Jahren gab es eine “Lohnzurückhaltung” der deutschen Gewerkschaften – was real ein Sinken der Löhne um knapp 2 Prozent bedeutete, während die Einnahmen aus Gewinnen und Vermögen sich in dieser Zeit verdreifachten. Deutschland hat eine extrem starke Exportwirtschaft, ja – die Inlandsnachfrage jedoch ist auf einem niedrigen Niveau. Zudem macht die Exportabhängigkeit anfällig für Schwankungen und Krisen.

Nein, eine echte Nachfrageförderung, Lohnsteigerungen, Entlastungen und Zuschüsse für untere Einkommensschichten, das ist notwenidig und sowohl wirtschaftlich und sozial sinnvoll. Denn, kurz gesagt, jeder Euro mehr in diesen Einkommensgruppen kommt unmittelbar dem Konsum und damit der Volkswirtschaft zugute. Die Angebotsseite wurde 27 Jahre lang entlastet, die Steueren für Unternehmen und Großverdiener wurden stets gesenkt, ebenso die Arbeitnehmerrechte. Gebracht hat es uns Arbeitslosigkeit, eine weitere Staatsverschuldung, eine Umverteilung von unten nach oben und einen verkrüppelten Sozialstaat. Und die Investitionsquote ist trotz alle gering geblieben.Einzig die Inflationsquote ist niedrig, und das ist für die neoliberalen Monetaristen das wichtigste. Dabei ist die Inflation wirklich das geringste, worum wir uns Sorgen machen müssen. Eine gewisse Inflation ist sogar durchaus nützlich für die Wirtschaft. Eine Deflation dagegen durchaus gefährlicher. Nein, es ist Zeit für die Nachfrageseite, für eine Umverteilung von oben nach unten. Es ist Zeit für eine echte Rückkehr des Keynesianismus.

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Die Neoklassik und ihre Mythen

Die Neoklassik ist in Deutschland in den letzten 30 Jahren die dominierende Schule der Volkswirtschaftslehre. Auch wenn weltweit und gerade auch in den USA wieder keynesianische Ansätze deutlich mehr Beachtung erlangen, in Deutschland lässt man sich davon nicht beirren und bleibt weiterhin schön bei der reinen Lehre. Die Stärkung der Binnennachfrage ist vernachlässigbar, staatliche Konjunkturprogramme sind “konjunkturpolitische Strohfeuer” (auch wenn es bei diesem Punkt in Folge der Witschaftskrise dann doch selbst in Deutschland zu ein klein wenig Umdenken gekommen ist), der Staat soll sich aus allem außer vielleicht noch der inneren und äußeren Sicherheit heraushalten. Dies erzählen die neoklassischen Wirtschaftsprofessoren wie eh und je immer wieder tantramäßig in den Sendungen des Mainstream-Journalismus, ohne auch nur die geringste kritische Nachfrage zu erfahren.

Und es ist auch kein Wunder, dass das diesjährige Jahresgutachten des “Sachverständigenrates” mal wieder harte soziale Einschnitte, den weiteren Rückzug des Staates, Arbeitsmarktliberalisierungen und Senkungen der Unternehmenssteuern fordert und ganz in der Tradition ausschließlich den Haushalt saniert sehen will, wobei Konjunkturbelebung und Senkung der Arbeitslosigkeit demgegenüber höchstens sekundär sind. Hat man alles schon oft genug gehört. Wenigstens ist er so konsequent, ebenfalls die Steuersenkungspläne von Schwarz-Gelb zu kritisieren – hier herrscht als über alle Wirtschaftsschulen hinweg Einigkeit, dass diese Unsinn sind. Ebenso ist man sich einig, dass die Investitionen in Bildung und Forschung zu niedrig sind. Wäre die Parteipolitik so weit, wenigstens bei diesen Punkten einmal – ja tatsächlich von niemandem bestrittenen – Empfehlungen der Wissenschaft zu folgen, wäre schon einiges getan. Aber Bildungseinrichtungen haben nun mal keine politische Lobby und keine Lobbyorganisationen, die dermaßen unsere Demokratie und unsere Meinungsvielfalt beschützen (tut mir leid, dieser Seitenhieb musste sein),  wie sie andere haben.

