Sensationelle Entwicklung oder simple Täuschung?

Die angeblichen Wunder um den Rückgang der Erwerbslosenzahlen in Deutschland im April 2010 sind relativ einfach zu entzaubern: es handelt sich um eine bloßen statistischen Trick. Statt durch eine Erholung ist der deutsche Arbeitsmarkt in Wirklichkeit durch mehr Prekarität gekennzeichnet.

Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt?

Die deutschen Medien jubeln, dass die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sensationell sei. Eine Schlagzeile jagt die nächste. Staunen, Wunder, Euphorie. Alle scheinen völlig aus dem Häuschen zu sein. Und alles kam völlig überraschend! Ein unfassbar starker Rückgang der Arbeitslosigkeit wird verlautbart, die Wirtschaft kommt wieder in Schwung – und das haben wir alles nur unserer klugen und umsichtigen Regierung zu verdanken! Klingt ja erstmal ganz gut, könnte man denken. Macht die Regierung ja doch vielleicht mal was richtig. Doch wie sieht es wirklich aus?

178.000 Erwerbslose wurden diesen April weniger gezählt als im April 2009, so meldet man. Doch hinterfragt wird nicht. Wieso auch? Heißt das etwa nicht, 178.000 Erwerbslose weniger, fragt man sich jetzt zu Recht? Um die Pointe vorwegzunehmen: Nein, das heißt es nämlich nicht! Das Stichwort lautet: Schönrechnen. Dabei ist es hier noch einfacher als bei vielen anderen der üblichen Verdrehungnen und Verzerrungen, hinter den nackten Zahlen die tatsächliche Entwicklung zu erkennen. Eigentlich schon zu einfach, ist es doch nur ein wirklich ganz billiger Statistiktrick.

Ein simpler Rechentrick

Denn, tadaa!, alle Arbeitslosen, die bei privaten Arbeitsvermittlern gemeldet sind, zählt man 2010 einfach nicht mehr zu den Arbeitslosen! Laut Schätzungen sind dies etwa 200.000. Schauen wir noch mal auf den angeblichen Rükgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vergangenen Jahr. Wie hoch soll der noch mal gewesen sein? Ach ja, 178.000. Und schon hat man statt tatsächlich mehr Arbeitslosen sogar offiziell weniger! Und der angeblich so überraschende “Rückgang” im Vergleich zum Vorjahr ist dann keineswegs mehr überraschend (und ja noch nicht einmal ein Rückgang). So einfach kann man sich Erfolge stricken, so einfach kann man von katastrophalen Entscheidungen in der Wirtschaftspoliik ablenken.

Wenn diese Tatsache in den meisten Berichterstattungen mal gar nicht erwähnt wird, weiß man schon, was man hinsichlich journalistischer Qualität von diesen zu halten hat. Offenbar freut man sich in vielen Redaktionen so sehr, endlich mal wieder etwas Positives über die Regierung schreiben zu können, dass man alle Einwände, auch wenn sie noch so offensichtlich sind, schnell unter den Teppich kehrt. Hat ja hoffentlich keiner bemerkt. Ok, wäre diese Maßnahme wenigstens irgendwie statistisch sinnvoll, meinetwegen (trotzdem hätte man es erwähnen müssen). Aber wieso soll denn bitte ein Arbeitsloser, der bei einer privaten Job-Agentur nach einem Arbeitsplatz sucht, weniger arbeitslos sein als jemand, der bei der Bundesagentur gemeldet ist? Nein, so eine Zählweise ist nur verschleiernd und gar kontraproduktiv, erschwert sie doch eine für politische Progamme notwendige umfassende Bestandsaufnahme des Arbeitsmarktes.

Eher Wandlung statt Zunahme der Arbeitsplätze

Natürlich, bleiben wir fair, gab es dennoch einen relativ großen Rückgang im Vergleich zum Vormonat. Worauf ist dieser nun zurückzuführen? Das Kurzarbeitergeld war im Prinzip richtig und hat viele Jobs gerettet, keine Frage (aber natürlich hätten gößere Konjunkturprogramme auch mehr bewirken und die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sich schneller erholen lassen). Aber: die Kurzarbeit, sowie die oft erfolgte Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen (s.u.), hat dazu geführt, dass zwar vielleicht nicht die Zahl der Beschäfigten, aber die Arbeitsleistung insgesamt (in Stunden) zurückgegangen is, auch das muss man betrachten. Und andere Faktoren, die zu den Arbeitslosenwerten im April beigetragen haben, wie saisonale und demographische, darf man auch nicht vernachlässigen.

Andere wichige Eckpunkte des Arbeitsmarktes, die die Bundesagentur bekanntgab, werden in der medialen Berichterstattung meist einfach verschwiegen: Die Zahl der Unterbeschäftigten blieb im vergangenen Jahr weitgehend konstant (4,6 Millionen). Die gemeldeten offenen Stellen sind nicht viel mehr geworden. Es gibt deutlich mehr Hartz-IV-Bezieher (6,7 Millionen), darunter auch viele “Aufstocker”, die nur Niedriglöhne verdienen. Im letzten Jahr gab es 300.000 Vollzeitstellen weniger und 200.000 Teilzeitsarbeitsstellen mehr. Die Zeitarbeit hat deutlich zugenommen. Insgesamt gab es deutlich mehr prekäre Beschäftigungsformen und nur wenig tatsächliches Wachstum der Arbeitsplätze. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden durch prekäre ersetzt. Wahrlich kein Grund, in voreiligen Jubel auszubrechen.

[Quellen: Arbeitsmarkt: Wo das “deutsche Job-Wunder” herkommt (Frankfurter Rundschau), Arbeitsmarkt im April (NachDenkSeiten)]

Deutschland, Land der Niedriglöhne

Das Wachsen prekärer Arbeitsformen und die zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft wird auch von ganz unerwarteter Seite bestätigt. Die Bertelsmann-Stiftung (!) stellt in einer neuen Studie (“Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit. Benchmarking Deutschland: Befristete und geringfügige Tätigkeiten, Zeitarbeit und Niedriglohnbeschäftigung”; Autoren: Werner Eichhorst, Paul Marx, Eric Thode; Zusammenfassungen: Taz, Bertelsmann, S. 5-7 der Studie) fest, dass in Deutschland zwischen 2000 und 2007 von 17 OECD-Ländern die Lohnungleichheit am meisten gewachsen ist. Untersucht wurden in der Studie die EU- und die OECD-Staaten. Auch im europäischen Vergleich gebe es in Deutschland eine “ausgeprägte Lohnspreizung”. Außerdem ist es hier sehr schwer, in jeweils höhere Lohngruppen aufzusteigen.

Niedriglöhne haben sich hierzulande sehr stark verbreitet. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Frauen, junge Arbeitnehmer und Ausländer sowie der Bau- und der Dienstleistungssektor. Der Niedriglohnanteil unter den beschäftigen Frauen ist sogar der zweithöchse unter allen Industrieländern (nach Südkorea, noch vor den USA). Der deutsche Niedriglohnsektor hat außerdem am meisten zugenommen und lag 2007 bei einer Größe von 17,5% der Beschäftigten. Ursachen sind eine abnehmende Tarifbindung, mehr “Aktivierungsbemühungen von Transferbeziehern” und eine Zunahme von Mini-Jobs, Teilzeitarbeit und Aufstockern.

