Die Nominierung von Joachim Gauck als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten durch SPD und Grüne wurde von der Öffentlichkeit und den Medien insgesamt sehr positiv aufgenommen. Gauck hat sich sicher große Verdienste erworben, er hat wichtige Tätigkeiten durch- und diese auch gut ausgeführt. Er hat gewisse rhetorische Fähigkeiten und man könnte ihn sich schon in einer repräsentativen Funktion vorstellen. Als einen parteiübergreifenden Präsidentschaftskandidaten hätte man sich Gauck gut vorstellen können, aber Union und FDP gaben der Parteipolitik den Vorzug. Er wird sicher einige Stimmen aus dem schwarz-gelben Lager auf sich ziehen und kann diesem damit auch einen politischen Schaden zufügen. Sollte er gar, wovon freilich bei der Dominanz von Parteigehorsam hierzulande nicht auszugehen ist, tatsächlich gewinnen, wäre dies ein äußerst schwerer Schlag für die Bundesregierung.
Vor allem aber ist der Kandidat der Opposition natürlich ein symbolischer Kandidat, bei dessen Nominierung politische und taktische Signale ausgesendet werden. Politisch ist Gauck aber kein linker Kandidat. Er steht nicht für originär linke Überzeugungen und scheint sie auch bei vielen Themen nicht zu teilen.
WELT ONLINE: In der SPD und bei den Grünen wird manches vertreten, was nicht gut zur politischen Philosophie des Joachim Gauck passt. Wie leben Sie damit? Gauck: (…) Ich weiß wohl, dass in beiden Parteien auch linke Positionen vertreten werden, die nicht völlig zu meinen politischen Grundüberzeugungen passen. Für mich ist der Wert der Freiheit von allergrößter Bedeutung – und das sieht man im linken Spektrum zuweilen doch ganz anders. Dort ist ein Wert wie Solidarität viel wichtiger, und man vertritt eine staatliche Fürsorglichkeit, die mir manchmal viel zu weit geht, nämlich dann, wenn sie entmündigende, entmächtigende Tendenzen fördert. (Welt.de)
Es ist nicht verwunderlich, dass etwa Welt und FAZ seine Nominierung sehr stark begrüßen, ihn als “bürgerlichen Held” bezeichnen und ihn gar Wulff vorziehen. Gauck äußert sich aber selten politisch, soweit er nicht irgendwie einen Bezug zur DDR herstellen kann. Und gerade hier sind seine ständigen Versuche, alles links der SPD (oder auch, wir erinnern uns, innerhalb dieser) politisch in Stasi-Nähe zu rücken, nicht gerade ein integeres Vorgehen.
Gaucks gewiss nicht unproblematisches Verhältnis zur Partei Die Linke (und umgekehrt) war in den vergangenen Tagen öfter Thema in den Medien. Die taz kommentiert, anstatt wenigstens hier an einem Strang zu ziehen, hätten SPD und Grüne die Linke düpiert. Rot-rot-grüne Annäherungen würden vor allem durch die Art der Nominierung nachhaltig blockiert. Die Tagesschau sieht das ähnlich, begrüßt dies aber naturgemäß. Selbst eine Taktik, bei der die SPD “der Linkspartei die Pistole auf die Brust setze” und die Zustimmung oder Ablehnung Gaucks uminterpretiert auf “Wenn ihr wirklich abgeschlossen habt mit den dunklen Kapiteln der DDR-Vergangenheit, dann müsst auch ihr für Gauck sein” (Zitat Tagesschau.de) begrüßt sie. Hier zeigen die Mainstream-Medien ihre Methoden einmal ungewohnt offen, denn gewiss können wir genau eine solche Interpretation nach der Wahl erwarten. Auch jetzt schon benutzen viele Medien die Gleichung Ablehnung von Gauck = mindestens unklares Verhältnis zur DDR, von der Springer-Presse, bis hin zur Frankfurter Rundschau. Und auch Sigmar Gabriel bereitet bereits den Boden dafür:
Nach der CDU hatte Gabriel auch der Linkspartei Gauck als Kandidaten vorgeschlagen. Er stieß allerdings auf Zurückhaltung. Dies habe ihn sehr überrascht. „Mir fehlt die Phantasie für ein rationales Argument.“ Sollten Teile der Linken Gauck ablehnen, da dieser die Aufklärung der DDR-Vergangenheit vorantreibe, sei dies Grund für eine Neubewertung der Partei.
(Focus.de)
Es lässt sich jedenfalls nicht der Eindruck von der Hand weisen, dass für die Nominierung Gaucks zumindest auch die weitere Abgrenzung von der Partei Die Linke, ohne sich mit politischen Inhalten beschäftigen zu müssen, und die “Schuld” als “DDR-Nostalgiker” und “Stasi-Verharmloser” dann auf diese schieben zu können, ein Faktor war. Spiegel Online schreibt, so sehr Gauck als Stachel ins bürgerliche Lager reichen soll, so sehr sei er ein gewünschtes Signal gegen ein Linksbündnis (was Gauck auch wisse).
Stephan Hebel schreibt auf FR-online.de, dass Gauck zwar “im Umgang mit der Linkspartei die Wirkung der SED-Wurzeln über- und die Lernprozesse der letzten 20 Jahre unterschätzt” habe, er aber kein Geschichts-Relativist sei und um die Relationen wisse. Auch aus strategischen Gründen, für eine rot-rot-grüne Perspektive, solle die Linke Gauck wählen.
Magda Geisler schreibt in ihrem Freitag-Blog, die Nominierung Gaucks sei clever, aber “genau so von machtpolitischen Überlegungen bestimmt, wie das Handeln von Merkel”; jayne schreibt beim Freitag, Gauck sei ein Mann der Vergangenheit, der das in der DDR begangene Unrecht gegen jedwede gesellschaftliche Alternative jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsweise instrumentalisiere. Flatter von Feynsinn meint, Gauck spalte den Rest jenseits von Schwarzgelb noch einmal. Der Oeffinger Freidenker schreibt, Gaucks Wahl sei eine deutliche Abfuhr der SPD und der Grünen an die Partei Die Linke und verdüstere die Zukunftsaussichten auf ein Rot-Rot-Grünes Bündnis 2013.
Gauck, so viel ist sicher, ist kein Kandidat, der die politische Linke einigen kann, ganz im Gegenteil. Dabei sollte dies in der derzeitigen politischen Situation aber für SPD und Grüne im Vordergrund stehen, und nicht, ein paar Lorbeeren durch die bürgerliche Presse einzuheimsen.
Die Äußerungen Horst Köhlers, die, indem sie ablehnende Reaktionen von vielen Seiten hervorriefen, zu seinem Rücktritt geführt haben, sollten, auch in der aktuellen Diskussion um den neuen Bundespräsidenten, nicht in Vergessenheit geraten. Der Focus einer linken Kritik sollte sich von diesem Punkt nicht abwenden (und sich nicht nur etwa auf Personalfragen richten). Derzeit stehen Räume für politische Deutungsmuster und Aktionen offen, die die politische Linke (ob in Parteien, der Zivilgesellschaft oder in den Medien) nicht ungenutzt lassen sollte.
Die Hauptkritik der veröffentlichten Meinung zielte eher auf die Art des plötzlichen Abtritts Köhlers. Wichtiger wäre jedoch, weiterhin klar zu machen, dass Köhler sich durch den Inhalt seiner Äußerungen selbst als Staatsoberhaupt disqualifiziert hat. Jemand, der für Kriege für freie Handelswege eintritt und damit so offen die Verfassung und das Völkerrecht in Frage stellt, kann für ein Staatsamt nicht in Frage kommen. Es gilt, klar zu machen, was damit (im Extremfall) gemeint ist: Menschen in ärmeren Ländern umzubringen für die Interessen deutscher Großkonzerne. Das ist in der Tat populistisch, aber es ist nun mal die Wahrheit, deutlich ausgesprochen.
Und so etwas wie “Ja, das ist nun mal so, er sagt nun mal die Wahrheit” ist nicht genug: “Es darf nicht so sein!” muss die Parole lauten. Und v.a. müssen all die Stimmen argumentativ bekämpft werden, die Kriege für die deutsche Wirtschaft auch noch gutheißen. Ich meine, so etwas ist noch gefährlicher, als nicht-ökonomische Gründe von Auslandseinsätzen überzubetonen. Solche Ansichten dürfen auch nicht noch legitimiert werden. Sie sind gegen das Recht, mehr noch, sie sind gegen Werte wie Frieden und Freiheit und Gleichheit aller Menschen.
Wie kann man dieses Thema konkret angehen? Afghanistan scheint in der Tat nicht unbedingt passend, da dort wirtschaftliche Interessen wohl höchstens als nebensächliche Faktoren gelten können. Stattdessen sollte man sich ruhig auf Somalia konzentrieren, da dort ganz offen für die Wirtschaft der Industriestaaten gekämpft wird, und es sollte klar gemacht werden, dass man auch mit anderen Mitteln die Instabilitäten vor Ort bekämpfen kann statt mit reiner Militärpolitik. Es darf nicht vergessen, das gerade “der Westen” eine große Schuld daran trägt, dass in Somalia quasi kein funktionierender Staatsapparat mehr vorhanden ist, und dass die massive Not dort der Antriebsfaktor der Piraterie ist, und nicht, die Wirtschaft des Nordens gezielt zu schwächen o.ä.
Bei der Frage der Nachfolge Köhlers sollte man betonen, dass Köhler eindeutig ein parteipolitischer Präsident der schwarz-gelben Koalition war. Er war tätig gewesen als Vorkämpfer des Neoliberalismus und Finanzmarktkapitalismus in der Bundesregierung und im IWF, und er ist nur durch dem Amte unwürdiges Postengeschacher von Union und FDP in dieses gekommen. Und dies gilt auch für seinen potentiellen Nachfolger Wulff: Er steht genauso für eine gescheiterte marktradikale Politik, seiner Nominierung ging ebenso ein Hinterzimmerklüngel voraus.
Mit dem Abgang Köhlers wäre nicht viel gewonnen, wenn sein Nachfolger seine Politik weiter fortführt und wenn seine Ansichten nicht fundamentale Ablehnung erfahren oder wenn sie gar populär werden würden. Zumindest gegen Letzteres kann man auch außerhalb der Machtzentralen des Parteienstaates vielleicht etwas beitragen.
Christian Wulff wird der Kandidat von Union und FDP für das Amt des Ministerpräsidenten. Damit setzt er sich gegen die eindeutige Yellow-Press-Wunschkandidatin der Mehrheit der Medien, Ursula von der Leyen, durch. Wulff ist sicher der Kandidat, der eher für politische Kompetenz statt nur für die reine Show (Zensursula) steht.
Auch die üblichen “Hauptsache eine Frau, Qualifikation egal”-Stimmen lamentieren bereits. Doch offenbar hat Zensursula dieser Faktor, der für viele einzig im Vordergrund steht, dass sie eine Frau ist, in der immer noch von vielen reaktionären besetzten Union zu heftigen Protesten geführt. So oder so sind beide Varianten natürlich höchst irrational – für so einen wichtigen Posten sollte ausschließlich die Kompetenz eine Rolle spielen. Gerade die fehlende Kompetenz von Zensursula wurde aber in den Medien freilich kaum erwähnt und stattdessen weiter an der Legende gestrickt, dass sie beim Volk beliebt sei.
