Vier Irrtümer über das Mittelalter

Dieser Artikel von Stefan Sasse, der auch den Oeffinger Freidenker betreibt, ist im Original in seinem neuen Geschichtsblog erschienen. Er schreibt dort umfangreichere Beiträge über historische Themen aus Antike, Mittelalter, Neuzeit und  der Zeitgeschichte und klärt dabei auch öfter populäre Irrtümer auf. Es lohnt sich auf jeden Fall, dort mal vorbeizuschauen!


Schloss Auerbach

Das Mittelalter hat keinen besonders guten Ruf. Oftmals wird es sogar mit dem Prädikat “finster” versehen; assoziiert wird es gerne mit Schmutz, Armut und Rittern. Doch woher kommt das? Wer hat es überhaupt zum “Mittel”alter erklärt, also einer Periode, die zwei andere – vermeintlich bessere – verbindet? Geprägt wurde der Begriff von denen, die sich in Abgrenzung zu dieser Epoche in der so genannten “Neuzeit” wiederzufinden glaubten, also die antike-begeisterten Humanisten der Renaissance. In ihrer Verklärung ihrer eigenen Zeit, in deren aufstrebenden Handelsrepubliken sie vorher nicht gekannten Freiheitsduft zu atmen meinten, wollten sie sich von der als geistig eng empfundenen vorhergehenden Epoche des “Mittelalters” abheben. Dies ist ihnen gelungen; bis heute sehen wir eine lichte Neuzeit anbrechen, wenn wir an die Renaissance denken, die die Zeit enger Burgen und düsterer Klöster ablöst, in denen Bauern ausgebeutet im Schweiße ihres Angesichts auf den Äckern schufteten und Hexen auf Marktplätzen verbrannt wurden.

Im Folgenden sollen vier große Irrtümer über diese Epoche, die der Einfachheit halber weiter als “Mittelalter” bezeichnet werden soll, ausgeräumt werden. Der erste betrifft das schmutzige Mittelalter ungewaschener Menschen, die in ihrem eigenen Dreck dahinvegetieren und abergläubisch den resultierenden Krankheiten entgegensehen, während sie gleichzeitig in religiöser Furcht ein keusches Leben führen und Sexualität kaum ausüben. Der zweite betrifft die Annahme, dass das Leben als mittelalterlicher Bauer in praktisch ununterbrochener Arbeit für den Grundherrn bestanden und quasi keine Freuden gekannt habe. Der dritte Irrtum befasst sich mit der Idee, dass im Mittelalter Hexen verbrannt worden wären. Der vierte Irrtum schließlich besteht darin, zu glauben, die Kirche sei ein Hinderer des Fortschritts gewesen, die das Geistesleben des Mittelalters trübe gemacht habe.


Weite Teile des Mittelalters waren eine sehr saubere Zeit. Die Menschen badeten oft und gerne. Schon von Karl dem Großen (um 800) wird überliefert, dass er seine Ratssitzungen teilweise mit dem kompletten Rat in einem riesigen Badezuber abgehalten habe. Mit dem Aufblühen der Städte im Hochmittelalter beginnt auch ein Boom der professionellen Badehäuser, der sich vor den römischen Thermen kaum zu verstecken brauchte: jede Stadt, die etwas auf sich hielt, verfügte über mindestens ein Badehaus, in das wohlhabende Bürger manchmal sogar zweimal am Tag einkehrten. Man darf sich diese Badehäuser allerdings nicht vorstellen wie moderne Hallenbäder oder römische Thermen: Schwimmbecken wird man in diesen Einrichtungen vergebens suchen.