Wachsende Prekarität

Ein weiteres Ergebnisse der Studie: atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit (auch Zeitarbeit genannt), befristete Beschäftigung und Mini-Jobs haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen, oft auf Kosten regulärer Beschäftigung. Zeitarbeit wird dabei nicht primär genutzt, um den Beschäftigungsstand der Auftragslage anzupassen, sondern als eigenständige prekäre Beschäftigungsform (vor allem in der Industrie). Sie führt – ähnlich bei befriseter Beschäftigung – außerdem nicht zu mehr Übergängen in reguläre Beschäftigung. Und: die Bertelsmann-Stiftung  empfiehlt eine Angleichung der Bezahlung und Arbeitsbedingungen von Zeitarbeit und regulärer Beschäftigung. Außerdem stellt sie fest, dass Minijobs zu niedrigeren Löhnen und mehr Belastung für die Sozialsysteme führen. Diese sowie andere Kombilohn-Modelle sollten nicht ausgeweitet werden. Der Kündigungsschutz solle bei unbefristeter wie bei befristeter Beschäftigung (und auch bei der Leiharbeit) von der Beschäftigungsdauer abhängig gemacht werden. Außerdem fordert sie eine Pflichtversicherung für Selbstständige und eine Verstärkung von qualifizierenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht neu, auch ich habe auf Guardian of the Blind schon auf entsprechende Untersuchungsergebnisse (z.B. zur Lohnungleichheit und zur Leiharbeit oder zu Kombilöhnen) hingewiesen. Jedoch ist es auch, so wenig man die Bertelsmann-Stiftung mögen muss, gut zu sehen, dass mal nicht alle Neoliberalen vor den ökonomischen Tatsachen die Augen verschließen – und vor allem, dass sie diesmal sogar bereit sind, wenigstens teilweise die Konsequenzen zu ziehen und den Befunden entsprechnde Forderungen zu stellen. Würden unsere Politiker wenigstens ab und zu mal zu solchen Einsichten fähig sein, wäre schon viel geholfen. Mit einer anderen Interpretation könnte man sagen: Die Wandlungen in der deutschen Gesellschaft sind so groß, dass sie nicht mehr geleugnet werden können, auch nicht von den neoliberalen Vordenkern. Auch wenn sie oft zögern, das Wort Prekarität in den Mund zu nehmen, sondern lieber von Strukturwandel oder ähnlichem sprechen. Irgendwie muss man wohl doch noch versuchen, Schlechtes schönzureden.

Aufkommende Krise und deutsche Verantwortung

Wie dem auch sei, die Fakten sprechen für sich, und sie zeigen wenig Erfreuliches. Statt einer Zunahme von regulären, sicheren, gut bezahlten Arbeitsplätzen wurden diese oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch Unsicherheit, schlechte Bezahlung und schlechtere Arbeitsbedingungen abgelöst. Die Kurzarbeit mag Schlimmeres verhindert haben, doch sie verschleiert auch teilweise das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise. Solche Tatsachen zu benennen wäre Aufgabe eines kritischen und sachgerechten Journalismus, und nicht das blinde Zujubeln zu Regierungsverlautbarungen. Doch das will man offenbar gar nicht, wie auch die Berichterstattung zu Griechenland zeigt.

Die aufkeimende Euro-Krise, für die Angela Merkel durch ihr verantwortungslose Handeln die Hauptverantwortliche ist, wird in Europa zu fatalen Folgen führen, und, das ist abzusehen, sie wird auch an der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Arbeitsmarkt nicht spurlos vorbeiziehen. Doch sei es drum, hat man ein paar Wähler in Nordrhein-Westfalen durch die von den Mainstream-Medien bejubelte “harte Haltung” zu Griechenland und die “sensationellen Erfolg am Arbeitsmarkt” (die ja, wie gezeigt, nur sehr wenig sensationell sind), gewonnen, dann ist ja das Ziel erreicht. Auch wenn solche möglichen Wahlerfolge aufgrund der drohenden Krisen relativ klein und unbedeutend erscheinen könnten. Doch auch große Lawinen werden von kleinen Erschütterungen ausgelöst.

Bilder:

Eigene Screenshots; Merkel: http://www.flickr.com/photos/30698512@N04/4414905694/ / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

[Dieser Artikel wurde auch beim binsenbrenner.de und beim Oeffinger Freidenker veröffentlicht.]

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Wenn sich Inkompetenz und Wahlkampfmanöver paaren

Der durch einseitige Ausrichtung auf Wahlkampfinteressen bestimmte und von hetzerischen Kampagnen der Boulevardpresse begleitete zögerliche Schlingerkurs der deutschen Bundesregierung in der Griechenlandfrage hat schon jetzt zu erheblichen wirtschaftlichen und politischen Schäden geführt. Die weiteren Folgen könnten noch verheerender sein.

Die Berichterstattung der deutschen Medien zur Griechenland-Krise ist von einer selbst für diese fast beispiellosen Inkompetenz geprägt, oft besteht sie nur im Nachplappern der von Wahlkampfmanövern bestimmten Positionen der Bundesregierung bis zu offener Hetze, Diffamierungen und niederste Beleidigungen seitens des Rechts-Boulevards. Positiv ragen in der Berichterstattung fast nur Onlineveröffentlichungen, etwa bei Weissgarnix (z.B. “Drohendes Desaster”), beim Herdentrieb (Zeit Online), auf Telepolis oder vom Spiegelfechter hervor.

Statemens von (ernstzunehmenden) Ökonomen sind in den Mainstream-Medien zudem selten zu finden. Aus gutem Grund, denn deren Analysen unterscheiden sich stark von dem populistischen Griechen-Bashing des Politik-Medien-Konglomerats. Heiner Flassbeck bezeichnet in einem Interview mit tagesschau.de das Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung zu Griechenland als katastrophal, u.a. da sie “dem Irrsinn, der im Moment an den Märkten herrscht, nicht Einhalt gebietet”, der “das Resultat von Zockerei und Panikmache” sei. Europa habe es leider versäumt, Maßnahmen zur Reform der Finanzmärkte wie die aktuell von Obama geplanten zu treffen. Finanzhilfen für Griechenland seien im Grunde richtig, aber in einer solchen Krise würden Sparmaßnahmen in Griechenland, die v.a. bei Löhnen und Sozialleistungen erfolgen, dessen wirtschaftliche und soziale Schieflage weiter verschärfen. Außerdem, so ein weiterer Punkt, solle die verzerrte Wettbewerbsfähigkeit in Europa aufhören: in Deutschland müssten höhere Löhne gezahlt werden.

tagesschau. de: Andere Stimmen sagen: Wir haben die Stabilitätskriterien eingehalten durch eine zurückhaltende Lohnpolitik und gut gewirtschaftet, und jetzt sollen wir für die einspringen, die das nicht getan haben. Ist das nicht ein berechtigter Einwand?

Flassbeck: Das ist vollkommen falsch. Man hat eine Währungsunion gemacht mit einem Inflationsziel von zwei Prozent. Das ist eine implizite Verpflichtung, die Löhne ungefähr zwei Prozent über der Produktivität zu halten. Deutschland ist massiv darunter geblieben und hat damit sozusagen eine Deflationspolitik betrieben, ohne es den anderen zu sagen. So wurde Deutschland fast zum alleinigen Gewinner, während fast alle anderen darunter leiden. Das hat nichts mit Sparen zu tun: Das war und ist ein klarer Verstoß gegen den Geist der Währungsunion.