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Das Überraschendste ist wohl, dass Wulff diesen Posten selbst wollte (und sich – wie ehrenhaft! – auch noch selbst ins Gespräch gebracht hat). Denn von der Position des Bundespräsidenten wird er wohl nicht so viel Einfluss wie in der Rolle als Ministerpräsident und CDU-Parteivize ausüben können. Zudem fällt damit auch noch Merkels letzter verbliebener ernstzunehmender Konkurrent als Bundeskanzler und CDU-Vorsitzender weg – und dadurch wird Merkel auch verkraften können, dass Wulff kein so angenehmer Marionetten-Präsident für sie sein wird, wie Zensursula es gewesen wäre.
Wulff kann man sich aber eher schwer als Bundespräsidenten vorstellen. Als irgendein Minister ja, keine Frage – Wulff schien eher in der aktiven Partei- und Regierungspolitik zu Hause als in der reinen Repräsentation. Und er hat auch sicher nicht das Charisma oder den Status eines altehrwürdigen Intellektuellen wie die meisten seiner Vorgänger. Nein, Wulff ist ein reiner parteipolitischer Kandidat, mit vollständig neoliberalen Überzeugungen. Gerade in den Zeiten der Wirtschaftskrise ist er genauso ungeeignet wie Horst Köhler es war, auch wenn er sicher politisch geschickter vorgehen wird.
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Durch die Nominierung von Joachim Gauck haben SPD und Grüne einen würdigen Gegenkandidaten aufgestellt, für den – auch abseits von politischen Positionen – sicher mehr als Präsidenten sprechen würde als für Wulff. Jedoch dürfte er kaum eine Chance haben. Jemand, der “versöhnen statt spalten” kann, ist er allerdings sicher nicht. Diese Personalie könnte auch ein Signal für eine weitere Abkehr von Rot-Rot-Grün sein. Wird die Linke, wovon auszugehen ist, Gauck nicht mitwählen, kann man zusammen mit den Medien wieder die Stasi-Keule auspacken. SPD- und Grünen-Spitze würden dann wieder einmal echte Möglichkeiten auf eine andere Politik erschweren.
Horst Köhler tritt also zurück, weil man seine Worte genauso verstanden hat, wie er sie gesagt hat: dass er Kriege Deutschlands für seine wirtschaftlichen Interessen befürwortet. Und das verstößt nun mal gegen das Grundgesetz. Und das Völkerrecht. Dies aufzuzeigen und zu kritisieren ist nicht nur notwendig in einer freiheitlichen Demokratie -wenn dies nicht geschieht, kann man wohl kaum von einer Demokratie sprechen. Ein “Respekt” vor einem Staatsamt, der bedeutet, solche furchtbaren Ansichten (auch wenn Köhler vielleicht nur etwas ausgesprochen hat, was viele in de Politik denken) einfach verschwiegen werden, würde sich wohl nicht mehr viel von einem blinden Gehorsam in einem autoitären System unterscheiden. Und bei diesen Äußerungen hätte die Kritik sogar noch deutlich härter ausfallen können. Dass die ganze Sache zuerst im Internet, in den Blogs, publik wurde und lange von den Mainstream-Medien ignoriert wurde, verdeutlicht deren wichtige und wachsende Rolle im öffentlichen Meinungsbildungsprozess.
Darüber, ob Köhler vielleicht in dem Interview etwas ausgesprochen hat, was er nicht wollte, kann im Moment nur spekuliert werden. Die Taktik der letzten Tage, dass er nur falsch verstanden wurde, war ein relativ erfolgloser Rehabilitationsversuch. Die Äußerungen waren deutlich genug: aus wirtschaflichen Interessen muss man Deutschalnd auch Kriege führen. Ob das jetzt speziell auf die Lage in Afghanistan bezogen war, war da eher eine Detaillfrage. Sicher hat Köhler jedoch festgestellt, dass er in einer öffentlichen Debatte, in der offen für Wirschaftskriege eingetreten wird, nur verlieren kann. Daher ist sein Rücktritt aus politischen Gründen nachzuvollziehen. Die Ursache aber ist der Inhalt seiner Äußerungen, sind seine Ansichten, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind und die ihn gerade für das höchste Staatsamt disqualifizieren. Wahrer Respekt vor dem Grundgesetz, und auch vor dem Amt eines Bundespräsidenten, zeigt sich gerade, indem man darauf beharrt, dass dieser zu den Kerninhalten der Verfassung stehen muss.
Freilich wird nun die Debatte über die Auslandseinsätze Deutschlands mit den üblichen Gründen weitergehen können und Köhlers Aussagen nur als “kleine Fehlinterpretation” dastehen. Deshalb gilt es, dieses Thema nicht zu vergessen, und darauf aufmerksam zu machen, dass am Horn von Afrika derzeit ein schon Krieg für die Wirtschaft des Nordens geführt wird. Köhler mag gegangen sein, aber der Inhalt seiner Äußerungen ist leider nur allzu wahr.
Die Innenminister der Länder wollen das Strafmaß für Angriffe auf Polizisten von zwei auf drei Jahre erhöhen. Einige Unions-Innenminister wollen diese Regelung zudem für andere staatliche Berufe wie Feuerwehrleute, Rettungskräfte oder Gerichtsvollzieher eingeführt sehen. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger dagegen warnt, es dürfe “kein Zweiklassenstrafrecht geben, das die Unversehrtheit von Polizisten höher bewertet als die von Bauarbeitern oder Bankangestellten”.
Natürlich hat sie damit Recht. Gleiche Strafe für gleiche Rechtsverletzung ist einer der Grundpfeiler eines Rechtsstaates. Es darf nicht davon abhängen, an wem man eine Tat begeht, wie diese bestraft wird. Anderes würde einen Rückschritt von Jahrhunderten bedeuten. Sicher sind Polizisten größeren Gefahren ausgesetzt, aber ist das der Maßstab? Würde das nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass man nicht so hart bestraft wird, wenn man jemanden angreift, der in seinem Beruf nicht so oft mit Gewalt konfrontiert ist? Nein, das kann wohl kaum gewollt sein. Und wie würden dann Feuerwehrleute oder Sanitäter da rein passen? Und die Ausweitung auf “staaliche Berufe”? Sind denn alle Rettungskräfte staatlich? Was ist mit anderen staatlichen Berufen als den genannten? Und wo liegt die Begündung für solch eine Richtschnur? Oder soll es danach gehen, wie der gesellschaftliche Nutzen der Tätigkeit einzuordnen ist? Dann würden also Angriffe auf Putzfrauen oder Müllmänner sehr viel drastischer bestraft werden müssen als solche auf Steuerberater oder Banker. Aber es wäre ganz sicher, dass das mit unserer gesetzgebenden Kaste nicht zu machen wäre, und es würde dem von Politik, Wirtschaft und Medien verbreiteten Märchen “Wer viel verdient, ist Leistungsträger” (und meist impliziert: besser) zuwiderlaufen. Nein, all dies taugt als objektiver und rationaler Rechtsmaßstab übehaupt nichts. Wenn nicht gleiches Recht für alle gilt, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.
Und Leutheusser-Schnarrenberger übersieht außerdem, wo die wahre Spaltung unseres Justizsystems liegt. Wie kommt es, dass man für Körperverletzung an Polizisten zwei Jahre ins Gefängnis kommen kann, für das Demolieren eines Polizeiautos aber für fünf? Warum werden bei uns Eigentumsdelikte schwerer bestraft als solche an Personen? Wie kommt es, dass man bei mehrfachem Einbruch oder schwerem Diebstahl oft härter bestraft wird als bei schwerer Körperverletzung? Liegt das etwa daran, dass unser Recht darauf ausgelegt ist, vor allem Eigentum zu schützen, und nicht Menschen? Und warum können sich immer wieder Manager, die Betrug, Veruntreuung oder ähnliches in Millionenhöhe begangen haben, mit einer für ihre Verhältnisse kleinen Geldsumme und einer Bewährungsstrafe herauskaufen? Warum sind solche “deals” möglich? Haben wir etwa bereits jetzt eine Klassenjustiz?
Ja, wozu eigentlich? Nicht, dass es nicht schön wäre, mal was zu wissen, aber der Hessen-Koch kommt doch auch ohne aus. Keine Ahnung, was das mit Zukunftssicherheit zu tun haben soll, aber wenn man schon an Grundfesten rüttelt, warum nicht mal darüber nachdenken, warum die Bildung eigentlich so wichtig ist? Ja, warum brauchen wir eigentlich Bildung?
Klar, für den Einzelnen ist Bildung wichtig, wenn Aufstiegschancen erworben werden sollen. Aber warum muss der Staat für Bildung sorgen? Sicher nicht, weil das Konstrukt aller Bürger so explizit menschenfreundlich ist – ob es das ist, liegt schließlich an den Mitgliedern. Doch ist es für den deutschen oder jeglichen Industriestaat damit getan, Bildung zu fördern, um die bisherige Vormachtstellung und den technischen Vorsprung zu halten? Sind es lediglich ökonomische Gründe?
Das Problem der gegenwärtigen Bildung ist, dass keiner weiß, sich darüber auch nur ansatzweise im Klaren ist, warum sie wichtig ist – und genau das entwertet sie. Bildung ist nicht wichtig um ihrer selbst willen. Bildung bietet die Fähigkeit zum Problemlösen. Deshalb brauchen wir eine kreative Bildung. Keine Schmalspur-Wissenschaft, sondern breit ausgebildete Akademiker, die über den Tellerrand schauen, die ihre Potentiale in Gänze nutzen.
Natürlich könnte man heute sagen, wir hätten doch alles wichtige, mehr bräuchte man nicht, warum also noch Bildung? Genießen wir das, was wir haben, genießen wir das Leben und gut ist. Doch diese Möglichkeit besteht, vor allem für die jüngere Generation nicht. Sie sieht sich mit Problemen konfrontiert, die den Zusammenhalt der Welt in Frage stellen. „Alles Leben ist Problemlösen“, so der Titel eines Buches des Philosophen Karl Popper, und die Bildung ist das Werkzeug dazu. Die Bildung muss, unter Anderem, als Werkzeug begriffen werden. Doch wie jedermann weiß, ist ein Zimmermann ein schlechter Handwerker, wenn er nur den Hammer bedienen kann, ohne zu wissen, wo er vielleicht Hilfe von Anderen benötigt. Nicht zuletzt braucht es Kreativität. Und die bekommt man nicht durch Schmoren im eigenen Saft, mit streng parametrisierten Ausflügen in fremde Fachgebiete, die bestenfalls ein unscharfes Zerrbild vermitteln können.