Dies alles fände ich noch nicht einmal so schlimm, dass sie sich als dominante wirtschaftspolitische Schule durchgesetzt haben, wenn ihre Ansichten nicht immer als allein gültige, wissenschaftlich objektive und nicht zu widerlegende Tatsachen verkauft würden, von den genannten Medien, aber auch von vielen  dieser Wissenschaftler selbst. Andere Positionen werden von ihnen oft gar nicht zugelassen, alles, was nicht in den derzeitigen Mainstream passt ist für sie entweder “widerlegt” oder “veraltet”. Man immunisiert sich nicht nur selbst gegen jede Kritik, man lässt diese gar nicht erst zu. Was nicht sein soll, darf auch nicht sein. Tatsächlich ist die Wirtschaftswissenschaft eine der wenigen im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich, in der andere Theorien oft gar nicht erst dargestellt oder auch nur erwähnt werden, die wie gesagt gerade nicht in den Mainstream passen, in denen die eine Richtung ihre Ansichten wie naturwissenschaftlich belegt und gültig verkauft.

Dass ihre Modelle und Theorien dabei oft aber eher mythologisch denn wissenschaftlich sind, zeigt sich aber immer wieder. Weissgarnix z.B. räumt diese Woche mal wieder mit ein paar “Märchen aus dem Gute-Nacht-Geschichtenbuch der Neoklassik” auf. Er schreibt, dass die “homo oeconomicus”-Phantasie die Grundlage der meisten Modellen der Neoklassik ist. Und denen, die von einem Menschenbild ausgehen, in dem jeder Mensch ausschließlich im wahrsten Sinne des Wortes “asozial” als Individuum und ausschließlich den eigenen Nutzen maximierend handelt und für den allein der Markt (wobei er natürlich immer über vollständige Informationen verfügt) noch eine Beziehung zu anderen Menschen generiert, denen sollen wir tatsächlich die alleinige Deutungshoheit überlassen? (Ich weiß nicht mehr genau, wo ich das gehört habe, aber es erscheint mir sehr sinnvoll: “Existierte der homo oeconomicus wirklich, er wäre wohl eher ein Fall für die Psychatrie”).

Und Weissgarnix verdeutlicht, wie die Gleichung “I(nvestitionen”=S(paren)” in der von den Neoklassikern behaupteten Kausalität, dass die Sparquote die Höhe der Investitionen beeinflusse, nicht zutrifft (dass es eine Illusion ist, dass der Konsument mit seiner Spartätigkeit tatsächlich über die Investitionen bestimmen könne) und warum hohe Sparquoten tatsächlich volkswirtschaftlich alles andere als nützlich sind. Ganz lustig dabei ist auch, wie die I=S- Gleichung auch nur mittels eines Kniffs (man könnte es auch als “Trick” bezeichnen) funktioniert und letztlich nur eine Tautologie darstellt.

Die Theoreme der Neoklassik sind also nicht unbedingt immer zutreffend, und v. a. sind sie nicht die allein seeligmachende Wahrheit, wie einem dies ihrer Vertreter oft genug weismachen wollen.

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Zum Gerechtigkeitsbild der Liberalen

Indem sie Konzepte wie einen Stufensteuertarif und die Kopfpauschale mit dem Attribut “gerecht” versehen, verdeutlichen die Vertreter von Union und FDP wieder, wie unterschiedlich Gerechtigkeitsvorstellungen sein können. Und wenn dabei auch noch “einfach” gegen “gerecht” ausgespielt wird, kann nur einer verlieren: der Sozialstaat.

 

Einfach, niedrig, gerecht? Ein neues Steuersystem und die Kopfpauschale

Das progressive Steuersystem hatte in Deutschland lange mit dem Konsens aller Bundestagsparteien bestand. Ein System, dass die Steuerlast an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anpasste, entsprach und entspricht noch dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Deutschen. 2005 kostete der “Professor aus Heidelberg” der Union mit seinem Flattax-Konzept fast den Wahlsieg. Seitdem war es ruhig darum, und auch die Unionsparteien und die FDP ließen im Wahlkampf nichts davon hören. Wie also nun die Menschen von einem Konzept überzeugen, dass den Weg in die Richtung einer Flattax ebnen soll (und zudem unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten als keineswegs sinnvoll betrachtet werden kann), den Stufentarif – und ihnen zudem die äußerst unpopuläre und von einer überwältigenden Mehrheit als ungerecht empfundene Kopfpauschale verkaufen? Wie üblich: mit der durch die Massenmedien völlig unreflektiert aufgegriffenen und immer wieder wiederholten Parole “einfach, niedrig und gerecht!”.