Nein, das hört man nicht gerne. Schulden und Inflation vermeiden, das ist dem Deutschen noch heiliger als sein Bier und sein Auto. Dass Deutschland zumindest eine Mitschuld an den europäischen Ungleichgewichten tragen könnte will man nicht einmal in Erwägung ziehen. Und dass die jahrelange Lohndumping-Ökonomie schädlich sein könnte, nein, dass ist ja alles nur sozialromantischer Linksextremismus! In Deutschland lässt man sich von allem, was gegen die neoliberale Ideologie spricht, egal wie gut belegt, egal wie sinnvoll es ist, schon lange keine Ratschläge geben. Flatter von Feynsinn schreibt:

Seit 30 Jahren wird gebetet, Konsum sei schädlich, niedrige Löhne gut und die jährliche Exportweltmeisterschaft pure Glückseligkeit. (…)

Kein Wort war es den gefragten “Experten” wert, wie volkswirtschaftlich – und zwar global – vernünftige Politik gestaltet werden könnte. Im Gegenteil wurde das Wohl und Wehe der Menschen dem “Standortwettbewerb” überantwortet, was nichts anderes heißt, als den manischen Egoismus eines einäugigen Betriebswirtschaftsdenkens der politischen Ökonomie überzustülpen. Werden in der kruden Konkurrenz der Betriebe und Konzerne die Verlierer vom Markt radiert oder ausgeweidet, ist das unschön, aber in Grenzen praktikabel. Dieses Prinzip aber als alternativloses den Staatswirtschaften zu verschreiben, ist ökonomischer Völkermord. Es sollte keine Volkswirtschaft existieren dürfen, die sich nicht den Regeln der profitorientierten freien Märkte unterwarf. Alternativen wurden mit aller Macht unterdrückt.

Die ökonomische Uneinsichtigkeit paart sich zudem mit parteipolitischen Interessen im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Wäre schnelle Handeln seitens der Bundesregierung erforderlich gewesen, gab es einen wochenlangen Schlingerkurs. Die Rettungsaktion für Griechenland nun dürfte als der unprofessionellste bailout aller Zeiten in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Angela Merkel hat durch ihr Wahlkampfgeschacher und -geplänkel nicht nur Griechenlands Krise verschlimmert und die Kosten in die Höhe getrieben, sondern könnte auch einen Flächenbrand in Europa ausgelöst haben, der bald auch Portugal und Spanien und dann Irland und Italien erfassen und die Eurozone in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte.

Diese Regierung hat hier wie in wohl kaum einem anderen Feld gezeigt, dass sie keinerlei Verantwortung, Solidarität oder auch nur Einsicht besitzt. Für ein paar Wählerstimmen ist man bereit, Milliardenverluste in Kauf zu nehmen, ganze Ökonomien weiter zu destabilisieren und Zinssätze und Spekulationstätigkeiten anzuheizen. Die Kosten dafür wird die Bevölkerung in Europa tragen müssen, in den betroffenen Ländern und bei uns. Die Beteiligung des IWF an den Rettungsaktionen, auf denen Merkel so bestanden hat, wid noch größere soziale Schäden verursachen und mehr Armut schaffen. Und die Kosten für die Zukunft der europäischen Integration sind kaum absehbar. Aber immerhin kann sich jetzt der Stammtisch freuen, dass WIR es diesen faulen, streikenden, schuldenmachenden, nicht sparen wollenden, korrupten, lügenden, im Luxus prassenden Pleite-Griechen mal so richtig gezeigt haben!

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Neoliberale Glaubenskrieger

Nirgendwo wurde seit dem Paradigmenwechsel in den 70er-Jahren vom Keynesianismus zum Angebotsdogma mit so deutscher Konsequenz auf die neue Heilslehre gesetzt, so radikal zwischen Gut und Böse getrennt und alles andere verteufelt. Nirgendwo werden ökonomische Vorstellungen mit derart quasireligiösem Eifer verkämpft und wird eine einzige ökonomische Vernunft postuliert – was jeden Widerspruch praktischerweise als Mangel an Einsicht aussehen lässt. Und während US-Wissenschaftler ganz sportlich das Etablierte infrage stellen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, leben und sterben deutsche Kollegen mit dem Problem, die große Wahrheit bei den Ungläubigen endlich unterzukriegen.

(Thomas Fricke über die deutsche Mainstream-Ökonomie, die sich, während sonst weltweit in der Ökonomie langsam ein Umdenken einsetzt,  immer noch an veraltete Dogmen klammert, die immer noch davon ausgeht, dass die Finanzkrise nur durch böse Politiker und Fehler Einzelner entstanden ist und dass die größten wirtschaftlichen Gefahren in Deutschland Schulden und Inflation seien.)

In der Tat ist es auch immer wieder erstaunlich, wie die Vertreter des Neoliberalismus, die normalerweise so etwas wie Werte und moralische Überzeugungen ablehnen und eine bloße Zweckrationalität fordern, die bei Begriffen wie “Gerechtigkeit” oder “Solidarität” in verächtlichen Zynismus übergehen, wie sie, wenn sie allein das Wort “Markt” benutzen, in eine Verzückung überzugehen scheinen, als sei ihnen der heilige Geist erschienen. Wie Religiöse von ihrem Gott, so sprechen sie von den Marktmechanismen, wie Erstere an eine göttliche Gerechtigkeit als letzte Instanz glauben, so glauben sie an eine, nun, man kann es wohl kaum Gerechtigkeit nennen, aber an eine Endlegitimation, an einen Endzweck im Markt. Die Ergebnisse des Marktes sind unfehlbar für die einen wie Gottes Wort für die anderen.

Dabei dürfen wir aber nicht den Fehler machen, den Markt nur als einen Mechanismus zu verstehen, durch den Angebot und Nachfrage in Einklang gebracht werden. Nein, der Markt steht bei ihnen als die Plattform der ungezügelten Konkurrenz, auf dem sich der Mensch als Homo Oeconomicus gegen den anderen Menschen durchsetzen muss – am besten immer und überall. Und natürlich gibt es dort Gewinner und Verlierer. Das Ergebnis des Marktes beruht also nicht, wie bei Anhängern religiöser Bewegungen, auf einer umfassenden Vernunft oder ähnlichem, sondern auf den Ergebnissen des Wettbewerbes, auf dem sich der klügste, schnelleste, stärkste, was auch immer, durchsetzt. Und der Verlierer ist nicht der, der gesündigt hat o.ä., also der, der bestimmte, bekannte Regeln gebrochen hat, sondern einfach der, der auf dem Markt verliert. Hier wie dort trägt aber der Verlierer selber an seinem Schicksal selbst die Schuld (natürlich immer aus der Sicht derer, die sich selbst als Gewinner, als Leistungsträger oder Erleuchtete oder Auserwählte sehen).

Und das, denke ich, ist der Grundsatz der Ideologie, die sie verehren, die sie predigen (ein Grundsatz, der in der Form, wie man an ihm festhält, zwar religionsartige Züge trägt, inhaltlich in gewisser Weise aber auch als Gegenstück zu Religionen oder philosophischen Richtungen  gesehen werden kann): die Wirtschaft wie die Gesellschaft sollen nicht durch Werte, nicht durch eine wie auch immer festzustellende oder zu bildende Vernunft, nicht durch Demokratie oder durch Planung, geregelt werden, sondern durch Wettbewerb und Konkurrenz, die blind sind für Zwecke und Werte, auf denen die, die sich durchsetzen, die Gewinner sind nicht durch bestimmte Qualifikationen und nicht legitimiert durch Werte, sondern nur durch den Vorgang selbst legitimiert, dass sie sich durchgesetzt, dass sie gewonnen haben. Dass Bestehende ist nicht vernünftig, es ist das Ergebnis der Erfolgreichen im Konkurrenzkampf, es soll aber auch nicht vernünftig sein, es soll nicht zur Vernunft gebracht werden. Denn der Markt ersetzt die Vernunft. Wer eine religiöse oder quasi-religiöse Überzeugung hat, auf dem alles, was ein Gott angeblich sagt, oder das, was sich aus dem Marktgeschehen ergibt, das Letzte, das Endgültige, das nicht zu Hinterfragende ist, braucht diese nicht mehr.