Diese streng modularisierten Ausflüge in andere Fächer bringen nichts. Für den einen, der nur schnell durchkommen will, den Fachidioten in spe mag es noch ein wenig nerven, wenn man sich über ein Semester lang mit irgendeiner Vorlesung befassen muss, die auf unterstem Niveau andere Fachrichtungen erklären und repräsentieren soll. Für den, der wirklich Umwege macht, und machen will, bedeutet dass, dass er sich um einen Haufen Prüfungen kümmern muss, die alle nicht zusammenpassen, von Fächern die wild aus sog. Elementen zu Modulen zusammengewürfelt wurden. Ein tieferes Einsteigen in andere Fachgebiete wird nicht geschätzt oder als sinnvolle Erweiterung des Horizontes gesehen, sondern lediglich als zeitlicher Mehraufwand ohne Mehrwert. Im Gegenteil, die neuen Studiengänge sollten ja gerade die „employability“, also gewissermaßen die „Berufsbefähigung“ erhöhen, geradezu zum goldenen Kalb machen. Aber ist es nicht so, dass 2 Jahre mehr, die man in seine Persönlickeitsbildung investiert hat, auch diese Berufsbefähigung erhöht? Eine intensive Beschäftigung mit anderen Themen, als dem Hauptstudiengebiet lässt zudem eine neue geistige Elite heranwachsen, und wo sollte ein geistiger Eliteanspruch sein, wenn nicht an den Universitäten, weil diese Zusammenhänge zwischen den Fachrichtungen erkennen können. So können von vornherein Fehler und Irrtümer, die auf Unverständnis, auf Inkompatibilität der einzelnen Menschen in einer Gruppe, sei es zur Arbeit oder auch nur eine andere soziale Gruppe, vermieden werden. Das zweite goldene Kalb ist aber die Fixierung auf ein schnelles Studium. Das vermittelt aber nur stark verdichtetes Wissen über die Problemlösung von Spezialfällen, nicht aber die Fähigkeit, mit neuartigen Problemen umzugehen. Grundlegende Forschungsprinzipien werden nicht oder nur am Rande thematisiert. Hier wäre also eine grundlegende Umgestaltung nötig, weg vom Turbo-Studium, hin zum Twainschen Bild des Bummelstudenten, der seinerzeit nach Deutschland kam und die Universitäten bewunderte – man ging einfach hin und studierte, was man wollte. Es wurde niemand schief angeschaut, nur weil er ein bisschen durcheinander studierte. Wohlgemerkt war das im 19. Jahrhundert. Wer wollte behaupten, wir könnten uns das heute nicht erlauben? Von einem derartigen Bildungsideal sind wir heute leider weit entfernt.
Betrachtet man das gegenwärtig die Universitäten, sieht man ein Bild erstarrter Systeme, die studentisches Lernen in engen Bahnen hält, fachlich stark abgeschottet und streng an vorgegebenen modulierten Arbeitsaufwand orientiert. Unter dem Vorwand, Vergleichbarkeit und Flexibilität zu schaffen, wurde jeglicher Anflug von Flexibilität unterminiert, die Vergleichbarkeit ist ebenfalls nur scheinbar gegeben. Wie also zu einer Bildung finden, die dem Namen gerecht wird, dem Begriff eines Mittels zum Zweck des Fortbestandes der Menschheit in einer Welt, die besser ist als heute, die mehr Menschen ein Leben nach eigenen Vorstellungen ermöglicht. Wie kann eine derartige Bildung aussehen?
Nochmal: Eine Bildung, die nur um ihrer selbst Willen betrieben wird, läuft sich tot. Es füllt weder die zu bildenden aus, noch bringt es ein Verständnis mit sich für die Sinnhaftigkeit, die dieser Bildung innewohnt. Mir schwebt eine Bildung vor, die ein tieferes Verständnis fördert. Sei es in der Physik (meinem persönlichen Studiengebiet) und anderen Naturwissenschaften, in ökonomischen Studien, in Geisteswissenschaften oder Künsten. Es ist gerade das Gegenteil der Bildung, die existiert und weiter in Richtung Verwertbarkeit getrieben wird – wir können es uns nicht leisten, in gewohnten Bahnen zu bleiben und diese nutzen zu wollen. Wir brauchen ein neues, verrücktes Denken, Grundlagenforschung, kritische Überprüfung von Althergebrachtem, die stetige Erneuerung des Wissens durch ständiges Hinterfragen, was wir wissen. Wie heißt es so schlicht wie flapsig? „Wissen ist nur der Stand des letzten Irrtums!“ Was hochtrabend philosophisch als Suche nach dem Wahren bezeichnet wird, ist die beste Chance auf Fortschritt, auf Erkenntnis. Wenn Probleme nicht mit dem aktuellen Wissen gelöst werden können, oder es große Einbußen an Komfort bedeuten würde, dann sollte man vielleicht anfangen, über ganz neue Dinge nachzudenken.
Humboldt-Universität zu Berlin. http://www.flickr.com/photos/zug55/4042967469/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de
Mit all dem vorhergegangenen meine ich auch ausdrücklich die Kunst. Wenngleich Musik die Erderwärmung nicht stoppen wird, ein Bild nicht mehr Wasser aus dem Wüstenboden holt und eine Skulptur keine Hungersnöte beendet, so ist der Mensch doch ein ästhetisch veranlagtes Wesen. Warum ein Nachkommen dieser Veranlagung, dieses natürlichen Triebes sinnvoll ist? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es rührt an den Sinn des Lebens, den ich ebenso wie alle anderen Menschen dieser Erde nicht kenne. Aber jeder wird wohl anerkennen müssen, dass auch Künste Völker verbinden können, Gräben überwinden, oder einfach nur das Leben schöner machen. Schon die griechische Philosophie teilte sich in die Grundströmungen des Wahren, des Guten und des Schönen auf, Logik, Ethik und Ästhetik. Über Logik und Ästhetik habe ich mich bereits ausgelassen, doch wie steht es mit dem Guten? Wo findet man an einer Universität das Gute? Nur in den philosophischen Fakultäten. Doch die werden von anderen Fachrichtungen häufig kritisch beäugt, bringt doch ihre Wissenschaft keine direkt verwertbaren Erkenntnisse. Speziell die Ethik bringt Sätze hervor, die beginnen mit „Du sollst…“, was heute einen negativen Beiklang hat. Es klingt nach Hilflosigkeit der Politik. Dass es kaum einen anderen Weg gibt, um Menschen von einer bestimmten Denkrichtung hinsichtlich eines weltlichen Problems gibt, als ihnen zu erklären, warum sie es sollten, wird in meinen Augen in den allermeisten Fällen vollkommen verkannt. Dass die Philosophie sich derartigen Anfeindungen stellen muss, ist teilweise auch selbstverschuldet. Es gibt viele hübsch verklausulierte Sätze, die Bildung heucheln, meist von schlechten Philosophen, auf die dann Journalisten hereinfallen, wenn sie nicht selbst das Philosophieren gelernt haben (wobei im Bezug auf das Philosophie treiben das Wort „lernen“ nicht mit dem ein Einklang zu bringen ist, was aktuell als Lernen bezeichnet wird). Es mag auch viele gute Philosophen an den Unis geben. Tatsache ist doch, dass diese sich wieder vermehrt selbstbewusst an die Oberfläche trauen müssen. Wenn jemand sagt, er studiere Philosophie, dann haben wir erst dann einen Schritt in die richtige Richtung getan, wenn die Antwort ist: „wow“, und nicht mehr „Und davon kann man leben?“ oder „Und was macht man damit?“
In Verbindung damit steht auch das Humboldtsche Bildungsideal, das sich auf eine ganzheitliche Ausbildung fixierte. Das heißt nicht, dass jeder alles können muss, Gott bewahre, das wäre von ausnahmslos jedem Menschen zu viel verlangt. Doch es wäre eine Hinwendung zu einer Bildung, die Verständnis um die Zusammenhänge liefern soll, zum Fachgebiet, das eigentlich hauptsächlich behandelt wird. Darüber hinaus muss die Universität die Aufgabe übernehmen, Vordenker zu entwickeln. Wo sonst sollten sich Menschen Gedanken machen, und diese Aufgabe, diese stetige Suche, die Idee eines Nachdenkens über die eigene Bezugsgruppe hinaus, wo sonst sollte diese Idee weitergegeben werden? Sicher, es gibt auch kluge, nicht studierte Leute. Doch diese werden gern geschnitten, ob ihres Mangels an akademischen Graden und es sind bei weitem doch nicht genug, um später die Geschicke eines Landes als Vordenker, eben als geistige Elite zu gestalten. Sie müssen als Mittler dienen zwischen Politik, die die Wünsche der Menschen umsetzen soll und den Menschen selbst, die zwischen den Denkrichtungen wählen sollen, denen aber auch diese verschiedenen Richtungen erklärt werden müssen. Nicht jeder hat die Fähigkeit, selbst derart tiefgreifende Gedankengänge zu verstehen, wie es in der akademisch-philosophischen Ausbildung notwendig wäre. Dennoch haben auch diese Menschen eine Stimme und diese weniger wertzuschätzen als die eines Akademikers wäre mindestens eine gewisse Geringschätzung des demokratischen Gedankens.
Doch nach all diesen idealistischen Begründungen gibt es auch ganz profane Aspekte, die eine deutliche Umstrukturierung der Bildung notwendig machen.Es müssen mehr junge Menschen an die Unis. Es wird immer weniger Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe geben und nicht zuletzt ist jedem ersichtlich, dass andere Länder billiger produzieren können, was also entweder dauerhafte Subventionen erfordert oder andere Arbeitsplätze. Diese ganz profanen Gründe leuchten ein, doch das wichtigste Grund, viel mehr in Bildung zu investieren, ist schlicht der Fortbestand einer Erde, die eine ausreichende Lebensgrundlage für die Menschen bietet. Wenn wir es heute schon nicht schaffen, alle Menschen zu ernähren, obwohl die Erde es eigentlich hergibt, wie sollen wir es in Zukunft schaffen, wenn nicht durch mehr Forschung und dafür auch durch mehr Bildung? Das schließt natürlich die Schulen mit ein. Um mehr Kinder und Jugendliche auf die Universitäten vorzubereiten, muss ein Studium einen Anreiz darstellen. Wenn heute beim Arbeitsamt erzählt wird, man sollte mit einem Abitur ohne 1 vorne durchaus eine Ausbildung in Betracht ziehen, ausdrücklich auch bei Natur- und Ingenieurwissenschaften, halte ich das für fatal. Gerade da gibt es viel zu wenige Bewerber, um den Bedarf zu decken. Möchte man die Forschung weiter ausbauen, bräuchte es also noch viel mehr Anfänger. Doch auch in anderen Bereichen, beispielsweise beim Lehramt, ist der Bedarf riesig. Dazu muss aber eine Schule zum Lernen motivieren. Einzelbetreuung darf kein Fremdwort bleiben – doch genau das wird es bleiben, wenn die Klassen immer noch mit 30 oder mehr Kindern und Jugendlichen besetzt sind. Die unterdurchschnittlich Begabten werden abgehängt, kommen kaum mit und sind demoralisiert, weil sie jeden Tag im Unterricht und auch in Form von Noten mitbekommen: Egal, wie ich mich anstrenge, ich komme nicht gut weg. Und die überdurchschnittlich Begabten? Tja, die werden künstlich klein gehalten, obwohl diese viel schneller lernen könnten. Im Sinne des Frontalunterrichts, der bei derartigen Klassenstärken nahezu die einzige Möglichkeit bleibt, langweilen sie sich und erfahren Lernen nicht mehr als etwas anstrebenswertes. Ich habe selbst erlebt, wie Kreativität rigoros unterdrückt wurde, Selbstdenken bestraft wurde, selbst der viel zitierte Einsatz für die Leistungsschwächeren sanktioniert wurde, weil ja „auch sie dem Unterricht folgen müssen“, der offensichtlich für sie in etwa so fordernd ist wie das Aufeinanderstapeln dreier Duplo-Bausteine. Sie haben genauso wenig Erfolgserlebnisse, wenn nicht die Eltern oder einzelne Bezugspersonen (wie z.B. ein einzelner ausnehmend guter Lehrer, der zudem noch Zeit und Kraft für diese persönliche Förderung hat) viel Zeit und, nicht zu vergessen, Geld dort einsetzen (natürlich vorbehaltlich der bloßen Möglichkeit).
Die konkrete Ausgestaltung von Früherziehung, Schulbildung und Akademischen Einrichtungen zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wichtig ist nur: Bildung ist wichtig. Lebenswichtig. Für die Welt: Überlebenswichtig. Wenn wir nicht weiter forschen, und wir brauchen schließlich Bildung, um bisher gewonnenes Wissen weiterzugeben, handeln wir nicht nur einem natürlichen Trieb zum Trotz, wie verbauen die Möglichkeit, die Welt zu gestalten, so dass sie für alle Menschen besser wird. Und für jeden Einzelnen.
Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.
Wurde diese Aussage Köhlers zunächst nur von Blogs und dann auch dem Freitag thematisiert, ist nun auch die Mainstream-Presse auf das Thema gekommen und Spiegel Online (hier und hier), die Frankfurter Rundschau, die Financial Times Deutschland, die Süddeutsche und selbst die Tagesschau und die Welt berichten heute. Sie tun dies in erster Linie wohl, da sich Vertreter von verschiedenen Parteien zu Wort gemeldet haben. Solch ein Thema selbst aufzugreifen wäre wahrlich zuviel an kritischem Journalismus. Und so hält man sich auch mit eigenen Kommentaren zurück, und auch die nachträgliche Selbstzensur des Deutschlandradios wird natürlich auch nirgendwo erwähnt.
Was sagen nun die Parteien zu Köhlers Aussage? Die CDU versucht, Köhlers eigentlich recht klare Worte als „etwas missverständlich“ darzustellen. Er hat das ja gar nicht so gemeint, sich vielleicht nur etwas ungeschickt ausgedrückt. Krieg für freie Handelswege? Klar, gute Sache, immer doch, gibt’s ja z.B. auch am Horn von Afrika! Aber dafür braucht man „selbstverständlich immer ein klares völkerrechtliches Mandat“ – soo einfach geht’s ja nun auch nicht! Wenn’s das aber gibt, ist alles in Ordnung. Und in Afghanistan ist das ja schließlich was ganz anderes, da geht’s um die internationale Sicherheit und Stabilität. Wollte der Host ja auch so sagen. Muss er vielleicht noch mal ‘nen Rhetorik-Kurs besuchen, das ist alles. So, nun reicht’s aber auch mit der Kritik, ist ja schließlich unser Staatsoberhaupt, und das sollte man „möglichst nicht kritisieren“!
Krisenhafte Entwicklungen, Terrorismus oder gewaltsame Konflikte in Lieferländern können unsere Versorgung mit Energie und Rohstoffen gefährden und unserer Wirtschaft Schaden zufügen. […]
Die Herstellung von Energiesicherheit und Rohstoffversorgung kann auch den Einsatz militärischer Mittel notwendig machen, zum Beispiel zur Sicherung von anfälligen Seehandelswegen oder von Infrastruktur wie Häfen, Pipelines, Förderanlagen etc. Bereits heute wird die Bundeswehr eingesetzt – beispielsweise mit der Beteiligung an OEF am Horn von Afrika oder an Active Endeavour im Mittelmeer.
Da könnte die Union eigentlich klarer zu ihren Aussagen stehen, die Köhler jetzt nur in seiner Rolle als Bundespräsident – ungeachtet ihrer Gundgesetz- und Völkerrechtswidrigkeit – wiederholt hat. Natürlich weiß man auch bei der CDU, dass man der Öffentlichkeit eher langsam klar machen sollte, dass man von ihr erwartet, sich für die wirtschaftlichen Interessen des Landes (oder derer, die dort bestimmen), aufzuopfern. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Zynisch wie eh und je reagiert die FDP. Köhlers Äußerungen seien ein „Appell, die hierzulande etwas hausbackene Debatte über Sicherheitspolitik zu weiten“. Wenig erstaunlich, dass die ehemalige Bürgerrechtspartei FDP, die sich längst zum bedingungslosen Büttel des Kapitals gemacht hat, internationales Recht als veraltete und moralingesäuerte Sentimentalität ansieht. Man wird doch mal darüber reden dürfen, Kriege für die freie Marktwirtschaft zu führen!
Nun, so denkt man aber, müssten diese Aussagen doch eine Steilvorlage für die Opposition sein. Menschen dürfen nicht für die Interessen von Großkonzernen sterben, könnte man rufen, „unsere Jungs“ sollen nicht fallen, damit die deutsche Außenhandelsquote steigt, könnte man fordern, „Kein Blut für Geld!“ könnte man skandieren. Man könnte – ja durchaus naheliegende – Vergleiche zu George W. Bush ziehen, warnen, dass von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Ankreiden, dass die Privatwirtschaft nach Rettungsschirmen aus Steuergeldern in dreistelliger Milliardenhöhe nun auch Menschenleben fordert, um ihre Gewinninteressen durchzusetzen. Man könnte vielleicht auch so weit gehen, dass ein Bundespräsident, der so offen nationales und intenationales Recht und die Würde des Menschen verachtet, nicht tragbar ist.
Hier hätte man durchaus ein wichtiges und öffentlichkeitswirksames Thema, wo die Opposition sich klar profilieren könnte als eine, die nicht mit Menschenleben jongliert für eine Rückkehr eines deutschen Großmachtstatus. Die Aufmerksamkeit wäre sicher, und der Versuch, eine solche Politik vor dem Wähler zu rechtfertigen, wäre auch bei Mitarbeit der einschlägigen Medien und Think Tanks eindeutig zum Scheitern verurteilt.
Aber was tut die Opposition? Die Linke spricht wenigstens relativ klare Worte – aber das war politisch wegen ihrer kompletten Ablehnung von Militäreinsätzen nicht anders zu erwarten und wird nicht gerade ein politisches Erdbeben auslösen.
Aber, der SPD-Seeheimer Thomas Oppermann hat tatsächlich nicht mehr zu Köhlers Äußerungen zu sagen, als dass dieser der Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr schade (bei solch einer Rechtfertigung der Einsätze etwa nicht völlig zu Recht?) und – offenbar die größte Gefahr! – „der Linkspartei das Wort rede“? Und auch Oppermann sagt, in Afghanistan gehe es nicht um Wirtschafts-, sondern um Sicherheitsinteressen. Nüchtern und abseits von politischen Parolen betrachtet geht es wohl weder ausschließlich um das eine noch um das andere – aber was ist etwa mit dem Einsatz am Horn von Afrika? Wenn man wirklich keine Wirtschaftskriege wollte, wie Oppermann sagt, warum geht man dann nicht stattdessen gegen die elenden Zustände in Somalia vor – warum bekämpft man nicht entwicklungspolitisch die Ursachen, sondern militärisch die Symptome? Wenn jetzt auch das Bundespräsidialamt entgegnet, der Afghanistan-Einsatz sei nicht gemeint, sondern z.B. die Operation Atalanta, dann macht es das ja nicht besser. Es wird ja zweifelsohne zumindest ein Militäreinsatz allein für wirtschaftliche Interessen der Industrieländer durchgeführt. Der vorrangige Einwand sollte doch sein, dass man so etwas ablehnt, und nicht, ob es nun speziell in Afghanistan der Fall ist.
Die Grünen sagen, dass die Äußerungen ein „gefährlich falsches Verständnis von Auslandseinsätzen“ entlarven würden und Köhler „offenbar in Unkenntnis über die ausführliche Debatte um den Afghanistaneinsatz“ rede. Soll entweder heißen: Köhler hat nur nicht ganz verstanden, worum es bei den Einsätzen wirklich geht. Wirtschaftliche Interessen? Wie kommt der nur darauf? Da muss er aber noch einiges dazulernen! Das wäre wohl aber eher unwahrscheinlich. Oder will es nicht vielmehr meinen: der Bundespräsident hält sich nicht an den verabredeten Code, die etablierte Rechtfertigungslinie: es geht darum, Brunnen zu bohren, Schulen zu bauen und den Afghanen Demokratie und Frauenrechte zu bringen. Außerdem wird unsere Sicherheit permanent duch afghanische Terroristen und somalische Piraten gefährdet. Und die Region könnte destabilisiert werden, und dann kommen noch mehr Terroristen zu uns. Nur darum geht es! Köhler spricht aus, was man nicht aussprechen darf! Die Wahrheit ist zu gefährlich!
Nein, Köhlers Äußerungen zu Kriegen aus wirtschaftlichen Interessen sind vielleicht nicht das einzige Erklärungsmuster für die derzeitigen Einsätze der Bundeswehr. Aber sie lassen eine extrem gefährliche Tendenz in der deutschen (und der EU-) Politik zum Vorschein kommen, die als eine menschenverachtende, chauvinistische Politik, die mit Gewalt die weltweiten Ungleichgewichte bewahren, die Ausbeutung fortsetzen und die Macht der Industrieländer und ihrer „Eliten“ zementieren will, bekämpft werden muss.
Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hat gestern seinen Rücktritt erklärt. Bevor man über diese Ankündigung jubelt, sollte man sich die Worte seiner Rücktrittsrede auf der Zunge zergehen lassen: Süffisant zitiert er eingangs aus seiner Geburtstagrede aus dem Jahr 2008, in der er im Gangsterjargon hat verlautbaren lassen, dass er in seiner Arbeit »noch etwas zu erledigen« hätte…. Dann schaut er auf seine »Arbeit« zurück und lässt uns wissen, dass alles »zu meiner vollsten Zufriedenheit geschehen« sei. »Mehr als zwölf Jahre …(und) eine wirklich tolle hessische CDU« liegen bald zurück und ein Wechsel in die Wirtschaft als Belohnung warten auf ihn. Was und wen hat der hessische Ministerpräsident Roland Koch »erledigt«?
Rückblick
Obwohl sich die hessische CDU im Wahlkampf 2008 noch steigerte, ihre rassistische Kampagnen (z.B. die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsangehörigkeit 1999) mit dem Kampf gegen ›ausländische Kriminelle‹ zu krönen wusste, von ›Kuscheljustiz‹ fabulierte und mit ›Warnschussarrest‹ drohte, musste sie massive Verluste (minus 12 Prozent) hinnehmen. Ihr Wahlkampfmotto: »Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen«, eine Mischung aus Deutschtum und Kommunistenphobie ging nicht auf. Selbst mit der FDP zusammen hatte sie keine Regierungsmehrheit mehr. Die SPD hingegen konnte gegen den bundesweiten Abwärtstrend 7,6 Pozent zulegen und hatte sogleich ein Problem: Auch mit den Grünen zusammen wäre sie auf eine Tolerierung durch die Partei DIE LINKE angewiesen gewesen. Genau diese schloss sie jedoch aus – in der Hoffnung, so den Einzug der LINKEN verhindern zu können. Um dennoch rot-grüne Regierungspolitik machen zu können, brach sie ihr Wort und handelte ein Tolerierungsabkommen mit der Partei DIE LINKE aus.
(2)
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es schon viele Wortbrüche, ohne dass diese den jeweiligen Parteien geschadet hätten. Doch dieses Mal passierte etwas Ungewöhnliches: Eine parteiübergreifende Koalition aus Wirtschafts-, Partei- und Medienunternehmen fand sich zusammen, um den »linken Putsch gegen den Wählerwillen« zu verhindern. Die Initiatoren, Unterstützer und Sponsoren der ›Wortbruch-Kampagne‹ reichten von BILD bis FNP, vom wirtschaftsfreundlichen Flügel der SPD bis zu unternehmensnahen Gewerkschaftsgliederungen. Wenn man also davon ausgeht, dass diese Große Koalition in punkto Wortbruch genug (eigene) Erfahrungen hat, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass es um ein politisches Programm ging, dessen Verwirklichung um jeden Preis verhindert werden musste. Und in der Tat störten einige SPD-Programm-Punkte einflussreiche Wirtschaftsinteressen und milliardenschwere Unternehmen in Hessen derart, dass sie gegen dieses ›wirtschafts- und standortfeindliche‹ Regierungsprogramm mobil machten:
Die geplante Startbahn Nord am Frankfurter Flughafen sollte erst gebaut werden, wenn die Gerichte über die Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses entschieden haben. Auf das Instrumentarium des ›Sofortvollzuges‹ sollte also verzichtet werden.