Niedrigere Steuern kommen immer gut an. Auch wenn sie in einer Lage der Wirtschaftskrise, einer noch nie dagewesenen Neuverschuldung und der selbst von Wirtschaftsliberalen eingesehenen Notwendigkeit von Konjunkturprogrammen kommen sollen. Die Kopfpauschale dagegen bedeutet mit den geplanten 105 Euro nur für Besserverdiener eine Entlastung – dort aber eine massive (die absoluten Spitzenverdiener hatten diese natürlich auch vorher durch die Beitragsbemessungsgrenze, die festgesetzte absolute Oberhöhe von Zahlungen an die Krankenversicherung – ein Konzept, dass ausschließlich in der Bundesrepublik existierte und ausschließlich dazu diente, die Reichsten der Reichen zu entlasten).

Kommen wir zu “einfach”. Es ist klar, was  immer mit diesem “einfacher” beabsichtigt wird: “der Stammtisch” soll überzeugt werden, die zu wählen und die Politiken zu unterstützen, “die er auch versteht”. Eine Flattax ist ja auch viel einfacher zu verstehen als eine progressive Steuer, ein einheitlicher Betrag zur Gesundheitsversicherung einfacher als ein einkommensabhängiger. [He, und wo wir schon bei der Kopfpauschale sind: wie wäre es mit einer Pauschalsteuer, einer Einheitssteuer nicht in der Form eines einheitlichen Prozentsatzes, sondern eines einheitliches Betrags? 1.000 Euro Steuer für jeden, das wäre doch eben ganz einfach. Und für die “Leistungsträger” ist es auch niedrig. Und darum gerecht.] Aber im Ernst: Einfachheit allein kann kein politisches Konzert sein, und dann um so mehr nicht, wenn sie in Konflikt zur Gerechtigkeit steht.

 

Die Stufensteuer: wirtschaftlich sinnlos UND ungerecht

Kommen wir zu dieser, kommen wir zur Gerechtigkeit. Die FDP hatte gefordert, den Mittelstandsbauch abzubauen. Dieser bedeutet, dass im deutschen Steuersystem zur Zeit Niedrigverdiener und der Mittelstand höher belastet werden als die Spitzenverdiener, da die Progression zunächst steiler verläuft, dann abflacht. Mit einem Stufentarif würden jedoch quasi so viele Bäuche wie Stufen entstehen und das Problem damit noch potentiert. Mehr Gerechtigkeit bedeutet dies also in keinem Fall, egal, von welchem Gerechtigkeitsverständnis wir sprechen (aber dazu kommen wir später). Auch das in letzter Zeit immer wieder gern genannte Argument der “kalten Progression” ließe sich nur bedingt mit einem Stufentarif beseitigen, da eben an der Grenze zu einer höheren Steuerstufe ein großer Sprung stattfindet (statt eines immer gleichmäßigen Anstiegs), also diesmal wirklich ein bedeutenderer Teil eines hinzuverdienten Euros wieder verschwindet. Für bestimmte Gruppen, deren Einkommen an diesen Schwellen liegen, bedeutet dieses System also einen Verlust an “gerechter” Besteuerung und auch eine Art der Willkür. Ein gleichmäßig ansteigendes Steuersystem ist sehr viel rationaler und wohl unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht zu überbieten.

Auch den größtenteils Juristen, die bei den Regierungsparteien für die Wirtschafts- und Steuerpolitik verantwortlich sind, dürften diese Punkte nicht entgangen sein. [Auch wenn ich den Eindruck habe, dass man vielen von deren Anhängern noch mal den Unterschied zwischen Grenz- und Durchschnittssteuersatz erklären sollte (was wenigstens einige von ihren Äußerungen erklären könnte)]. Ein Stufentarif ist nicht viel einfacher als ein progressiver, und er ist nicht gerechter. Und dies trifft noch viel mehr auf die Kopfpauschale zu.

 

Die Kopfpauschale: warum die Gesundheit eines Menschen nicht das selbe wie ein Auto ist

Der neue Gesundheitsminister Rösler meint, die Kopfpauschale entlaste nicht nur den “Faktor Arbeit”, sondern dürfe ja auch gar nicht als “unfair” bezeichnet werden: über die Gesundheitsversicherung könne sowieo keine Umverteilung erfolgen, diese könne nur über das Steuersystem geschehen. Mal davon abgesehen, dass ich den Wirtschaftsliberalen glaube ich hier kein Unrecht tun, wenn ich festhalte, dass diese sowieso gegen den “Umverteilungsstaat” eintreten, ist die Aussage auch in anderer Hinsicht falsch. Die Gesundheitsversicherung ist in einem breiten politischen Konsens als Versicherung entwickelt worden, in der 1. jeder nach seiner Leistungsfähigkeit einzahlt und 2. jeder bei Bedarfsfall die Leistungen erhält, die er benötigt.