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Rettet Europa vor Deutschland!

Die Bundesregierung scheint weiter unter einer hartnäckigen Form des Dunning-Kruger-Effekts zu leiden. Trotz der von vielen verschiedenen Seiten zu hörenden und gut begründeten Kritik an Deutschlands einseitiger Lohndumpings- und Exportdopings-Politik und ihren negativen Folgen – für Europa, aber auch für Deutschland selbst – will Wirtschaftsminister Brüderle nun eine Außenhandelsoffensive starten. Natürlich, wie es sich für eine schwarz-gelbe Regierung gehört, will man auch der Rüstungsindustrie bei der Auftragsgewinnung helfen und den Export von Atomtechnologie vorantreiben. Auch wenn die gesamte Initiative dabei nicht besonders durchdacht sei (hätte das denn noch wirklich jemand erwartet?), könne sie schon durch ihr unangemessenes Timing und Brüderles “trotzig-arrogante Reaktion auf Kritik” großen Schaden anrichten, schreibt die Financial Times Deutschland. Als ob Deutschlands Brachial-Position zur Griechenland-Frage nicht reichen würde.

Naja, was soll man schon von einer Regierung erwarten, deren Chefin allen Ernstes als einen großen Erfolg angibt, dass die Regierung einen Haushalt verabschiedet hat? Auf wirkliche Einsicht wird man bei Schwarz-Gelb nicht hoffen können, noch weniger auf sinnvolle Taten, wenn Ignoranz und Arroganz zusammentreffen. Nein, die deutsche Regierung hat offenbar vielmehr vor, auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik der Taktik von George W. Bush nachzueifern: wie dieser sich von Gott berufen sah, der Welt ohne Rüksicht auf Verluste “Frieden” mit dem Schwert zu bringen, so ist die Bundesregierung gewillt, Europa, notfalls auch alleine, die Segnungen einer straffen Haushaltsführung und von hohen Unternehmergewinnen zu bescheren, auch wenn dies eine schwächelnde Gesamtwirtschaft, sinkende Löhne, europaweite Instabilitäten und vielleicht selbst den Staatsbankrott eines Landes zur Folge hat (das einzige, was sie daran stören würde, wäre wohl, dass damit der zweitgröße Importeur deutscher Waffen pleite ginge).

Vielleicht bleibt tatsächlich nur noch ein Mittel, um die Ungleichgewichte in der deutschen und der europäischen Wirtschaft zu reduzieren und die Stabilität in Europa zu gewährleisten: Deutschland aus der Eurozone rauszuschmeißen. 😀

Bildquelle:

Anderson Mancini / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

[Auch erschienen beim binsenbrenner.de]

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Deutschlands Lohndumping-Politik: nicht weiterzuempfehlen!

Was ist von der Kritik Frankreichs an der Ausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik zu halten? Die üblichen Verdächtigen aus der Politik (FDP, CDU), den Wirtschaftslobbys (BDI, Bundesverband für Groß- und Außenhandel) und ihren Mietmäulern (ifo u.a.) sowie der Presse (Springer, Spon, Marc Beise) toben, reden von “Deutschland-Bashing”, meinen, dass die anderen EU-Länder nur “neidisch” wären und “Deutschland ausbremsen” wollten. Wenn sie doch mal den Schaum vorm Mund losgeworden sind, verteidigen sie die deutsche Umverteilungspolitik von unten nach oben als Stärke der deutschen Wirtschaft. Doch was sagen die Fakten?

Jens Berger zeigt, warum die Fixierung der deutschen Wirtschaftspolitik auf Lohndumping zur Exportförderung weder für Deutschland noch für andere europäische Länder zu empfehlen ist. In Deutschland gab es in den letzten 15 Jahren durch Reallohnkürzungen zwar niedrigere Lohnkosten und höhere Exportzahlen, aber auf Kosten des Binnenkonsums. Von den höheren Exporten profitierte ausschließlich das Kapital. Außerdem klappt dieses Konzept natürlich nur, weil die anderen Länder (v.a. in Europa), die keine gezielte Niedriglohnpolitik betrieben haben, deutsche Waren importieren. Wenn alle Länder so wie Deutschland verfahren würden, könnte es nicht funktionieren. Vielmehr wäre es für Deutschland und ganz Europa sinnvoller, wenn Deutschland sich mehr wie seine Nachbarn verhalten und die Niedriglohnpolitik endlich aufgegeben würde.

Laut Heiner Flassbeck hat das systematische deutsche Lohndumping andere EU-Staaten geschwächt und die europäische Geldpolitik destabilisiert. Leistungsbilanzüberschuss und hohe Exporte hätten keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, da die schwache Binnennachfrage dies wieder zunichte mache. Er empfiehlt dagegen Lohnsteigerungen in Deutschland.

Selbst die  EU-Kommission und der IWF forderten, dass Deutschland seine Binnenachfrage (Konsum und Investitionen) stärken soll. Wenn selbst bei den Vorreitern des Neoliberalismus allmählich ein Umdenken , wäre es an der Zeit, dass die deutsche Politik endlich die schädlichen Wirkungen einer Niedriglohn-Ökonomie und einer Abhängigkeit von einem äußerst fragilen Export erkennt. Doch dies wird angesichts der Verpflichtungen der derzeitigen Machthaber gegenüber der Export- und Großindustrie und der Ausrichtung an deren Interessen und wegen dem blinden Anhängen an wirtschaftsliberalen Dogmen kaum wahrscheinlich sein.

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Südkoreas entwicklungslenkender Staat: ein Erfolgsmodell?

Von den neoliberalen Ökonomie wird es oft als bewiesene Tatsache hingestellt, dass nur eine streng marktliberale Politik wirtschaftliche Erfolge zeigen kann. Belege werden meist nicht gegeben – kein Wunder, sind sie doch schwieriger zu finden als inhaltliche Aussagen auf einem FDP-Wahlplakat. Gegenbeispiele jedoch sind ungleich leichter zu finden. V.a. Staaten Ostasiens haben  enorme wirtschaftliche Erfolge durch Strategien vorweise können (wie auch immer man diese Strategien und die Staaten allgemein auch politisch beurteilen mag), bei denen der Staat sich keineswegs aus der Wirtschaft zurückhielt. Japan, Südkorea, Taiwan, in gewisser Weise auch China sind dafür die besten Beispiele.

Südkorea hat fast beispiellose wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen. 1960 war es eines der ärmsten Länder der Welt, sein Bruttoinlandsprodukt war niedriger als das von Mosambik, Kongo oder dem Senegal, sein Anteil am Welthandel betrug 0,2%. 1996 hatte es das zwölftgrößte BIP der Welt, war Mitglied der OECD und sein Anteil am Welthandel betrug über 2%. Diese Erfolge sind nach Meinung der Wissenschaft v.a. auf einen entwicklungslenkenden Staat (developmental state) in Südkorea zurückzuführen. Allerdings hatte dieser auch beträchtliche Schattenseiten, die auch betrachtet werden sollen.

Der entwicklungslenkende Staat

Hinter der Idee des entwicklungslenkenden Staates steht die Ansicht, dass ökonomische Entwicklung einen Staat verlangt, der die ökonomischen und die politischen Rahmenbedingungen schaffen kann, die für eine nachhaltige Industrialisierung eines Landes nötig sind. Im Gegensatz dazu vertritt die neoliberale Wissenschaft die Annahme, angenommene egoistische Motive von Individuen müssten auch auf den Staat und die Wirtschaft übertragen werden; der Staat könne im Bereich der Wirtschaft keine positive Rolle spielen. Sie treten daher für eine Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft ein, in der die unsichtbare Hand des Marktes durch Preismechanismen für die besten Ergebnisse für die Entwicklung eines Staates sorge.