Am Atomausstieg sollte festgehalten werden, gerade auch im Hinblick auf das älteste Atomkraftwerk in Biblis.
Der Ausbau regenerativer Energien sollte zügig und entschieden vorangetrieben werden.
Diese politischen Vorgaben sollten durch einen neuen Wirtschaftsminister unterstrichen werden: Dr. Herrmann Scheer.
Nachdem alle Parteigliederungen diesen Kurs unterstützt hatten, wählte das Wortbruch-Kartell zuerst die Implosionsstrategie: Durch fast unannehmbare Forderungen an die Partei DIE LINKE sollten die Tolerierungsverhandlungen zum Scheitern gebracht werden. Das Ziel dieser Strategie beschreibt der FAZ-Redakteur Volker Zastrow – im Nachhinein – wahrheitsgemäß: Andrea Ypsilanti sollte aufs Dach gejagt werden, um ihr »dann die Leiter wegzuziehen.« Zur Überraschung aller schluckte DIE LINKE alle Kröten. Daraufhin zog man das letzte Ass aus dem Ärmel: Ein Tag vor der entscheidenden Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin entdeckten vier SPD-Abgeordnete in einer Pressekonferenz im Dorinthotel ihr Last-Minute-Gewissen und verweigerten Ypsilanti ihre Stimme. Der Schaden für die hessische SPD war maximal, eine rot-grüne Minderheitsregierung gescheitert und die Ausbaupläne des Flughafen-Kartells gesichert. Zugleich war der Machtkampf innerhalb der SPD entschieden: Eine SPD-Landespolitik, ein wenig links von ›Agenda 2010‹ und einer ›Boss der Bosse‹ Politik, sollte es nicht geben.
FRAPORT & Co. nehmen die Wahl an
Nach dem Scheitern einer rot-grünen Regierung mit Tolerierung durch DIE LINKE wurden Neuwahlen angesetzt: Der rechte, wirtschaftsfreundliche Flügel innerhalb der hessischen SPD setzte sich durch: Andrea Ypsilanti trat zurück und der blasse, ›flügellose‹, angeblich flügelübergreifende Thorsten Schäfer-Gümbel wurde zum neuen SPD-Ministerpräsidentschafts-kandidaten aufs Schild gehoben. Alle markanten, von der Wirtschaft abgelehnten Positionen verschwanden aus dem Programm. Die Flucht ins Allgemeine wurde nur noch von einem Wahl›kampf‹plakat übertroffen, das furchteinflößender nicht sein konnte: »Die Roten kommen wieder!« Die ›Roten‹ waren drei brave, bärtige Nikoläuse mit Leergut in den Händen…
Die CDU setzte auf bereits Gesagtes, ohne es noch einmal plakativ in Szene zu setzen: Man verzichtete auf laute rassistische Programmatiken und zeigte sich ›lernfähig‹: Die Wiedereinführung von Studiengebühren wurde aus dem Programm gestrichen.
»Zur Rache, Schätzchen«
Die breit angelegte, parteiübergreifende Kampagne gegen den ›Wortbruch‹ von Andrea Ypsilanti hatte Erfolg: Am 18.1.2009 wählten Hessens BürgerInnen endlich richtig: 37,2 % der abgegebenen Wahlstimmen entfielen auf die CDU. Zusammen mit der FDP bildeten sie die neue hessische Landesregierung.
Vollstrecken – säubern – belohnen
Vollstrecken …
Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm liest sich wie eine Darlehensrückzahlung an die Hauptsponsoren des CDU-FDP-Sieges:
Der Flughafen soll zügig ausgebaut werden.
Das Kernkraftwerk Biblis soll bleiben.
Das Verfahren zur Genehmigung des Kohlekraftwerks Staudinger soll vorangetrieben werden.
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Erwartungsgemäß ausgelassen zeigten sich die Hauptsponsoren: »Von der Arbeitsgemeinschaft der hessischen Industrie- und Handelskammern kamen zustimmende Äußerungen … Auch die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände und der Bauernverband zeigten sich zufrieden.« Der Jubel war berechtigt. Zumindest diese Versprechen überstanden den Wahlkampf unbeschadet. Nur zwei Tage nach dem Wahlsieg umstellten Hundertschaften der Polizei das Waldcamp im Kelsterbacher Wald und begannen im Schutz von über 1.000 Polizeibeamten und 350 Wachleuten der Sicherheitsfirma ›Kötter‹ mit der Rodungen, obwohl die FRAPORT weder Besitzerin ist, noch die Gerichte über die anhängigen Klagen entschieden hatten.
(4)
Eigentlich ist der im hessischen Regierungsprogramm formulierte Treueschwur zum Atomkraftwerk Biblis bzw. zum Energieriesen RWE absurd und ein offener Aufruf, den bestehenden Atomkonsens aus dem Jahr 2001 zu unterlaufen bzw. aufzuheben. Denn das AKW Biblis A ist das älteste Atomkraftwerk in Deutschland. Würde es mit rechten Dingen zugehen, hätte es noch vor der Bundestagswahl im September 2009 stillgelegt werden müssen. Doch dann fand man eine lebensverlängernde Maßnahme: Man drosselte die produzierte Strommenge und setzte auf die CDU als Siegerin der Bundestagswahlen 2009. Das ›Ja-Wort‹ der hessischen Landesregierung und die ›variable‹ Handhabung der festgelegten Restlaufzeiten würden so dem Betreiber RWE Millionen Euro in die Taschen spülen.
Säubern …
Nachdem 1999 herauskam, dass die hessische CDU Millionen an Schwarzgeldern als ›jüdische Vermächtnisse‹ auf ausländischen Konten getarnt hatte, versprach der hessische Ministerpräsident Roland Koch ›brutalst mögliche Aufklärung‹. Während Roland Koch und die hessische CDU ihr Versprechen nach allen Regeln der Kunst brachen, gab es einige, die genau das sehr wörtlich nahmen, wie z.B. das ›Banken-Team‹ im Finanzamt Frankfurt V. Seine Aufgabe bestand darin, steuerrechtliche Vergehen im Bankensektor zu verfolgen und aufzuklären. Auf diesem Gebiet hatten sie nicht nur z.T. jahrzehntelange Erfahrungen, sie waren Staatsdiener im allerbesten Sinne. Sie waren erfolgreich, gefährlich erfolgreich: So war Steuerfahnder Marco Wehner dabei, »als Frankfurter Steuerfahnder gegen den ehemaligen Schatzmeister der CDU, Walther Leisler Kiep ermittel(te)n. Das dunkelste Kapitel der Hessen-CDU.« Es ging um über 20 Millionen DM, die als illegale ›Kriegskasse‹ für Parteizwecke genutzt wurden und u.a. in der Liechtensteiner Stiftung ›Zaunkönig‹ anonymisiert, also gewaschen wurden.
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Sie ermittelten aber auch gegen Großbanken: »Stapelweise Belastungsmaterial fand das Team bei Commerzbank und Deutsche Bank , die Kunden geholfen hatten, Geld vor dem Fiskus zu verstecken. 250 Millionen Euro zusätzlich aus Steuernachzahlungen der Banken verbuchte das Land Hessen wegen ihrer Erfolge, rund eine Milliarde der Bund.«
Doch nicht nur potente Privatkunden (ab einer Million DM) wurden via ›Transferkonten‹ hiesiger Großbanken in Steueroasen wie Liechtenstein geschleust. Auch Großfirmen wie Siemens nutzten diesen Schleichweg, um Schmier- und Bestechungsgelder über Liechtensteiner Konten ›außerbilanziell‹ abzuwickeln: Deren Firmengelände in Offenbach und Erlangen wurden polizeilich aufgrund des Vorwurfes durchsucht, zwischen 1999 und 2002 mindestens sechs Millionen Euro Bestechungsgelder im Zusammenhang mit Auftragsvergaben an damalige Manager des italienischen Stromkonzerns Enel gezahlt zu haben. Im November 2006 teilte die Münchner Staatsanwaltschaft mit, Verantwortliche bei Siemens hätten sich »zu einer Bande zusammengeschlossen« und sich an der »Bildung schwarzer Kassen im Ausland« beteiligt.
Man kann nur erahnen, um welche Summen es sich dabei insgesamt handelt, wenn man davon ausgeht, dass die aufgedeckten Fälle nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Für etwas anderes braucht man hingegen keine Fantasie: Die in Eintracht organisierte Kriminalität durch Parteien, Banken und Großfirmen schweißte zusammen, bei dem Versuch, einen Flächenbrand mit allen Mitteln zu verhindern.
2001 erließ das Finanzamt Frankfurt auf Anweisung des hessischen Finanzministeriums die Verfügung, nur noch Geldtransfers ins Ausland zu untersuchen, die die Summe von 500.000 Mark überstiegen. Damit wurden Geldtransfers unterhalb dieser Grenze für ›steuerrechtlich unverdächtig eingestuft‹, was einer Einladung gleichkommt, in Zukunft Steuerhinterziehung in gestückelten Teilbeträgen zu praktizieren.
Gegen diese Anweisung protestieren einige Steuerfahnder aus der ›Bankengruppe‹. Sie befürchteten zu Recht, dass damit ein verfolgungsfreies Schlupfloch geschaffen werden sollte. Daraufhin wurde das in Gang gesetzt, was später als das System ›Archipel Gulag‹ bekannt werden sollte. Wie groß der Druck nicht nur vonseiten von Großbanken und Großfirmen gewesen sein dürfte, welch massives Eigeninteresse auch die hessische CDU daran hatte, dass ihr das Ganze nicht um die Ohren fliegt, macht ein weiterer ›Skandal‹ deutlich, der 2009 an die Öffentlichkeit drang.
Die Stiftung ›Zaunkönig‹ lässt grüßen
Man kann nicht behaupten, die hessische CDU hätte aus der Serie von ›Schwarzgeld- und Spendenskandalen‹ der 80er und 90er Jahre keine Lehren gezogen, im Gegenteil: Man justierte neu, ging neue, innovative Wege. Zu diesen Optimierungsmöglichkeiten darf man auch den Versuch zählen, Schwarzgelder nicht mehr ins Ausland zu transferieren, sondern innerhalb eines weit verzweigten Firmennetzes ›auszusondern‹. Als eine dieser Schaltstellen darf man Volker Hoff bezeichnen. Er ist nicht nur ein Freund von Roland Koch, er ist auch CDU-Landtagsabgeordneter in Hessen. Außerdem war er Mitbesitzer der Wiesbadener Firma ZHP (Zoffel Hoff Partner) in den Jahren 2003 bis 2006: »In 38 Fällen haben Ermittler der Staatsanwaltschaft nachgewiesen, dass hohe Geldsummen von der Firma Aegis – immer ohne ersichtlichen Rechtsgrund und ohne angemessene Gegenleistung – in Volker Hoffs Firma ZHP flossen …«. Die Staatsanwaltschaft summierte die ihr bekannten Beträge auf ca. 9 Millionen Euro. Volker Hoff beschrieb seinen Aufgabenbereich innerhalb der begünstigten Firma geradezu kafkaesk: ›Betreuung von politischen Kunden‹. Zuerst wurde gegen die Firma Aegis ermittelt. Als absehbar war, dass die Firma ZHP selbst ins Visier der Ermittler und der Strafverfolgung geraten könnte, reagierte die hessische CDU prompt – Roland Koch ernannte seinen Freund Hoff am 28. März 2006 zum Minister für ›für Bundes- und Europaangelegenheiten‹.
