Das Büchlein “Empört Euch!” von Stéphane Hessel (auszugsweise bei der FAZ zu lesen) hat in Frankreich wie international große Aufmerksamkeit erregt und wird als wegweisende politische Streitschrift gefeiert. Der Autor prangert darin aktuelle globale Missstände, vom Abbau der Sozialsysteme und der Dominanz der Finanzmärkte über Fälle von Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Umweltzerstörung, an und appelliert an die heutigen, vor allem die jüngeren Generationen, diesen gegenüber nicht gleichgültig zu sein, sondern sich zu empören.
So ehrenhaft und richtig die Intentionen des Verfassers sind, liefert der Text jedoch wenig Neues – und wenig Konkretes. Es handelt sich eher um eine wenig strukturierte Gedankensammlung. In dieser sind die Beschreibungen der heutigen Probleme wenig detailliert ausfallen und die Appelle zum Widerstand gegen diese ziemlich allgemein gehalten. Auch ist Hessels zentrale These, dass nur die Empörung zu politischer Aktivität führen kann und man sich heute Gründe zur Empörung suchen solle, schon recht fraglich. Kann ein solches Engagement nicht auch aus nüchterner Erkenntnis von schweren Fehlern der aktuellen Gesellschaft und der Einsicht in die (sachliche und moralische) Notwendigkeit aktiven Entgegenhaltens entspringen?
Zentraler Inhalt und die Ursache seiner Kritikpunkte ist letztendlich die neoliberale Ausgestaltung der Politik in den letzten Jahrzehnten. Hessel erläutert dabei aber nur kurz, welche Folgen die neoliberale Politik – vor allem in Frankreich – hatte und dass die, wie er sich ausdrückt, „internationale Diktatur der Finanzmärkte“ schädlich ist. Hier hätte man deutlich mehr leisten können. Er benennt zwar recht viele weitere Probleme, beispielsweise den Abbau des Sozialstaats, die Zunahme der internationalen Ungleichheit, die Kriege der USA, wachsende Ausländerfeindlichkeit, die gefährdete Unabhängigkeit der Presse, Rückschritte beim Klimaschutz – und versäumt es auch nicht, auch Erfolge der letzten Jahre zu benennen – er liefert jedoch keine genaueren Erklärungen oder gar Analysen, zeigt wenig Zusammenhänge auf.
Zwar führt er aus, dass die heutige Welt komplex sei, es nicht immer leicht sei, “Schuldige auszumachen”, neigt aber in seinen wenigen Ausführungen zu gesellschaftlichen Ursachen der kritisierten Probleme dann doch zu Personalisierung (egoistische Banker) statt zu strukturellen Analysen. Auch wenn seine Kritik an Egoismus und an der übergroßen Macht bestimmter Schichten und Akteure über Wirtschaft, Politik und Medien zweifelsohne Richtiges trifft – die Gefahr, sich in seiner Empörung einen einfachen Sündenbock zu suchen, ist vorprogrammiert. Nur kurz reißt er etwa Themen wie den Wachstumszwang des Kapitalismus an oder mahnt, dass der Abbau des Sozialstaates keineswegs alternativlos ist.
Als wichtigste heutige Aufgaben der Menschheit sieht er das Eintreten gegen Armut und für internationale Gerechtigkeit, die Menschenrechte und den Zustand der Erde an. Er bietet aber darüber hinaus kein weiteres Gegenprogramm – und nennt auch nicht solche, die die Probleme der Gegenwart angemessen erfassen und zu deren Lösung beitragen könnten. Seine häufige Berufung auf das Regierungsprogramm der französischen Résistance von 1944 – in dem auch zahlreiche soziale Rechte begründet wurden, die er heute gebrochen sieht – und auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wirken leider recht allgemein und zudem, auch wenn sicher nicht so vorgesehen, etwas legalistisch. Freilich ist es auch schon ein großes Verdienst, Probleme aufzuzeigen, Aufmerksamkeit zu schaffen, und man kann sicher nicht erwarten, auf 19 Seiten das Rad neu zu erfinden – auch wenn manches was er schreibt – wie, dass es schlecht ist, wenn heute Menschen verhungern und unterdrückt werden – wohl auch ein Neoliberaler unterschreiben würde. (Die Richtung der Schrift ist aber klar links, und als progressiv einzuordnen.)
Immer wieder unterbrochen werden diese Punkte durch Erzählungen Hessels aus seinem Lebenslauf, die aufgrund seiner beeindruckenden Vita zwar interessant sein mögen, aber direkt dann doch eher wenig mit der Sache zu tun haben. In der Tat lebt die Schrift vor allem von der Persönlichkeit Hessels und ihr Erfolg ist wohl zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass sie gerade von ihm geschrieben wurde, von jemandem, der durch seine Taten eine hohe moralische Autorität besitzt. Positiv anzumerken ist, dass Hessel nicht darauf verfällt, den Kampf gegen den Faschismus mit dem (reichlich unkonkreten) Widerstand, den er für heute verlangt, gleichzusetzen – auch wenn er Parallelen zieht. Er appelliert an die Notwendigkeit gesellschaftlichen Widerstandes, liefert ein paar grobe Punkte, wogegen sich dieser Widerstand richten soll, und zeigt, welche Akteure er als vorbildlich ansieht (attac, Amnesty International, Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme). Strategien, die Erfolg versprechen könnten, kann man nicht erwarten – dies bleibt so Aufgabe der gesellschaftlichen Praxis.