Die Befürworter  aber wenden ein, man brauche einen entwicklungslenkenden Staat, der langfristiges Wachstum und strukturellen Wandel der Wirtschaft ernst nehme und die Wirtschaft politisch steuere. Es bestünde kein Grund von einer Überlegenheit der Marktlösungen über eine Steuerung der Wirtschaft, in der der Staat eine größere Rolle spielt, auszugehen. In der Empirie sei die Annahme widerlegt, dass Staaten mit einer liberalen Wirtschaft und einer minimalistischen Rolle des Staates ein hohes Wirtschaftswachstum hätten, vielmehr seien Staaten mit einer Kombination aus klugen und effektiven Staatsinterventionismus und wirtschaftlicher Offenheit als selektiver Integration in die Weltwirtschaft erfolgreicher. Auch in den internationalen Organisationen wie der Weltbank ist in den letzten Jahren die strikt neoliberale Sichtweise des Washington Consensus unter Beschuss geraten und positive Wirkungen von alternativen Formen der Wirtschaftssteuerung wurden erwähnt und es wurde anerkannt, dass verschiedene Politikform (abhängig von den Institutionen eines Landes) zu Erfolg führen können. Erfolg oder Versagen bei der wirtschaftlichen Entwicklung hänge mehr von der Art als vom Ausmaß der Interventionen des Staates in die Wirtschaft ab.

Südkorea als entwicklungslenkender Staat

Von 1962 bis 1997 war in Südkorea ein entwicklungslenkender Staat der entscheidende Faktor für das enorme Wirtschaftswachstum. Charakteristika wie eine hohe Spar- und Investitionsquote, niedrige Lohnkosten (auch wenn sich die Schwächen später drastisch zeigen sollten) und vielfältige Interventionen des Staates in die Wirtschaft führten neben dem Wirtschaftswachstum auch zu einer Vollbeschäftigung sowie einer relativ egalitären Einkommensverteilung. Der südkoreanische Staat spielte die zentrale Rolle, Ressourcen zu mobilisieren, um eine Industrialisierung und eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum zu erreichen. Man kann beim südkoreanischen entwicklungslenkenden Staat mehrere Phasen unterscheiden:

1962 bis 1979: Entstehung und Erfolge des entwicklungslenkenden Staates

Vor 1962 war die Wirtschaftspolitik Südkoreas die einer klassischen  Importsubstitutionspolitik. Voraussetzungen für den entwicklungslenkenden Staat waren die Möglichkeit einer autonomen Entscheidungsfindung des  Staates, ein wirtschaftlicher Nationalismus  sowie ein aus der konfuzianischen Tradition herrührendes Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung.  Die Machthaber wollten durch die Etablierung eines entwicklungslenkenden Staates die Legitimierung ihrer autoritären Politik durch schnelles Wirtschaftwachstum und schnelle Wohlstandsmehrung  erreichen. Um sich finanzielle Mittel angesichts der abnehmenden Unterstützung der USA nach dem Koreakrieg zu verschaffen und an Auslandsdevisen zu gelangen, verfolgte Südkorea  eine Strategie der exportgeleiteten Industrialisierung.

In den 1960er Jahren und auch in den 1970ern gab es einen klar entwicklungslenkenden Staates mit einer staatsdominierten Allianz mit den privaten Firmen – gegen die Arbeit. Kennzeichen waren ein vom Staat gelenktes wirtschaftliches Management bei Privatbesitz der Industrie. Es gab extensive Interventionen, um ein schnelles Wirtschaftswachstum durchzusetzen. Das Finanzsystems war verstaatlicht und stark reguliert. Ein Machtmittel des Staates war es, unbegrenzte langfristige internationale Kredite zu niedrigen Zinsen durch regierungskontrollierte Banken an die Firmen zu vergeben, außerdem garantierte er die Rückzahlung von Krediten, die ausländische Finanzinstitutionen an südkoreanische Unternehmen vergeben hatten. Es kam dadurch  zu einer starken Beschleunigung des Zuflusses von Auslandskrediten.  Ausländische Direktinvestitionen jedoch wurden durch den Staat vorsichtig begrenzt und reguliert, der Besitz der industriellen Basis sollte in koreanischer Hand bleiben. Insgesamt kann man von einer staatsgelenkten Allokation nationaler  finanzieller Ressourcen hin zu den privaten Firmen sprechen. Der Staat besaß durch die Kontrolle über die Finanzen die Möglichkeit, die Firmen zu disziplinieren, seinen Strategie zu folgen. Die größte Rolle spielten in Südkorea die chaebol, große, multidimensionale, hierarchisch organisierte, rechtlich unabhängige Unternehmen, deren Besitz jedoch faktisch hoch konzentriert in den Händen einer Familie (durch cross-shareholdings) konzentriert ist. Es handelt sich um die größte Form familien-kontrolierter Business-Gruppen der Welt. Ein wichtiger Faktor für das schnelle Wirtschaftswachstum und die Industrialisierung Südkoreas war die Konzentration auf den Export. Es gab zahlreiche Mitteln der gezielten staatlichen Exportförderung.  Im Zeitraum 1962 bis 2001 wuhsen die Exporte durchschnittlich jährlich um 22%. Zunächst konzentrierte sich der Staat auf die arbeitsintensive Leichtindustrie, die durch billige, aber relativ gut qualifizierte Arbeitskräfte sowie durch eine Unterdrückung von Gewerkschaften sowie eine niedrige soziale Sicherung (die nur 1% des GNP ausmachte) möglich war.

Anfang der 1970er Jahre wurden die (kapitalintensivere) Schwerindustrie und die chemische Industrie vom Staat als industriepolitisch bedeutsam erkannt und besonders gefördert. Man versprach sich ein höheres Wirtschaftswachstum und die bessere Ausnutzung von komparativen Kostenvorteilen. Die staatliche Kontrolle über die Finanzen wuchs weiter: in den 1970er Jahren waren 96,4% der finanziellen Assets des Landes unter staatlicher Kontrolle. In Folge der Weltwirtschaftskrise 1973 war eine extensive staatliche Intervention entscheidend für eine weitere schnelle Kapitalakkumulation und für eine sich auch in dieser Zeit erfolgende Fortsetzung des Wirtschaftswachstums. Von 1965 bis 1980 hatte Südkorea ein jährliches durchschnittliches Wachstum von 10%, was außer den OPEC und den Planwirtschaften in den 1970er und einigen Jahre der 1980er das höchstes BIP-Wachstum weltweit darstellte. Die Sozialausgaben wurden in dieser Zeit aber kaum erhöht. Der Aufbau der Schwerindustrie erfolgte durch die chaebol unter staatlichen Anweisungen. Die Motivation war für sie der Aufbau einer Allianz mit japanischen Firmen, die in Südkorea v. a. für den Exportmarkt produzierten, wodurch beide Länder Zugang zum lukrativen US-Markt erhielten. Vor allem die exportgeleitete Industrialisierung stellte also eine Art Pakt zwischen der Seite des Kapitals und dem Staat dar. Die südkoreanische Niedriglohnökonomie auch bei fortschreitendem Wirtschaftswachstum konnte durchgesetzt werden durch eine Unterdrückung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung. Diese lief einher mit einer Unterdrückung fast aller Gesellschaftsbewegungen, z.B. Arbeiter-, Bauern-, Gläubigen-, Frauen-, Intellektuellen-, -Studentenbewegungen und einer umfassenden Disziplinierung der  Gesellschaft durch den autoritären Staat.