Zum 1.: Das eine einkommensunabhängige Kopfpauschale das Gegenteil dieses Prinzips darstellt, ist offensichtlich und bedarf wohl keiner eingehenderen Erläuterung. Und solche Äußerungen wie “wir zeigen durch eine Kopfpauschale, dass uns die Gesundheit jedes Bürgers gleich viel wert ist”, machen nur Sinn, wenn man die Gesundheitsversicherung sagen wir wie eine KFZ-Haftpflichtversicherung betrachtet, wenn man die Gesundheit zur Ware macht. Jeder zahlt einen gleichen Betrag, oder besser noch: “Risikogruppen” zahlen in der Gesundheit wie Umweltschädlinge bei den Autos höhere Beträge. Hier liegt aber ein gewaltiger Unterschied: die Gesundheit eines Menschen zu bewahren und ihm die Hilfe, die er benötigt, zukommen zu lassen, ist ein Grundpfeiler einer menschlichen Gesellschaftsform. Die Gesundheit ist außerdem nicht etwas, was man sich aussucht, wie etwa ein Auto, und für ihre Beibehaltung und Wiederherstellung sind auch nicht einigermaßen gleiche und vorhersehbare Kosten notwendig, wie bei einem Auto. Und diese Sicht, die Gesundheit nur als Ware zu betrachten, die auf Märkten gehandelt wird, wirkt sich auch auf das 2. Prinzip aus, die 2-Klassen-Medizin, die in Deutschland immer mehr entstanden ist. Die “Reformen”, die im Gesundheitssystem geplant sind, gehen noch mehr in diese Richtung: nur noch eine Basis-Grundversorgung für die Niedrigverdiener, mit “flexibel wählbaren” Erweiterungen. Je mehr Geld, gegen desto mehr Risiken kann man sich absichern, eine desto bessere Behandlung bekommt man. Im Extremfall kann der Geldbeutel über Leben und Tod entscheiden. Und dies tut er schon viel zu häufig.

NACHTRAG: Der Spiegelfechter: Spitze Ellenbogen statt starker Schultern. Schwarz-Gelb beerdigt die paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems

 

Wenn der Mensch nur das zählt, was er leisten kann

Und doch kommt diese Haltung nicht von ungefähr. Sie rührt aus der in den letzten 3 Jahrzehnten zur Vorherrschaft gelangten neoliberalen Ideologie, in der der Einzelne nur so viel zählt, wie er wirtschaftlich zu leisten im Stande ist. In dieser ist dann für viele für Altruismus ebenso wenig Platz wie für als “Schwäche” angesehene physische oder psychische Krankheiten. Da gibt es keine Entschuldigung, jeder Mensch muss Leistung bringen – immer! In dieser harten Leistungsgesellschaft setzt sich nur der Starke durch. Eine überaus ekelerregende und pervertierte Erscheinung dieser Denkweise ist es vielleicht auch, wenn (glücklicherweise – noch? – in wenigen Einzelfällen) Ökonomen sich in als Studien getarnten Angriffen auf das humanistische Menschenbild und die Menschenwürde dazu herablassen, das Wert eines Menschenlebens daran zu bemessen, wie viel dieser für seine Gesundheit auszugeben in der Lage und bereit ist und so allen Ernstes zu dem Schluss kommen, man solle nur für die Gesundheit der Menschen in den reichen Ländern sorgen, weil die Menschen dort mehr dafür ausgeben können. Wer kein Geld hat, soll halt sterben. Oder Geld verdienen. Wie gesagt, diese menschenverachtenden Pamphlete sind zum Glück selten, und ich möchte auf keinen Fall sagen, dass solch widerliche Ansichten aus liberalen Überzeugungen folgen müssen. Aber in gewisser Weise treiben sie die Ansicht der Gesundheit als Ware – wie gesagt, pervertiert – auf die Spitze. Eine Entwicklung, die ein Warnsignal sein muss an alle, die daran glauben, dass jedes Menschenleben gleich viel zählt – seien es Liberale, Konservative oder Linke.