Aus gutem Grund: »Hoff und seine Firma waren über lange Jahre so etwas wie die informell verlängerte Partei-Zentrale der Hessen-CDU, Zuständigkeitsgebiet: Öffentlichkeitsarbeit. Ob es Kampagnen und Plakate für Wahlkämpfe zu entwickeln gab, oder eine hessische Fußball-WM-Gala organisiert werden sollte – Hoff war mit seiner Agentur ZHP stets dabei …« Die Einleitung eines Verfahrens zur Aufhebung der Immunität des Abgeordneten wurde bis heute nicht durchgeführt, das Verfahren selbst ›mangels Tatverdacht‹ eingestellt. Der oberste Dienstherr dieses Brandbekämpfungsunternehmens ist der Justizminister Jürgen Banzer (CDU).
Das System ›Archipel Gulag‹
Es gab also genug Gründe, lästige Zeugen und störende Beamte endgültig aus dem Weg zu räumen – aus Eigenschutz und zum Schutz der ›Amigos‹ in der Banken- und Businesswelt. Zuerst versuchte man die unliebsamen Steuerfahnder durch Versetzungen zu disziplinieren: »Ein Teil von ihnen wird in die ›Servicestelle Recht‹ versetzt … eine Geisterstation … ›Man nannte die Servicestelle Recht behördenintern auch ›Strafbataillon‹ oder ›Archipel Gulag‹« Dann machte man mit der ganzen Abteilung Tabula rasa und löste sie auf. Doch anstatt sich im ›Strafbataillon‹ zu bewähren, klagten einige Betroffene gegen die Disziplinarverfahren (und gewannen diese später).
Doch dann passierte etwas, was man weder in der Oberfinanzdirektion, noch im hessischen Finanzministerium für möglich gehalten hätte, womit sie nicht rechnen konnten. Im Sommer 2003 trafen sich fast 50 Steuerfahnder, solidarisierten sich mit den ›Aussätzigen‹ und verfassten einen gemeinsamen Brief an den Ministerpräsidenten Roland Koch: »Wir sind Steuerfahnder und Steuerfahndungshelfer des Finanzamts Frankfurt V und wenden uns an Sie, weil wir begründeten Anlass zu der Sorge haben, dass die Steuerfahndung Frankfurt am Main ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann, weil Steuerhinterzieher nicht in gebotenem Maße verfolgt werden können.«
Der Brief wurde nicht abgeschickt, nachdem einige es mit der Angst zu tun bekamen. Dennoch gelangte dieser samt Amtsverfügung aus dem Jahr 2001 an die Öffentlichkeit. Daraufhin wurde ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag 2003 eingerichtet. Ganze drei Jahre tagte dieser, bis die CDU-FDP-Mehrheit im Untersuchungsausschuss das feststellte, was schon vorher in aller Befangenheit feststand: Weder habe die Regierung Millionen an Millionäre verschenkt, noch habe sie bei der Auflösung der ›Bankengruppe‹ Rechtsbruch begangen.
Im September 2004 erhielt der Ministerpräsident Roland Koch (CDU) auf dem Dienstweg ein Schreiben des Steuerfahnders Rudolf Schmenger, in dem er Führungskräften der hessischen Finanzverwaltung »Fälle von Strafvereitelung im Amt, falsche Verdächtigung, Verletzungen des Steuergeheimnisses, Verletzung des Personaldatenschutzes, Mobbing und Verleumdung« vorwarf.
Jetzt reichte es nicht mehr, die aufsässigen Fahnder von brisanten Fällen abzuziehen, jetzt musste man sie als potenzielle Zeugen unglaubwürdig machen, für irre erklären. Mitte 2006 bekam der Adressant dieses Schreibens eine Aufforderung der Oberfinanzdirektion, sich medizinisch begutachten zu lassen. Es ist kein allgemeiner, dafür ein außerordentlich zuverlässiger Arzt, der ihn untersuchen sollte: Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann aus Frankfurt. Nach Auskunft der Landesregierung begutachtete dieser seit Oktober 2005 exakt 22 Fälle in der Finanzverwaltung – in zwei Dritteln dieser Fälle sei er zum Urteil ›Dienstunfähigkeit‹ gelangt. Auch in diesem Fall war sein Gutachten vernichtend: »Da es sich bei der psychischen Erkrankung um eine chronische und verfestigte Entwicklung ohne Krankheitseinsicht handelt, ist seine Rückkehr an seine Arbeitsstätte nicht denkbar und Herr Schmenger als dienst- und auch als teildienstunfähig anzusehen.«
Man beließ es nicht bei diesem Exempel, sondern ließ weitere Steuerfahnder vom Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann begutachten. Die Begründungen könnten auch aus einem Frankstein-Film stammen: Aufgrund »paranoid-querulatorische(r) Entwicklung (…), in deren Rahmen Herr M. unkorrigierbar davon überzeugt ist, Opfer großangelegter unlauterer Prozesse zu sein« erklärte Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann auch diesen für psychisch krank und dienstunfähig. Man war auf der Zielgeraden der Psychiatrisierung von ›unliebsamen‹ Zeugen angelangt. Denn nun stand ihrer Zwangspensionierung nichts mehr im Weg. Es ist vor allem der Hartnäckigkeit der zwangspensionierten Steuerfahnder zu verdanken, dass nach fast acht Jahren Risse im System ›Archipel Gulag‹ auftreten: Im November 2009 verurteilte das Verwaltungsgericht Gießen den Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann wegen fehlerhafter und »vorsätzlich« falsch erstellter Gutachten über hessische Steuerfahnder zu einer Geldbuße von 12.000 Euro und einem Verweis: »Weshalb der Gutachter von vornherein die vom Probanden geschilderten Ereignisse (…) für wahnhaft, also nicht der Realität entsprechend bewertet, ist an keiner Stelle des Gutachtens dargelegt und erschließt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang.«
Belohnen …
(6)
Auch wenn es im Vergleich zu den vorangegangenen Entscheidungen ›Peanuts‹ sind, sollten sie hier nicht unerwähnt bleiben. Wer sich für ›Don Roland‹ verdient gemacht hatte, sollte fürstlich belohnt werden.
Z.B. Ex-Steuerfahnder Wolfgang Schad. Der Steuerfahnder Wolfgang Schad gehörte zu jenen über 45 Steuerfahndern, die sich im Sommer 2003 bei einer Zusammenkunft mit den vier kaltgestellten Kollegen solidarisierten und dort eine Petition an den hessischen Landtag verabschiedet hatten. Als Präsident des hessischen Leichtathletikverbandes organisierte er für dieses Treffen sogar einen Raum.
Als im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA beschlossen wurde, zwei Steuerfahnder zu befragen, gehörte auch Wolfgang Schad dazu. Kurz vor seiner Anhörung wurde er »ins Finanzministerium geladen: zum Abteilungsleiter 1, Mario Vittorio, der später Oberfinanzpräsident werden wird« . Der Inhalt dieses Gespräches blieb logischerweise geheim, doch lässt sich der Kern des Besprochenen anhand der folgenden Ereignisse ›rekonstruieren‹. Als Wolfgang Schad am 22.6.2005 vor dem Untersuchungsausschuss gehört werden sollte, bestand er darauf, nur in einer nicht-öffentlichen Sitzung Auskunft geben zu wollen. Die Sitzung wurde daraufhin abgebrochen und als ›nicht-öffentliche‹ fortgesetzt.
»Tags darauf wird er von seinen Kollegen im Büro daraufhin angesprochen, dass er im PUA offenbar nicht die Wahrheit gesagt hat. SCHAD gibt zu, dass er einen ›Blackout‹ hatte, sich nicht an die Dinge erinnern konnte, die er z.B. eigenhändig bei der Petition an den Landtag mit unterschrieben hatte.« Dieser ›Blackout‹ löste nicht nur einen wichtigen Zeugen für die in der Petition gemachten Vorwürfe in Luft auf, er wurde zudem wohlwollend honoriert. Was Wolfgang Schad bislang als Hobby betrieben hatte, wurde nun zu seinem neuen Beruf: »Er wird zum Regierungsoberrat (RoR) befördert und arbeitet nun im Hessischen Innenministerium: im Referat VI. Zuständigkeit dieses Referats: ›Sport‹ und ›Sportförderung‹.«
Z.B. die Container-Rebellin Carmen Everts (SPD): Es dauerte eine Weile, bis man alle Weichen gestellt hatte, um eine der vier ›Rebellen‹ gut dotiert im Regierungslager unterzukriegen. Nach Prüfung verschiedener Optionen entschied man sich, die SPD-Abweichlerin Carmen Everts in der Landeszentrale für politische Bildung unterzubringen. Das war nicht einfach, denn man musste erst ein Arbeitsfeld erfinden, für das die wissenschaftlichen Kompetenzen Carmen Everts überhaupt reichten. Als hätten die Marx-Brothers Pate gestanden, nahm man sich in der Folge das bestehende Referat ›Demografie‹ und machte daraus das Referat: ›Extremismus, Diktaturen und Demografie‹. So stümper- und tölpelhaft sich das anhört, so dreist ging es weiter. Im Gegensatz zu allen anderen Referatsleiterstellen wurde ausgerechnet diese mit der Vergütungsklasse eines stellvertretenden Leiters der Landeszentrale versehen.
Z.B. der Betriebsratsvorsitzenden der FRAPORT Peter Wichtel: Zu den Gewinnern darf man auch den oft zitierten Betriebsratsvorsitzenden der FRAPORT Peter Wichtel nennen. Als ›Mann auf der anderen Seite‹ kämpfte er für die Durchsetzung der FRAPORT-Ausbaupläne, in der Doppel-Rolle als Arbeitnehmervertreter und Aufsichtsratsmitglied. Er war in allen Belangen FRAPORT’s Darling, ein Goldstück: Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der FRAPORT am 31.10.2008 wurde mit seiner Enthaltung die Forderung der zukünftigen Landesregierung nach Aussetzung des Sofortvollzugs abgelehnt, mit hohen Schadensersatzforderungen gedroht, und die Rechtmäßigkeit des Koalitionsvertrages bestritten.
So erklärt sich auch, dass Peter Wichtel während der Wortbruchkampagne an vorderster Front gegen eine mögliche SPD-Regierung kämpfte, was für die Kampagne der Bosse eminent wichtig war: Mit seinem Namen sollte der Eindruck vermittelt werden, auch die Arbeitnehmer und Lohnabhängigen ständen aufseiten des Flughafen-Kartells. Dass er bereits zu dieser Zeit im CDU-Landesvorstand saß und Mitglied der CdA war, erwähnte man tunlichst nicht.
Die erste Belohnung ließ nicht lange auf sich warten: Als erster ›Arbeitnehmervertreter‹ wurde ihm 2008 der Preis ›Soziale Marktwirtschaft‹ der Konrad-Adenauer-Stiftung verliehen. 2009 folgte dann die politische Belohnung: Er wurde Nachfolger des langjährigen CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Klaus Lippold aus Offenbach und im Oktober desselben Jahres mit einem Direktmandat in den Bundestag katapultiert.