1979-1987: Einschränkung des entwicklungslenkenden Staates

Eine Umorientierung der Rolle des Staates und eine ökonomische Liberalisierung begann 1979/ 80. Es handelte sich dabei um eine graduelle Anpassung an neoliberale internationale Trends. Es kam zu einem relativ fundamentalen Wandel der Art wirtschaftlicher Steuerung des Staates. Seine direkten Interventionen, z.B. seine Rolle beim Identifizieren und Fördern profitabler Wirtschaftsbereiche sowie die Überwachung der privaten Firmen, bei der Festsetzung von Preisen und Mengen usw. wurde zurückgenommen, er legte eine größere Betonung auf die Stärkung marktwirtschaftlicher Mechanismen, auf ein marktorientierteres System der Ressourcenallokation und Ressourcenmobilisierung. Es gab Deregulierungen und Liberalisierungen, der Importschutz wurde liberalisiert und in der Folgezeit fast vollständig aufgehoben.

Der Staat nahm eine selektive Liberalisierung von Handels- und Finanzsektoren vor. Der Verkauf der Anteile an den Banken bedeutete einen Rückzug von der Steuerung des Finanzmarktes. Trotzdem blieben auch in diesem Bereich wichtige Entscheidungen beim Staat. Dieser übte zwar nicht mehr eine direkte, nun aber eine indirekte Einflussnahme auf die Vergabe günstigere Kredite für bevorzugte Betriebe aus und war weiterhin für die Festsetzung der Zinsen zuständig. In Folge der Liberalisierung erhielten aber die zehn größten chaebols 52 % aller Bankenanteile. Die Privatisierungspolitik des Staates führte also zu einer Expansion der chaobol in den Finanzsektor und dadurch zu einer stärkeren Kooperation zwischen Staates und chaebol bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Durch den Bankenbesitz und durch ihre steigende Größe, Expansion und Diversifizierung kam es und mehr zu einer Machtverschiebung zu Gunsten der chaebol, von einer Dominanz des Staates zu einer Interdependenz. Seit den 1980er Jahren konnte keine südkoreanische Regierung die chaobol mehr wirklich disziplinieren. Es gab in der Folge immer mehr Konflikte, bei denen immer öfter kurzfristige Profitinteressen und Spekulationsaktivitäten der chaebol den langfristigen Industrialisierungszielen und der strategische Entwicklung, die der Staat verfolgte, gegenüberstanden. Ende der 80er war der entwicklungslenkende Staat als Folge eingeschränkt, aber auch nur und eher eingeschränkt als abgebaut.

1987-1993: Demokratisierung

1987 kam es in Südkorea schließlich zu einem Ende des autoritären Staates und zu einer Demokratisierung. In diesem Zeitraum gab es einen allmählicher Übergang, dessen Ergebnis ein viel schwächerer Staat, ein stärkeres Kapital, und eine unabhängige, relativ mächtige Arbeiterbewegung waren. Einer Anerkennung der Gewerkschaften folgten hohe Lohnzuwächse.  Seit 1988 gibt es in Südkorea zudem einen gering ausgebauten Sozialstaat (größere Sozialversicherungsprogramme waren vorher zuerst in den großen Firmen durch betriebliche Wohlfahrtsprogramme existent gewesen). Die chaebol wollten durch die Steigerung der Löhne und eine implizit lebenslange Beschäftigungsgarantie Frieden mit den Gewerkschaften schließen. 1989 kam es aufgrund ungünstiger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen zú einer Wiederbelebung einer stärker interventionistische Rolle des südkoreanischen Staates.

Ab dem Jahr 1987 gewann der Staat nicht immer die Konflikte mit den in Folge der Demokratisierung erstarkten und mächtiger werdenden privaten Unternehmen und mit den Gewerkschaften. Es kam zu einer Erosion der staatlichen Autonomie. Die seit 1987 demokratische Regierung Südkoreas war v.a. nicht mehr in der Lage, die chaebol zu kontrollieren (ein Grund war auch, dass die politische Elite auf Spenden der chaebol angewiesen war). Außerdem gingen von USA und GATT ein starker Druck zur Öffnung des südkoreanischen Marktes und ein Druck zur Reduktion oder Aufhebung von dessen Handelsschranken gegen US-Produkte und -Dienstleistungen aus. Hinzu kam ein stärkerer Protektionismus der USA und einiger EG-Länder gegen südkoreanische Produkte. Diese Faktoren hemmten den klassischen entwicklungslenkenden Staat Südkoreas und erzwangen Schritt für Schritt dessen Rückzug.

1993-1997 Erosion und Ende des entwicklungslenkenden Staates

1993 erlebte Südkorea die Transformation von einem sich neu industrialisierenden Staat zu einem fortgeschritten Industriestaat. Im Zeitraum 1993 bis 1997 kommt es aber zu einer Erosion – und mit der Asienkrise 1997 zum Untergang – des entwicklungslenkenden Staates in Südkorea. Für die 1993 neu gewählte Regierung fungierte eine sich wandelnde Rolle des Staates in der Wirtschaft unter dem Leitbild der Globalisierung als dominante Idee. An die Stelle der Förderung von wirtschaftlichem Wachstum trat die Förderung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit.  Es kam zu einem Aufschwung von Pro-Markt-Ideologien.  Der Staat verfolgte dabei jedoch eine Balance von Effizienz (durch die wirtschaftliche Liberalisierung) mit den traditionellen Zielen Südkoreas, nämlich Wirtschaftswachstum und sozialer Stabilität. Die neue Regierung unter Kim Young-sam nahm fundamentale Reformen vor. Sie legte, noch stärker als es Anfang der 80er Jahre geschah, Priorität auf eine Stärkung der Konkurrenzfähigkeit, Liberalisierungen, Deregulierungen und ein marktbasiertes Wirtschaftsystem . Der Staat nahm einen Abbau selektiver Industriepolitiken und direkter Interventionen vor. Die Sozialpolitik war unternehmerfreundlich ausgestaltet, die Steuern waren sehr niedrig. Es gab außerdem eine, wie sich nach der Asienkrise zeigte, übereifrige Liberalisierung der Finanzmärkte mit weniger Interventionen des Staates und der Möglichkeit von deutlich mehr ausländischer Teilhabe im südkoreanischen Finanz- und Kapitalmarkt. So betrugen die Portfolie-Investments in Südkorea 1991 noch 2,5 Milliarden Dollar, 1994 bereits 29,7 Milliarden; die Bankverbindlichkeiten im Ausland wuchsen von 1991 bis 1994 um 49%. Das Fehlen einer Aufsichtsregulation und einer Überwachung des Finanzsystems stellte dabei eine große Verwundbarkeit dar.

Bei aller Liberalisierung war die südkoreanische Regierung jedoch nie eine minimalistische, der Staat blieb immer noch ein wichtiger und signifikanter Akteur  in der Wirtschaft. Er fungierte als Marktteilnehmer, bestimmte die Weite und die Geschwindigkeit der Öffnung der südkoreanischen Volkswirtschaft und beeinflusste die Internationalisierungsstrategien der Firmen. Globalisierung bedeutete für Südkorea in diesem Zeitraum weniger Öffnung südkoreanischen Märkte für ausländische Unternehmen, sondern eher eine Expansion der chaebol auf den Weltmarkt. Deren Lobbying-Stärke und ihr Einfluss auf den Staat nahmen als Folge ihres wirtschaftlichen Erfolges und der Finanzierung von Parteien noch mehr zu. Ebenso wuchsen deren nichtproduktive Aktivitäten sowie Investitionen in riskante und spekulative Unternehmungen. Es gab eine exzessive Verschuldung der Privatkonzerne, die oft kurzfristig war (zu 67%), aber investiert war in langfristige Projekte. Das Verhältnis von Schulden zu Eigenkapital der Top 30 chabol betrug 1996 386,5%, im darauffolgenden Jahr waren es schon 519%.