Im Badehaus

Stattdessen gab es große Bottiche für zwei bis vier (manchmal auch mehr) Badende, denn der mittelalterliche Badegast schätzte die Geselligkeit. Bedienstete nahmen Bestellungen auf: Badesalze, Kräuter für das Wasser, Parfüms oder Öle konnten dem eigenen Geldbeutel entsprechend bestellt werden. Auch gastronomisch waren die Badehäuser ausgerüstet: Auf die Bottiche konnte zwischen die Badenden eine kleine Tischplatte gelegt werden, auf der nicht nur der Weinkrug, sondern ganze Speisen abgestellt und konsumiert werden konnten. Auch Schwitzbäder und Dampfkuren waren verbreitet. Die meisten Badehäuser verfügten außerdem über abgetrennte Separées für private Stunden, falls man sich beim Baden näher gekommen war oder die klingende Münze für eine Stunde mit der Bademagd investieren wollte. Die zwangsläufige Nacktheit, die den Badehäusern inhärent war, führt die Vorstellung eines prüden Mittelalters ad absurdum. Die Badehäuser waren natürlich eine Erscheinung der Städte und benötigten wenn nicht viel, doch zumindest vorhandene Barschaft. Doch auch der Rest der Bevölkerung gab sich gerne den Badefreuden hin. Man badete in Flüssen und Seen, wenn sich die Gelegenheit bot.

Koitus in einem mittelalterlichen Handbuch über Gesundheit

Auch sexuell war das Mittelalter eine deutlich aktivere Zeit, als man angesichts seiner religiösen Prägung manchmal verwundern mag. Dieses scheinbare Paradox löst sich allerdings auf, wenn man sich vor Augen hält, dass die Prüderie der christlichen Religion erst mit der Einführung des Zölibats langsam in klerikalen Kreisen aufkam und generell ein Phänomen einer weit späteren Epoche ist. Um 1000 herum wurde in der Kirche offiziell das Zölibat eingeführt. Damit wurde auf einen Federstreich das Problem beseitigt, dass die mächtigen Bischöfe – quasi klerikale Beamte und direkt dem Kaiser verpflichtet – Nachkommen hatten, die am Ende noch erben wollten – wurden die Bistümer doch nach dem Tod des Bischofs neu vergeben, eine beliebte Macht- und Geldquelle von Kaiser und Papst gleichermaßen. Die Beschränkung der Sexualität der Frau (die des Mannes unterlag ohnehin nie besonderen Beschränkungen) war nur dort wichtig, wo Erbfragen im Vordergrund standen, also besonders beim Adel. War die Frau sexuell außerhalb der Ehe aktiv, gefährdete dies die Stellung des Hauses, da potentielle Erben entstanden, deren Verbindungen überhaupt nicht mehr kontrollierbar waren. Der Großteil der Bevölkerung aber konnte vergleichsweise freizügig den sexuellen Freuden fröhnen. Beispielhaft sei hier die Geschichte eines Wanderers genannt, den das Verlangen überkam und der eine Bäuerin entlang des Weges bat, ihm Abhilfe zu bereiten und die dies aus reiner Gefälligkeit übernahm.

Prüderie ist ein Kennzeichen nicht einmal des Humanismus’ und der Neuzeit, sondern der entstehenden bürgerlichen Revolution. Es waren die Bürgerlichen, die im 18. Jahrhundert neue Sexualkodizes einzuführen begannen, um sich vom “dekadenten” Adel abzuheben. Hier hat die Sprachlosigkeit des Sexuellen, die noch bis heute ihre Schatten wirft, ihren Ursprung. Die Loveparade hätte im Mittelalter niemanden geschockt, sieht man einmal von der verbotenen Homo- und Bisexualität ab, der dort auch gefröhnt wird. Im Lauf der Zeit aber wurde die eigene prüde Sexualmoral auf das Mittelalter projiziert; vermutlich stark aggregiert im Zusammenhang mit der sexuellen Revolution der 1960er Jahre, die von der Kirche ja noch heute erbittert bekämpft wird. Dies aber sind Frontstellungen moderner gesellschaftlicher Deutungskämpfe, die mit der Lebenswirklichkeit des Mittelalters nichts zu tun haben.