Out of control
Im Gegensatz zu einer Diktatur oder einem totalitären Regime zeichnet sich ein Rechtsstaat durch Gewaltenteilung und institutionelle Kontrollen aus: Das fängt beim Beschwerderecht in Verwaltungen an, reicht von der Dienstaufsicht übergeordneter Dienststellen (Oberfinanzverwaltung/Finanzministerium), von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, Möglichkeiten der parlamentarischen Opposition, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, bis hin zur ›vierten Gewalt‹, der Presse, Vorwürfe von Rechtsbeugung und Amtsmissbrauch öffentlich zu machen bzw. Opfern von Machtmissbrauch Gehör zu verschaffen…
Angesichts der bisher vorliegenden Fakten und aufgrund des langen Zeittraumes lässt sich ein Resümee ziehen. Ganze sieben Jahre dauerte es, bis das System Archipel Gulag überhaupt an die breite Öffentlichkeit gelangte, dank einer Reportage des Magazin ›Stern‹ (Nr. 51) vom 11.12.2008 unter dem Titel: ›Eiskalt abserviert‹. Danach wurde es wieder recht still. Erst als absehbar war, dass das Verwaltungsgericht in Gießen die Psychiatrisierung von vier Steuerfahndern für rechtwidrig erklären wird, griff die Frankfurter Rundschau diesen Fall auf. In einer Serie von Artikeln legte die FR Dokumente, Fakten und Verstrickungen offen, die bis dahin nur über Mikro-Blogs zugänglich waren, wie z.B. auf dem Internet-Blog des ›Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen‹ .
Seitdem ist zumindest in Teilen der Öffentlichkeit klar, dass es sich bei der Psychiatrisierung von lästigen Steuerfahndern nicht um einen Einzelfall, nicht um eine Übertreibung einzelner Dienstvorgesetzter oder Verselbständigung einzelner Bereiche des institutionellen Machtgefüges handelt, sondern um ein System, das nicht nur minutiös die Ausschaltung von Steuerfahndern betrieb, sondern gleichermaßen alle Kontrollinstanzen ausschaltete bzw. in den Machtapparat einfügte.
Auch wenn die politische Legitimation der hessischen Landesregierung angegriffen ist: Das Kartell, das sich in der Wortbruchkampagne so hervorragend bewährt hatte, hält zusammen. Während der Kassiererin ›Emmely‹ wegen angeblicher Bereicherung in (Schwindel erregender) Höhe von 1,30 Euro fristlos gekündigt wurde, stellt sich das gesamte Führungspersonal der hessischen Landesregierung einen Persilschein aus: Ob Finanzamtsvorsteher, Oberfinanzdirektor, Gesundheitsminister, Finanzminister oder Ministerpräsident – sie haben sich nichts vorzuwerfen und lassen den Rest wissen, dass sie in aller Gelassenheit alles Weitere auf sich zukommen lassen werden. Nicht anders reagieren die Regierungsmedien: Völlig frei von allen Skrupeln spricht die FAZ bis heute von »politischem Sommertheater«, von »Spekulationen«, und »einseitig bis diffamierende(r) Berichterstattung über die Zustände bei der Steuerfahndung«.
Die Frankfurter Neue Presse/FNP setzte diesem Verschleierungsjournalismus noch die Krone auf, als sie am 5.1.2010 von einem zur »›Steuerfahnder-Affäre‹ hochstilisierten Scharmützel« sprach und allen Ernstes eine »bislang noch nicht erlebte(n) Skandalisierungskampagne« beobachtet haben will, die sich aus »angeblich neue(n) Enthüllungen«, bis hin zur »inszenierten Empörung« speist. Bei allem Wahnsinn, der die FNP umtreibt, behält sie dennoch ein Gespür für die eigentliche Gefahr: »Dabei ist Karlheinz Weimar doch nur ein Symbol für das ›System Koch‹, das das eigentliche Ziel der inszenierten Empörung ist. Den neben Innenminister Volker Bouffier dienstältesten Vertrauten des Regierungschefs anzugreifen, ist nämlich gleichzeitig eine Attacke auf den Regierungschef selbst, vor allem auf dessen politische Autorität.« Soviel Weitsicht wünscht man sich vor allem aufseiten jedweder Opposition!
Die FRAPORT-Regierung – ein systemisches Risiko
Man kann der FNP nur zustimmen: Es geht weder um Einzelfälle, noch um einzelne Verantwortliche aus der Führungsriege der hessischen Landesregierung. Was die Steuerfahnder exemplarisch aufzudecken bereit waren, ist ein System, das jenseits von Parlamenten, Wählerwillen, Gesetz und Strafverfolgung agiert und regiert. Wie durch das Bullauge eines Kreuzfahrtschiffes konnten die Steuerfahnder der ›Bankengruppe‹ etwas sehen, was sich unterhalb der Wasseroberfläche bewegt: Ein kriminelles Kartell aus politischen Eliten und Großunternehmen, die mit Milliarden-Beträgen Macht ausüben und Einfluss kaufen, Öffentlichkeit generieren und Märkte erobern, Gesetze (ab-)schaffen und rechtsfreie Zonen zu errichten. Nicht die Verfolgung von Steuerhinterziehung im Einzelfall hat der ›Bankengruppe‹ den Kopf gekostet, sondern das hartnäckige Verlangen der (Steuer-)Fahnder, in diese verbotene Zone einzutreten.
Wir zahlen nicht für organisierte Verschleppungen
Liegt es an der harmlosen Opposition oder an der Wirkungslosigkeit parlamentarischer Kontrolle, dass bis heute die schwarz-gelbe Regierung noch im Amt ist? Drei Jahre lang ging ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Frage nach, ob die Anordnung des hessischen Finanzministeriums aus dem Jahr 2001 der Öffentlichkeit Schaden zugefügt haben könnte. Dank der Regierungsmehrheit verlief der Untersuchungsausschuss im Sande. Seitdem füllen Anfragen aus den Reihen der Opposition und Antworten der Regierungsparteien Aktenordner. Warum torpedieren die Oppositionsparteien nicht dieses kostspielige Versandungsspiel? Warum verlässt die Opposition nicht den machtlosen Raum des Parlaments? Warum läd sie nicht die kaltgestellten Steuerfahnder zu öffentlichen Hearings ein, organisiert ein Russel-Tribunal, das sich mit Regierungs- und Wirtschaftskriminalität beschäftigt?
Zumindest die Gründungsmitglieder der Grünen und die Partei DIE LINKE sollten sich noch an die Idee des Spiel- und Standbeines erinnern: Mit dem Spielbein den parlamentarischen Raum betreten und mit dem ›Standbein‹ gesellschaftliche Opposition (mit-)organisieren – zumindest informieren und stärken. Für den Anfang würde bereits ein ›Spielbein‹ reichen.
Nun ist Roland Koch zurückgetreten – in der sicheren Gewissheit, dass ein personeller Wechsel an der »Beibehaltung des politischen Kurses« nichts ändern wird. Wenn jetzt die parlamentarische Opposition jubelt, der hessische SPD-Fraktionsvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel davon redet, dass »Roland Koch vor den Trümmern seiner Politik« stünde, dann macht das keine Hoffnungen, sondern ist zu allererst nur peinlich.
Als aussichtsreichster Nachfolger für Roland Koch wird übrigens der stramme Gefolgsmann Volker Bouffier gehandelt.
Nun hat er es also selbst ausgesprochen: „Deutschland [müsse] mit seiner Außen-handelsabhängigkeit zur Wahrung seiner Interessen im Zweifel auch zu militärischen Mitteln greifen.“ Er, das ist Horst Köhler, seines Zeichens das formelle Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland und somit ihr oberster Repräsentant. Anläßlich einer Stippvisite im deutschen Camp in Masar-i-Scharif verkündete der Bundespräsident im Anschluß das Ende der Friedens- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik, die die Väter des Grundgesetzes nach den Schrecken der Nazi-Zeit aus gutem Grund in selbigem festschrieben.
Endlich ist auch der „Sparkassendirektor“ dort angekommen, wo deutsche Thinks Tanks sich bereits seit Jahren befinden: bei der Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen in aller Welt und nicht nur bei der Verteidigung von „Deutschlands Sicherheit“ am Hindukusch. Schon in 2006 forderten, getragen vom BDI, deutsche Wirtschaftsvertreter nötigenfalls bewaffnete „Rohstoffsicherung“, es wurde immer wieder nachgelegt und im Jahre 2009 stellte gar die Körber-Stiftung fest, daß Deutschland ja nun wieder eine „Großmacht“ sei und sich entsprechend zu verhalten habe. Kurzum – das deutsche Staatsoberhaupt propagiert gegebenfalls den bewaffneten Kampf um Ressourcen, Handelswege (z.B. -> TRACECA), Pipelines und Märkte. Ist dies noch die „gute alte BRD“ oder doch schon wieder „Deutschland“?
Herr Köhler vermag diese Frage wohl nicht zu beantworten, sondern leistete sich bei seinem Besuch bei der Truppe lieber einen weiteren Lapsus, zweifelte er doch ihre Einstellung an. Immerhin wurde er danach von einem US-Offizier getröstet, der den üblichen Optimismus und den Glauben an den „Endsieg“ hochhielt, was der Bundespräsident dann den deutschen Soldaten zum Vorwurf machte, nämlich daß diese wohl nicht den richtigen Kampfgeist besäßen. Irgendwie erinnert das schon fast an die berüchtigte „Hunnen-Rede“ Wilhelms des Zwoten, der anläßlich des Boxeraufstands in China einst von „Pardon wird nicht gegeben.“ sprach.
All dies riecht (nicht nur für den Autor) nach Neokolonialismus oder „Kolonialismus 2.0″, denn die „Kanonenboote“ schippern längst wieder vor dem Horn von Afrika und anderen Küsten herum, auch wird eine vermeintliche Einigkeit der westlichen „Kulturmächte“ propagiert, die doch schon zunehmend brüchig erscheint, da die – wie manche Autoren es nennen – „Verteilungskämpfe“ begonnen haben und jeder sich da selbst der Nächste ist. „Sicherung der Nachschublinien“? Kampf gegen den Terror“? Terreur? Quel terreur? Der, den wir verbreiten, oder der, der auf uns zurückfällt, da wir an anderen Orten der Welt mit Gewalt die „Grundlagen unserer Gesellschaft“ zu sichern versuchen? Die Zeiten werden zunehmend wieder „interessant“ …
Anmerkung Guardian of the Blind:
Das Original-Zitat von Köhler aus dem Interview lautet:
Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern , die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.
Es muss wohl kaum erwähnt weden, dass diese Aussage des Bundespräsidenten allen Maßstäben des Gundgesetzes und des Völkerrechts, ja allen Vorstellungen von Menschenechten überhaupt diametral widerspricht. Das Militär soll weltweit eingreifen, Menschen müssen sterben für die Interessen des Kapitals, für das Wohl einer kleinen Oberschicht in ein paar Ländern. Durch Armut und Hunger in Folge ungerechter Handelsbeziehungen und fortgesetzter Ausbeutung, und durch die Hand von Soldaten. Die Wirtschaft soll nicht für den Menschen da sein, sondern der Mensch für die Wirtschaft. Er soll für sie leben, töten und sterben.
Genau diese Stelle hat Deutschlandradio übrigens aus der Audioversion des Interviews nachträglich entfernt (die vollständige Version ist aber noch online zu finden). Ein Schelm, wer böses dabei denkt!