Diese und andere negative Seiten des entwicklungslenkenden Staates wirkten sich in diesem Zeitraum immer mehr aus. So waren dies etwa wirtschaftliche Nachteile durch Monopolstrukturen, Ineffizienzen durch die Staat-Wirtschafts-Kooperation, Korruption und moral hazard- Verhalten. Dazu kamen eine zu starke Exportlastigkeit (1996 von 26,9%) sowie Überinvestitionen in die Schwerindustrie und in die chemische Industrie. DIe Hauptschwäche aber lag im Fiannzbereich: 1997 betrug das Verhältnis von kurzfristigen Schulden zu den Devisenreserven 4:1. Von 1992 bis 1996 wuchsen die geliehenen ausländischne Mittel um 158%, die kurzfristige Verschuldung der chaebols  betrug 1996 63%. Es gab durch die hohe Auslandsverschuldung, die Abhängigkeit von Exporten und die Liberalisierung des südkoreanischen Finanzmarktes eine starke (und immer stärker werdende) Verwundbarkeit der südkoreanischen Wirtschaft gegenüber plötzlichen Marktveränderungen und externe Schocks. Der Staat trug mit seiner Garantie des Rückzahlens der Schulden an das Ausland und v. a. mit einer viel zu schnell erfolgten und zu weitreichenden Liberalisierung des südkoreanischen Finanzmarktes dazu bei. 1997 kam es durch diese Anfälligkeit dann zur Asienkrise, die Südkorea besonders hart traf.   In Folge der Konditionen des Internationalen Währungsfonds wurden in Südkorea schließlich die letzten Reste des entwicklungslenkenden Staates beseitigt und Südkorea zu einer wirtschaftsliberalen Marktwirtschaft umgewandelt.

Bewertung

Die Erfolge des südkoreanischen Modells des enwicklungslenkenden Staates wurden sehr deutlich: ein überaus hohes Wirtschaftswachstum, eine allgemeine Wohlstandssteigerung, Vollbeschäftigung und soziale Inklusion. Jedoch gab es auch zahlreiche Schwächen. Die Wirtschaft war zu sehr auf den Export konzentriert, später wurde der Finanzsektor viel zu schnell liberalisiert. Man kann in diesem Zeitraum von einer Partnerschaft zwischen dem (bis 1987 autoritären) Staat und dem Kapital gegen die Arbeit sprechen. Die Löhne waren niedrig, Sozialversicherungen kaum vorhanden. Militär, staatliche Bürokratie und Chaebol waren miteinander verwoben und voneinander abhängig.  Die großen, von Familien (auch in den seltensten Fällen von professionellen Managern geführten) chaebol erhielten eine extrem große Macht, in der Gesellschaft und über den Staat. Die Verbindung zwischen Staat und Privatwirtschaft führte zu Ineffizienzen und auch zu Korruption. Dieser Staat regierte autoritär, setzte seinen Willen notfalls auch mit Zwang durch. Andere gesellschaftlichen Kräfte wurden kaum zugelassen, Gewerkschaften wurden gewaltsamer unterdrückt. Der diktatorische Staat unterdrückte lange fast alle auf Demokratie gerichteten gesellschaftlichen Bewegungen, die südkoreanische Gesellschaft war eine zutiefst undemokratische und autoritäre. Bestimmt also kein Staat, in dem man gerne leben würde.

Jedoch liefert Südkorea auf wirtschaftspolitischer Seite auch ein Exempel, dass der Staat durchaus eine positive Rolle in der Wirtschaft spielen kann. Wenn er die nötigen Fähigkeiten besitzt und die gesellschaftlichen Institutionen bestehen, gesellschaftliche Ressourcen (Kapital und Arbeit) auf nationale Ziele zu mobilisieren, kann er große Erfolge erzielen. Diese werden jedoch um so mehr dem Wohle der Allgemeinheit dienen, je demokratischer das Land ist und je stärker die politische Elite dem Willen des Volkes verpflichtet ist.

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Keynesianismus versus Neoliberalismus – lassen wir doch einmal die Fakten sprechen

Albrecht Müller stellt auf den NachDenkSeiten (anhand Daten des Statistischen Taschenbuchs 2009 des BMAS und eigener Berechnungen) komprimiert und übersichtlich die wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen der Jahre 1966-1982, in der eine nachfrageorientierte Politik betrieben wurde, und der Epoche 1992-2008, in der die Wirtschaftspolitik neoliberal ausgerichtet war (sie ist es seit 1982 bis heute), gegenüber:

1966-1982 1992-2008
Reales BIP ( JD) +2,7% +1,4%
Arbeitslosenquote 7,5% in 1982 8,7% in 2008
Preise BIP (JD) +4,7% +1,1%
Staatsschuld in % des BIP +19,1%-Punkte +23%-Punkte
Nettorealverdienste (JD) +2,1% -0,0%
Lohnquote +6,8%-Punkte -7,2%-Punkte
Kapitaleinkommensquote -3,8%-Punkte +6,2%-Punkte

Die Auswirkungen der neoliberalen Politik seien u.a. eine hohe Arbeitslosigkeit, eine dadurch (einnahme- und ausgabenbedingt) sinkende soziale Sicherung, hohe Staatsverschuldung, marode Infrastruktur, prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrigere Löhne.

Müller analysiert dort auch, welche Erfolge die “unverwässerte” Globalsteuerung der Wirtschaft zur Ankurbelung der Nachfrage  im Jahre 1967 zeigen konnte: es gab ein starkes Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosigkeit wurde gesenkt, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wurde bewahrt, die Inflation blieb im vernünftigen Rahmen und der Schuldenstand wurde reduziert. Diese Wirtschaftspolitik verhinderte eine „Reservearmee“ von Arbeitslosen und so die Lohndrückerei – ein Grund, so Albrecht Müller, warum sie von manchen Seiten abgelehnt wird.

U.a. wohl auch von Leuten, die für die deutschsprachige Wikipedia schreiben, wo im Artikel über die Globalsteuerung nach einer knappen Beschreibung ein Scheitern dieser behauptet wird und ausführlich die übliche neoliberale Kritik – hohe Staatsverschuldung und Inflation – unkommentiert geschildert wird (ohne Berücksichtigung der ökonomischen Kennzahlen). Auch wenn der Artikel seit gestern etwas verändert wurde: dass die Globalsteuerung “gescheitert” sei, wird dort als ein Faktum dargstellt. Die neoliberale Propaganda vermischt eben gerne Meinung und Tatsachen, wie es Propaganda so tut. Doch hier sollte man einmal die Daten und Fakten sprechen lassen. Und die sprechen eine andere Sprache.

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Ist die Linke verfassungsfeindlich?

Das Bundesverfassungsgericht beschrieb 1952 die freiheitliche demokratische Grundordnung  folgendermaßen:

„Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ist der Schutz dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung, daneben der Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. (Und auch Vertreter der Extremismustheorie und ihr Nahestehende behaupten ja gerne, dass bei ihnen Extremismus lediglich eine Einstellung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bedeute.) Nun sehen das aber leider manche der dort Arbeitenden offensichtlich als nicht ausreichend an:

„Wer die Linken als naive Spinner sieht, unterschätzt sie. Denn das, was sie sagen und wollen, ist mit den Werten des Grundgesetzes nicht vereinbar“,

so der der stellvertretende Leiter des Landesverfassungsschutzamtes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Freier im Focus. Nein, nicht nur naive Spinner sind bei der Linken – “das ist ja schon mal klar!” oder wie – es gibt auch Hinweise für den Verdacht auf linksextremistische Bestrebungen, und gar solche, dass die Linken die freiheitliche demokratische Grundordnung durch eine andere Ordnung ersetzen wollten. Harter Tobak, in der Tat. Ist die Linke etwa für Gewalt, gegen die Menschenrechte? Für eine Willkürherrschaft, gegen den Rechtsstaat? Gegen Freiheit, Gleichheit oder Demokratie? Was meint Freier?