 

Gerechtigkeit und Menschenbild: Wenn der Mensch ausschließlich egoistisch ist

Die Gerechtigkeitsvorstellungen einer politischen oder philosophischen Richtung hängt nicht zuletzt mit deren Menschenbild zusammen. Der Mensch der liberalen und der konservativen Ideologie ist der Mensch, den die Großbürger Hobbes und Locke im England der frühen Neuzeit erfunden haben. Vorher war es kaum möglich gewesen, den Bürger als völlig herausgelöst aus der Gesellschaft zu betrachten. Die früheren Grundsteinleger des Liberalismus (Locke) und des Konservatismus (Hobbes) verstiegen sich nun aber dazu, den Bürger, den sie in der City of London sahen, als den Menschen schlechthin zu konzipieren, den ursprünglichen  Menschen des Naturzustandes. Dieser Mensch, so ihre Vorstellung, steht isoliert dar und handelt ausschließlich egoistisch unter einem auf die Verfolgung des eigenen Nutzens beschränkten Rationalitätsbegriff. Gewiss gibt es egoistisch nutzenmaximierend handelnde Menschen. Doch das Menschenbild, das Liberale und Konservative als das einzig mögliche ansehen, ist ebenso ein Ausdruck seiner Zeit wie das des politischen Mensch des antiken Griechenlands. Konkret ist es das Produkt des aufkommenden Kapitalismus in England zur Zeit des 17./ 18. Jahrhunderts.

Doch dieses Menschenbild ist das, was in der liberalen Lehre und in den liberalen Wirtschaftswissenschaften bis heute vorherrscht. Auch wenn soziologische Studien zeigen, dass die Gesellschaft eine viel größere Rolle spielt, dass der Mensch sich erst durch die Gemeinschaft als Individuum entfalten kann, stört das die Vertreter dieses Menschenbildes nicht sehr. Sie können und sie wollen sich nicht vorstellen, das Menschen auch altruistisch handeln können. Und so etwas ist keine Wissenschaft. So etwas ist Ideologie.

Wenn sich eine Ideologie auf dieses Menschenbild gründet, kennt sie höchstes die Konzepte “Leistungsgerechtigkeit” und “Chancengerechtigkeit”. Je mehr man leistet, um so mehr soll man davon haben, und jeder soll die gleichen Startchancen habe. “Soziale Gerechtigkeit” oder “Verteilungsgerechtigkeit” sucht man dort vergebens. Diese sind ur-sozialdemokratische Konzepte (und die “Sozialdemokraten”, die, v.a. in der Schröder-Müntefering-Steinmeier-Ära versucht haben, soziale Gerechtigkeit durch Chancengerechtigkeit zu ersetzen, haben damit nur versucht, den mageren Abklatsch des sozialdemokratischen Originals dort einzuschleusen. Die ehemals sozialdemokratische Labour-Party hat – nicht nur nach meiner, sondern auch nach der Meinung vieler Wissenschaftler – mit der Abkehr von der sozialen und Hinwendung zur Chancengerechtigkeit endgültig den Wandel von der sozialdemokratischen zur wirtschaftsliberalen Partei vollzogen).

 

Liberal versus Neoliberal

Während die klassischen Liberalen also noch ein paar Gerechtigkeitsbegriffe haben, wollen die härtesten Vertreter des Neoliberalismus davon nichts hören und lehnen auch diese Begriffe ab. Um ein Beispiel zu nennen: der klassische Liberale würde hohe Managergehälter z.B. dadurch rechtfertigen, dass diese viel arbeiten und eine hohe Verantwortung und hohe Risiken zu tragen haben. Eine Argumentation, die man nicht teilen muss, aber immerhin eine nachvollziehbare und in sich schlüssige Argumentation, denke ich. Der Neoliberale Hayek dagegen würde sagen: diese verdienen so viel, weil sie sich auf dem Markt durchgesetzt haben. Weil es so ist. Gerechtigkeit gibt es nicht, es kann sie (und es soll sie) nicht geben. Als “gerecht” könnte man dann höchstens noch die Marktergebnisse bezeichnen, egal wie sie ausfallen, eben: weil sie so ausfallen.Und an den Marktergebnissen etwas zu ändern, sei ein Eingriff in die menschliche Freiheit – allein die Erhebung von Steuern betrachtet er als eine im Prinzip genauso große Freiheitsberaubung und ebenso ein Eingriff in die Menschenwürde (!) wie etwa Gefängnis oder Folter.

 

Wir sehen also, Vorstellungen von Gerechtigkeit könne sehr verschieden und vielfältig sein – aber kaum so vielfältig wie die verschiedenen politischen Vorschläge, die immerzu reflexhaft als “gerecht” gegen jede Kritik immunisiert werden. Mal sehen, ob Regierung und Medien es schaffen, auch die Kopfpauschale und ein Stufenssteuersystem der Öffentlichkeit als “gerecht” zu verkaufen. Zumindest bei Letzterer sieht es ja ganz gut für sie aus.

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