Dieter Rulff singt in einem taz-Artikel, in dem es eigentlich um die Koalition in NRW gehen sollte (Rot, Rot, Grün und die Koalitionsfrage: Nur auf Bewährung), ein Loblied des “Dritten Weges”. Sprachlich in einem sehr merkwürdigen Stil und mit einigen unverständlichen Formulierungen und eigenwilliger Semantik verfasst, scheint der Artikel auf jeden Fall eher daraufhin ausgelegt, vordergründigen Eindruck zu schinden als inhaltlich zu überzeugen. Der ganze Artikel versucht, sich die – für viele gescheiterte – “Neue Mitte”-Politik noch einmal, sich selbst seiner Richtigkeit versichernd, schönzureden. Dies, indem er neben der Verwendung von rhetorischen und auf positiven Emotionen abzielenden Mitteln, die negativen Seiten des Dritten Weges ausblendet oder sie einfach als diesem nicht anzulastend auf andere schiebt. Dabei schlägt er alle möglichen Fortschritte andererseits dem Dritten Weg zu, merkt jedoch wohl gar nicht, wie er sich selbst in Widersprüche verwickelt.
Nun ist diese Mitte kein sozialer Ort, sondern markiert die Deutungshoheit über Diagnose und Behandlungsweise gesellschaftlicher Probleme. Insofern war die Übertragung von Anthony Giddens Politik jenseits von rechts und links auf deutsche Verhältnisse der zunächst erfolgreiche Versuch der SPD, die Stagnation der Ära Kohl zu überwinden.
Was Rulff zu dem ersten Satz bewegt hat, weiß wohl nur Rulff. “Politik jenseits von links und rechts” ist natürlich ein Schlagwort, es ist aber kaum zutreffend. Im Grunde ist die Politik von Anthony Giddens ein in der Tat in ihren Grundvorstellungen und -ideen (der Begriff wird hier bewusst nicht als Schlagwort gebraucht) eine, wenn auch gemäßigte und sozial ausstaffierte, neoliberale Politik. Die Grundzüge dieses Weges, und damit soll den Anhängern dieser Politik kein Unrecht widerfahren, sind weg vom “vorsorgenden”, hin zum “aktivierenden” Wohlfahrtsstaat, weg von der Sozial-, hin zur Bildungspolitik, weg von der sozialen, hin zur Chancengleichheit orientiert. Der Staat soll in diesem Konzept von vorneherein dafür sorgen, dass Armut nicht entstehen kann, indem er allen eine möglichst gute Ausbildung gewährt, und im Falle von Arbeitslosigkeit sollen die Betroffenen schnell wieder eine neue Beschäftigung finden.
Diese Punkte sind ja zweifelsohne begrüßenswert, aber sie sind nicht auseichend, sondern nur ein Ausschnitt dessen, wofür die Sozialdemokratie seit je her eingetreten ist. Sie sind die Punkte, auf die sich auch Liberale und Neoliberale einlassen, denn mit einher gehen die Vorstellungen, dass ein Wohlfahrtsstaat, der (z.B. bei Arbeitslosigkeit) für eine ausreichende Existenzsicherung sorgt, den Ansporn, sich eine neue Arbeit zu suchen, mindert, die Menschen in Arbeitslosigkeit verharren lässt usw. (hier wurden die neoliberalen Vorstellungen zu diesem Thema übernommen). Man ist ausschließlich selbstverantwotlich und der Staat nur dazu da, “unverschuldet in Not geratene” (und das gilt bei Arbeitslosigkeit nicht) abzufangen und bei Arbeitslosigkeit gerade noch den Lebensunterhalt zu sichern, dies aber verbunden mit einer Arbeitspflicht (Workfare). Zudem, und hier ist der größte Bruch mit der Sozialdemokratie, sei soziale bzw. Verteilungsgerechtigkeit schädlich, da sie Anreize mindere. Daüber hinaus wird dem Staat keine Rolle im Wirtschaftsablauf eingeräumt, er soll sich möglichst weit zurückziehen und möglichst viele Bereiche der Gesellschaft den Marktmechanismen überlassen.
Die Umsetzung von Giddens Politik besteht daher neben dem Ausbau der Bildungseinrichtungen in erster Linie aus der Senkung von Sozialleistungen, der Verbindung von Arbeitslosengeld mit der Pflicht zu nicht oder niedrig bezahlten öffentlichen Tätigkeiten, umfangreichen Privatisierungen und Deregulierungen und dem Ende von umverteilenden Maßnahmen, z.B. durch die Senkung von Unternehmens- und Spitzensteuern. Im Grunde ist das viel bejubelte Konzept von Giddens das, was eine wirtschaftsliberale Partei fahren würde, wenn sie ehrlich und frei von Klientelinteressen wäre, plus noch Gesundheitsversorgung für alle (denn diese sollte – auch bei Giddens – nicht vom Einkommen abhängen), versehen mit einem sozialdemrokatischen Etikett. Es ist eine Ideologie der Chancen und der Eigenverantwortung, es misstraut den Vorstellungen der Gleichheit und der sozialen Sicherheit. In ihm ist der Mensch egoistisch und auf sich alleine gestellt, in ihm gibt es keine Solidarität.
Unterschieden sich die politischen Ansätze unter Kohl und Schröder im wirtschaftlichen und sozialen Bereich inhaltlich auch nicht so sehr, so geht Rulff auf das Tempo der Umsetzung ein und besetzt dieses positiv, so, wie der ursprünglich positiv assoziierte Begriff “Reform” als Schlagwort für Sozialabbau-Gesetze inflationär gebraucht wurde. Stagnation bedeutet in diesem Falle eher, dass die Sozialabbau-Maßnahmen nicht in einem ganz so atemberaubenden Tempo duchgeführt wurden wie insbesondere nach der Agenda 2010. Aber – durch den Satz soll natürlich die Assoziation mit der muffigen Kohl-Ära geweckt werden, die erst durch den frischen Wind der rot-grüne Koalition abgelöst wude. Das ist sicher bei vielen Gebieten, zutreffend aber nicht bei der Umsetzung der Dritten-Weg-Maßnahmen. Damit sollen positive Erinnerungen verbunden werden, alles, was Rot-Grün Positives rhervobrachte, ist natürlich dem Dritten Weg zu verdanken. Auch hier ist dieses rhetorische Mittel klar:
Vier strukturelle Veränderungen markierten diese Politik: Das “Modell Deutschland” der Unternehmensverflechtungen und des Korporatismus wurde für die globalisierte Wirtschaftsstrukturen geöffnet, die Energiewende sowie eine Einwanderungspolitik wurden eingeleitet und der Arbeitsmarkt von der Statussicherung auf Aktivierung umorientiert.
Die Öffnung der Deutschland-AG muss man von zwei Seiten betrachten. Einerseits führte sie zum Abbau von Seilschaften, Vetternwirtschaft und kartellartigen Absprachen. Andererseits war das Mittel dafür die Liberalisierung der Finanzmärkte. Den Abbau von Mitbestimmungsrechten und die Schwächung der Tarifparteien als Öffnung für die globalisierte Wirtschaft (der sich vemeintlich alles und jeder unterordnen muss) zu verkaufen, erfordert schon viel Phantasie. Energiewende und Einwanderungspolitik haben nun wirklich nichts mit dem Dritten Weg zu tun. Die Umwandlung der Arbeitslosenversicherung (und nicht des Arbeitsmarktes) allerdings schon. Doch was bedeutet “Statussicherung” und “Aktivierung”? “Statussicherung” meint, dass die Sozialleistungen zumindest auf einem ähnlichen Niveau wie der vorherige Verdienst sind, also einkommensabhängig. “Aktivierung” klingt gut und wäre es wohl auch, wenn damit mehr Weiterbildungsmaßnahmen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik verbunden wären, beinhaltete aber in Deutschland nur eine Senkung dieser und bestand fast nur aus gesenkten Sozialleistungen und der Pflicht zur Annahme fast jeder Arbeit, mit der Drohung, sonst unter das Existenzminimum zu fallen.
Letzteres gilt noch heute in der SPD als Sündenfall und als Geburtsstunde der Linken. Dabei erwies sich das Konzept, wie das Beispiel der nordeuropäischen Staaten und die Entwicklung des Arbeitsmarktes zeigen, als richtig, der Staat versagte (und versagt) allerdings bei der Betreuung, Vermittlung und vor allem bei der Qualifizierung der Arbeitslosen.
Genau hier liegt der Punkt: In Dänemark und Schweden etwa sind Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sehr hoch. Das Arbeitslosengeld in Dänemark liegt auf dem zweithöchsten Niveau OECD-weit – nach den Niederlanden, die ein ähnliches Modell haben. In beiden Staaten, gefolgt von Schweden, sind zudem die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik mit Abstand am höchsten. Gerade dadurch konnten enorme beschäftigungspolitische Erfolge in diesen Ländern erzielt werden, und dazu eben ein sehr hohes Maß an sozialer Sicherheit und eine sehr egalitäre Einkommensverteilung. Siehe auch: Europäische Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt: Flexibilität und Sicherheit sind vereinbar. Der Dritte Weg jedoch ist nur Flexibilität, jedoch ohne Sicherheit.
Auf die dabei aufgeworfene Gerechtigkeitsfrage konnte die Regierung Schröder schon deshalb keine glaubwürdige sozialdemokratische Antwort mehr geben, weil sie zuvor bei der Unternehmens- und Einkommenssteuerreform ohne strukturelle Notwendigkeit eine massive Umverteilung nach oben vorgenommen hatte. Das hatte wenig mit dem Dritten Weg, aber viel mit neoliberalem Zeitgeist-Opportunismus zu tun (…)
Den Dritten Weg könnte man durchaus mit guten Gründen als einen eindeutig neo-liberalen betrachten. Ein Ende der Umverteilung ist dabei durchaus ein Schritt auf dem Dritten Weg.
Mit dem vorläufigen Scheitern des FDP-Steuerkonzeptes ist die neoliberale Angebotspolitik in die Defensive geraten. Das bedeutet jedoch nicht, dass nun wieder eine klassische Nachfragepolitik zum Zuge kommt. Eine linke Politik, die jeden Akt des Konsums mit dessen vermeintlich wirtschaftsfördernder Kraft legitimiert, wird schnell mit deren begrenzter Wirkung in einer entgrenzten Welt konfrontiert sein – wie es sich zuletzt an der Abwrackprämie erwiesen hat.
Angebotspolitik ist neoliberal, und wird deshalb auch im “Dritten Weg” verfolgt. Und – der Fairness halber: selbstverständlich ist nicht jeder “Akt des Konsums” zu begrüßen. Die Abwrackprämie ist in der Tat fraglich (einseitige Subvention einer bestimmten Branche usw.), aber konjunkturell erfolgreich war sie ja zumindest. Mittel wie höhere Sozialleistungen und Löhne, sowie öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen wären aber eher zu begrüßen. Dass diese die in Deutschland extrem niedrige Binnennachfrage insgesamt erhöhen und für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen würden, kann auch nicht mit dem verbrauchten Argument von der globalisierten Weltwirtschaft und den “Grenzen nationalstaatlicher Politik ” (fehlt nur noch das “konjunkturpolitische Strohfeuer”) bestritten werden.
Rulffs Beitrag ist einer, wie man sie um die Jahrtausendwende zu Hunderten gelesen hat. Einer, der eine Politik des Dritten Weges rechtfertigen, ihren Kern eines neoliberalen Umbaus der Gesellschaft verschleiern und verhüllen will (und sich sogar des Wortes “neoliberal” bedient, um die negativsten Aspekte dieses Modells einer angeblich anderen Richtung anzulasten). Er wirft mit Buzz-Words und Standardfloskeln um sich und kann dennoch hinter allen hochtrabend klingenden Formulierungen nicht verstecken, was er wirklich ist: der Ausdruck eines zeitgeistig-opportunistischen Gesinnungswandels, wie ihn der ehemalige Marxist Giddens mustergültig vorexerziert hat.