Dazu gehöre die Forderung nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die ablehnende Haltung zu Privateigentum. Verstaatlichen ohne Entschädigen sei grundgesetzwidrig.

Eine, sagen wir mal, mindestens eigenwillige Rechtsauffassung. Das BVerfG spricht zwar nirgendwo explizit von Privateigentumsrechten, doch schauen wir einfach mal ins Grundgesetz. Das Recht auf Eigentum als Grundrecht ist dort in Artikel 14 folgendermaßen spezifiziert:

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Und wie steht nun die Linke in Nordrhein-Westfalen zu dem Ganzen?

Zu (1): Die Linke spricht sich offensichtlich nicht gegen das Eigentum im Allgemeinen aus, sondern nur gegen das an bestimmten Produktionsmitteln, nämlich den wichtigsten Schlüsselindustrien. Eine Schranke, die allgemein durch Gesetze festgelegt werden kann.

Zu (2): Hier kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die Linke die Bestimmung des Grundgesetzes ernster nimmt, als es derzeit alle anderen Parteien tun.

Zu (3): Was sagt die Linke hier genau? In ihren “Positionen zur Landespolitik” schreibt sie (S. 8f.):

Wir streben die Kontrolle von Schlüsselbereichen der Wirtschaft durch die öffentliche Hand an. „Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten“ (Artikel 27 der NRW-Landesverfassung). Wir lehnen die Privatisierungspolitik von Bund, Land und Kommunen ab und fordern die Rückführung des bereits Privatisierten in öffentliches Eigentum. Das Eigentum der Kommunen und des Landes an Wohnungen sind zu erhalten, Wasser-und Stadtwerke sind zu rekommunalisieren und die wirtschaftslenkende Rolle der öffentlichen Hand ist wieder auszubauen.

Im Bereich der Schlüsselindustrien gibt es in der Tat viele Möglichkeiten der Argumentation, dass diese dem Wohle der Allgemeinheit dienen würde, sowohl in sozialer (öffentliche Daseinsfürsorge, gemeinwohlorientierte Nutzung, Versorgung der Bevölkerung, Sozialstaatsgebot) wie in wirtschaftlicher (Auflösung von privaten Monopolen, weniger Ressourcenverschwendung, Vorteile dadurch, dass Gewinne reinvestiert werden oder der Gesellschaft zu Gute kommen, statt in private Geldbeutel oder Spekulationen zu fließen) Hinsicht. Natürlich kann man solche Argumentationen ablehnen, etwa die Priorität bei der wirtschaftlicher Freiheit vor egalitären Prinzipien sehen, auf Kostensenkungen durch den Wettbewerb von privaten Anbietern, Effektivitätssteigerungen, stärkere Flexibilität und technische Erneuerungsfähigkeit hinweisen. Dies sind aber politische und ökonomische Erwägungen und Debatten, keine rechtlichen. Zudem waren politische Meinungen wie die, dass Wasser- und Stadtwerke in öffentlicher Hand sein sollten und der Staat eine lenkende Rolle in der Wirtschaft haben soll, mindestens bis zur neoliberalen Wende 1982 sozusagen Mainstream in der deutschen Politik. Also wären etwa auch Helmut Schmidt, Heiner Geißler oder gar Helmut Kohl (denn ich glaube, selbst er wäre dafür, dass der Staat die Wasserversorgung übernimmt) gefährliche Linksextremisten.

Wie sieht es mit der Entschädigung aus? In der Tat, diese wird hier nicht angesprochen. Aber: die Überführung in öffentliches/ Gemeineigentum, mit der zweifelsohne Enteignungen einhergehen, darf ja laut den Buchstaben des Grundgesetzes “nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt”. Selbst wenn man der Linken unterstellen wollte, sie wolle enteignen, ohne zu entschädigen, dürfte sie dies gar nicht. Und dass sie dies, also gegen die Verfassung verstoßen, wolle, soll Freier doch mal zeigen. Dies wäre für die Linke ja nicht nur politisch ein Harakiri-Unternehmen, sondern schlicht illegal. Und egal, als wie “naive Spinner” manche sie ansehen mögen – so “naiv”, so dumm, so, ja man muss es sagen, verrückt, sind sie sicher nicht.

Also, man muss die wirtschaftlichen Vorstellungen der Linken nicht teilen, man kann sie politisch oder wirtschaftlich ablehnen, man kann sie als unvernünftig, gar als gefährlich bezeichnen.  Was sie jedoch wohl kaum sind: gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen die Verfassung gerichtet. Die wirtschaftsliberale und neokonservative Seite sollte einer politischen Diskussion aber nicht ausweichen, weil sie vielleicht für sie unangenehm werden könnte und indem sie andere politische Meinungen als extremistisch zu deklarieren versucht, wenn sie es nicht sind. Der Verfassungsschutz NRW aber will die Partei Die Linke “intensiv beobachten”.

NACHTRAG: Natürlich sei hier auch noch Artikel 15 GG erwähnt:

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Dieser Artikel ist auch auf binsenbrenner.de erschienen.

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Hartz IV, der Niedriglohnsektor und die ökonomischen Ineffizienzen des Neoliberalismus

Ich habe momentan nicht sehr viel Zeit zum bloggen, aber ein paar lesenswerte Artikel möchte ich euch nicht vorenthalten:

Jochen Hoff hat einen sehr guten Beitrag über Hartz IV geschrieben, in dem er die neoliberalen Vorstellungen, die dahinter stecken (wie die Idee, etwa durch “Aufstocken” die Löhne zu senken das Kapital zu entlasten ), benennt und aufzeigt, wie dabei Politik, Wirtschaft und Medien (“Sozialschmarotzer” versus “Leistungsträger”- Propaganda) zusammenwirken. Er beschreibt dabei, wie durch Hartz IV Einkommen und Sozialtransfers auf ein Niveau gesenkt werden, das kein menschenwürdiges Leben mehr ermöglicht.

Auf den NachDenkSeiten wird gezeigt, dass das Ziel der Einführung von Hartz I-IV und der jetzigen Rahmenbedingungen der Leiharbeit der Aufbau des größten Niedriglohnsektors in der EU ist (besonders krass ist dabei der Ausspruch unseres Altkanzlers Schröder “Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt”). Mittel für dieses Ziel sind u.a. eine massive Kürzung der Sozialleistungen, Kombilohn-Modelle und die Senkung der  Zumutbarkeitskriterien (bis zu einem Zwang, jede Arbeit anzunehmen).

Und Albrech Müller verdeutlicht an mehreren Beispielen, warum die neoliberale Ideologie auch ökonomisch nicht effizient ist: der Finanzsektor hat sich von seiner eigentlichen Funktion (Kreditvergabe für Investitionen) entfernt und konzentriert sich auf Spekulationen; die Teilprivatisierung hat die Kosten von Alters- und Krankheitsvorsorge erhöht, in anderen Bereichen (Telekom, Energie, Bahn) haben die Privatisierungen zu privaten Oligopolen und Monopolen geführt. Insgesamt führt die Privatisierungspolitik zu einer drastischen Verschwendung öffentlicher Ressourcen.

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