Konkreter wird Hessel lediglich beim Thema Palästina, wo aber leider der Verdacht eines Verständnisses für Terrorismus aufkommen kann: Mit einer Aussage wie “Terrorismus eine Erscheinungsform von Verzweiflung” kann man zwar in bestimmten Fällen Recht haben, macht es sich generell dann aber doch zu einfach. Begrüßenswert ist aber, dass er Gewalt und Terrorismus nicht entschuldigt, sondern ganz explizit zur Gewaltlosigkeit und zu friedlichem Widerstand aufruft. Jedoch drängt sich die Frage auf, inwiefern die Gefahr gewaltsamer Akte im Namen von Freiheit, Gerechtigkeit, internationaler Solidarität oder Umweltschutz tatsächlich gegeben ist – oder ob es nicht fraglicher erscheint, ob sich eine große und wirksame zivilgesellschaftliche Bewegung für diese Anliegen überhaupt bilden wird und nicht doch das bestehende System diese Tendenzen einzudämmen oder zu absorbieren in der Lage sein wird. Hier jedoch könnte Hessels Aufruf zu einer neuen Aufmerksamkeit und Aktivierung führen – und damit wäre schon viel gewonnen.
Der Schluss, in dem Hessel zu „einem wirklichen, friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle“ aufruft, wirkt dann doch sehr engsichtig – er verwechselt ein bloßes Mittel mit der eigentlichen Ursache – und zudem überaus anachronistisch. Wenn die Massenkommunikationsmittel das größte Problem der heutigen Zeit wären, bräuchte sich wohl kaum jemand zu empören. So sehr man sonst mit manchen Personen politisch einer Meinung sein kann – bei diesen Themen überwiegen dann doch meist die Generationsunterschiede.
Bei aller Kritik: Was von Hessels Buch bleibt, ist die Aufforderung: Öffnet eure Augen für Unrecht in aller Welt, schaut nicht weg, seid nicht apathisch! Und der Gedanke dieses Aufrufs ist – bei allen Schwächen des Buches – zweifelsohne unterstützenswert.
“Empört Euch!” von Stéphane Hessel ist im Ullstein Verlag erschienen und kostet 3,99 Euro. Der reine Text beträgt 15 Seiten, mit Fußnoten, Nachwort und Erläuterungen 24 Seiten. Am 8. Juni 2011 wird “Engagiert Euch! – Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten” auf Deutsch erscheinen (ebenfalls im Ullstein Verlag, Kosten 4,99 Euro).
Bildnachweis Hessel: Wikimedia (Marie-Lan Nguyen) / CC-BY 3.0
Auch hier der Hinweis (beim Spiegelfechter gerad geschehen): ich habe heute Vormittag auch eine Rezension dazu veröffentlicht 😉
http://nicsbloghaus.org/2011/04/08/stphane-hessel-empoert-euch/
Hach, ist der Text schön geschrieben. Das spielt der Inhalt ja kaum noch eine Rolle. Nicht, dass ich etwas daran auszusetzen hätte. ;p
Danke danke 🙂
In Frankreich war Hessel auf der Bücherbestenliste – in Deutschland Sarazin. Wir sollten dankbar sein für das kleine Buch von Hessel!
Der Wachstumszwang sowie alle anderen Zivilisationsprobleme entstehen monokausal und zwangsläufig aus einer seit jeher fehlerhaften Geld- und Bodenordnung und der daraus resultierenden Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz. Die Zusammenhänge sind im Grunde einfach zu verstehen, und im 21. Jahrhundert sollten die elementaren Konstruktionsfehler unserer makroökonomischen Grundordnung längst durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform korrigiert sein.
Das dies dennoch nicht der Fall ist und die Makroökonomie insbesondere von “Spitzenpolitikern” und “Wirtschaftsexperten” bis heute nicht verstanden wird, beruht auf einer uralten Programmierung des kollektiv Unbewussten, welche die halbwegs zivilisierte Menschheit überhaupt erst “wahnsinnig genug” für die Benutzung von Geld machte (Edelmetallgeld ist immer Zinsgeld), lange bevor diese seitdem grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung wissenschaftlich erforscht war. Wer sich von allen Vorurteilen befreien und die Basis allen menschlichen Zusammenlebens verstehen will, findet alle wesentlichen Informationen unter “Der Weisheit letzter Schluss”.
Alles andere enthält weitere Vorurteile.