Bauern

Das Leben eines mittelalterlichen Bauern erscheint in der gewöhnlichen Rezeption als eines voller Mühsal und Entbehrungen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang steht der Bauer auf dem Feld im Schweiße seines Angesichts und muss doch den Hauptteil seines Erwerbs beim Grundherrn abgeben. An diesem Bild ist einiges Wahres, aber eben doch nicht alles. Das Schicksal eines Arbeiters in der Hochzeit der Industrialisierung war sicherlich um einiges härter als das des mittelalterlichen Bauern. Denn tatsächlich war die Arbeit des Bauern hart. In den Hochphasen der Arbeit, das heißt bei Aussaat und Ernte, arbeitete die Familie tatsächlich von Sonnenaufgang bis -untergang. Während die Aussaat reifte und keine andere zu pflanzen war, gab es auch sonst genug zu tun – Ausbesserungen, Heimarbeit, etc. Jedoch kannte der mittelalterliche Kalender eine geradezu unglaubliche Zahl kirchlicher Feiertage. In Hochzeiten war im Schnitt fast jeder dritte Tag ein Feiertag, an dem aus religiösen Gründen nicht oder nur wenig gearbeitet wurde. Da die kirchlichen Feierlichkeiten große Ereignisse waren, war entsprechend viel “Unterhaltungsprogramm” mit diesen Feiertagen verbunden. Zwar war das Leben als mittelalterlicher Leibeigener zweifellos hart, jedoch sehr wahrscheinlich dem eines Arbeiters im Manchester-Kapitalismus vorzuziehen, der deutlich mehr und zudem unter schlechteren Bedingungen abzuleistende Arbeit hatte.


Hexenprozess

Einer der größten und ärgerlichsten Irrtümer über das Mittelalter betrifft die Hexenverbrennungen. Hartknäckig hält sich die Ansicht, dass diese eine Erscheinung des ach so finsteren Mittelalters waren. Das aber ist falsch; im Mittelalter gab es weder Hexenverbrennungen noch Hexenprozesse. Die Kirche ging aktiv gegen die Idee vor, dass es so etwas wie Hexen überhaupt gebe. Erst 1484 veröffentlichte Papst Innozenz der VIII. die so genannte “Hexenbulle”, die die Existenz von Hexerei offiziell bestätigte und die Zurechtweisung, Inhaftierung und Bestrafung von Hexen erlaubte, jedoch nicht deren Verbrennung. Innerkirchlich hatte diese Bulle jedoch nur wenig Bedeutung; die Kirche der damaligen Zeit sah in der auf emsige Lobbyarbeit Heinrich Institoris’ zurück, dem Autor des 1486 erschienen Hexenhammer.

Hexenhammer

Dieser Hexenhammer, der bis ins 17. Jahrhundert hinein in diversen Auflagen erschien, war gewissermaßen der Startschuss für die beginnenden Hexenverfolgungen, die vorerst jeodch kein besonderes Ausmaß annahmen, sondern in die Verfolgung von Häretikern wie den Albigensern und später den Protestanten einfloss. Die wirkliche epidemische Hexenverfolgung begann erst deutlich später; in Deutschland erreicht sie ihren Höhepunkt im 17. und 18. Jahrhundert, also in der vielgerühmten Zeit der Aufklärung. Auch das Gerücht, dass die Kirche hinter den Hexenverfolgungen stand, lässt sich nicht halten. Hexenverbrennungen waren eine Sache der weltlichen Justiz; zwar gingen sie häufig auf kirchliche Ermittlungen zurück, jedoch waren die eigentlichen Prozesse und Hinrichtungen Sache der säkularen Gewalt. Die Hexenverfolgungen bekamen auch nur allzuschnell eine denunziatorisch-opportunistische Komponente, da man sich auf diese Art Konkurrenten vom Leib halten bzw. an ihren Besitz gelangen konnte. Auch der sexuell-voyeuristische Aspekt darf nicht unterschätzt werden, denn in den Befragungen und Prozessen wurde in einer Detailtreue auf den Koitus mit dem Teufel eingegangen, die das lüsterne Element seitens des Publikums kaum verdeckt und die in den detaillierten Geständnissen der Angeklagten befriedigt wurde, die so eine Abkürzung der peinlichen Befragung erhofften. Mit dem Mittelalter hat dieser Wahn allerdings nichts zu tun; er wäre dort wohl auch auf Unverständnis gestoßen.


Zuletzt soll die Annahme entkräftet werden, dass das Mittelalter ein gewaltiger Rückschritt gegenüber der Antike sei, ohne reges Geistesleben, in dem die Kirche alles Nachdenken rigide zur Sicherung des Herrschaftsanspruchs unterdrückt hatte. Das Gegenteil ist der Fall. Der Verlust von Wissen gegenüber der Antike war den Verwerfungen der Völkerwanderungszeit und den Eruptionen geschuldet, die der Untergang eines Weltreiches wie des römischen zwangsläufig mit sich bringt. Man kann mit Fug und Recht annehmen, dass dieser Verlust ohne die Kirche noch deutlich größer ausgefallen wäre. Dazu kommt, dass der dabei oftmals gezogene Vergleich zwischen dem antiken Rom oder Athen und dem mittelalterlichen Regensburg ein äußerst kruder ist: zur Zeit der Blüte der römischen Hochkultur war Deutschland ein von germanischen Stammeskriegern dünn besiedeltes Land, dessen Bewohner in dunklen Hütten lebten und düsteren Gottheiten opferten. Das Geistesleben des Mittelalters war verglichen mit der germanischen Ära ein Leuchtturm.

Klostergang

Es waren die Klöster, die die Kunst des Lesens und Schreibens über die Jahrhunderte zwischen dem Fall des römischen Reichs und dem Aufstieg des fränkischen Reichs retteten und zahlreiche Bücher und Schriftstücke archivierten. Ohne die Kirche hätten die Humanisten der Renaissance die Werke Aristoteles’ und Platons nie lesen und deren Zeit als leuchtenden Gegenentwurf zu der des Mittelalters malen können. Es war die Kirche, die im Mittelalter aktiver Förderer von Kunst und Wissenschaft gleichermaßen war. Sie förderte Kopernikus ebenso wie Galilei und war in der Lage, deren sachliche Fehler zu erkennen und zu diskutieren. Erst als sich Galilei aktiv zu profilieren versuchte, indem er – in einer falschen Sachfrage! – aggressiv gegen den Klerus Stellung bezog, wurde die Sache politisch, und je mehr sich die Humanisten von der Kirche abzugrenzen versuchten und ihr ihr bisheriges Bildungsmonopol entrissen, desto mehr entwickelte sich die Kirche zu einem Hort der Reaktion, in dem die Wissenschaften keinen Platz mehr fanden. Aber auch das war eine Entwicklung der Neuzeit, nicht des Mittelalters.

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5 thoughts on “Vier Irrtümer über das Mittelalter

  1. Pingback: Markus Weber
  2. Pingback: Dominik Bertrams
  3. Tolle Zusammenfassung. Danke dafür. Ganz besonders bezüglich des Irrglaubens in Sicht auf Hexenverfolgungen. Hier wird leider immer noch mit Millionen von kirchlichen Opfern spekuliert, wobei es europaweit 50000 diesbezügliche Todesurteile gab. Wovon die Hälfte allerdings auf deutschsprachigem Raum vollzogen wurden. Auch hatte es keine religiösen oder kulturellen Gründe, sondern wäre im Zuge von Hungersnöten und der Suche nach entsprechenden Schuldigen zu orten. Und es waren hauptsächlich weltliche Gerichte, und nicht wie fälschlicherweise immer behauptet wird die katholische Kirche. (Wohlgemerkt, ich bin ein großer Gegner der Kirchen, aber sie müssen nicht an allem Schuld sein.). Eine Unterscheidung im Ausmaß zwischen protestantischen und katholischen Regionen ist übrigens auch nicht nachzuvollziehen. Das Thema ist deshalb so interessant, weil eindeutig eine Zunahme von Todesurteilen im Zusammenhang mit staatlich unbeeinflusster Selbstjustiz nachvollziehbar ist. Das Thema Gallilei ist aber nicht so ganz einfach abzuklären. Wer Gallilei erwähnt, muss auch Giordano Bruno mitbehandeln. Aber trotzdem, sehr lesenswert und interessant. Danke nochmals.

  4. Vielen Dank für diese schöne Darstellung. Aber wenn da noch ein paar Verweise auf Quellen wären, dann wäre Sie wirklich sehr sehr gut.
    Viele Grüße

  5. Stelle mir grad vor, wie die Leute im Mittelalter auf Kutschen stehen und zu Trommeln halbnackt tanzen…Loveparade im Mittelalter eben 🙂

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