Der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit als Totschlagargument

In der Diskussion zum vorherigen Artikel zu den vergangenen Volksabstimmungen kamen Argumente auf, dass deren Ergebnisse verfassungswidrig seien. Das dreigliedrige Schulsystem sei etwa verfassungswidrig, da Kinder von der Bildung ausgeschlossen würden, das Nichtraucherschutzgesetz in Bayern, da die freie Entfaltung der Persönlichkeit eingeschränkt würde, ohne dass dies durch den Schutz von Anderen ausreichend begründet würde.

Ich halte diese Argumente für nicht sehr tragfähig, und v.a. unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten für nicht zielführend oder angemessen. Man kann Entscheidungen auch politisch ablehnen, ohne ihnen zwanghaft eine Verfassungswidrigkeit andichten zu müssen. Die politische Linke täte gut daran, den Vorwurf der Verfassungswidrgkeit nicht als allgegenwärtiges Totschlagargument zu benutzen – wie es von rechts häufig genug getan wird, wie heute mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, dass die Partei Die Linke weiter vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf. (more…)

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Die deutsche Bildungspolitik als ein Mittel zur Sicherung von Egoismus, Konkurrenzdenken und gesellschaftlicher Ungleichheit

In Hamburg ist die Schulreform, mit der eine sechsjährige Primarschule ermöglicht werden sollte, gescheitert. Obwohl es eine breite Unterstützung der politischen Parteien, von der Linken bis zur CDU, gab, wurde sie in einem Volksentscheid abgelehnt. Wie kann man dies erklären und deuten? Ein sehr guter Ansatz bietet sich bei Telepolis: Niederlage für eine solidarische Gesellschaft

Das ist eine Absage an eine Schulpolitik, die davon ausgeht, dass die “stärkeren” Schüler die “schwächeren” beim Lernen unterstützen können und alle davon profitieren. Zur Bildung gehört nach dieser Lesart auch das Ausbilden von sozialen Kompetenzen, wie Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Zu Zeiten der Bildungskämpfe der siebziger Jahre waren solche Werte in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet. Das ist aktuell nicht mehr der Fall. So liegt das Hamburger Ergebnis ganz im Trend einer Gesellschaft, in der das Prinzip “Jeder ist seines Glückes Schmied” und “Der Schwache ist selber schuld und soll den anderen nicht zur Last fallen” zum Dogma erhoben wurde . Im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten drückt sich diese Politik ebenso aus, wie in den Maßnahmen gegen Hartz IV-Empfänger und eben jetzt auch in der Bildungspolitik.

In einer Gesellschaft, in der es als normal gilt, wenn jeder mit jedem in Konkurrenz liegt, sorgen die Eltern dafür, dass damit schon im Schulalter angefangen wird. Ein solidarisches Lernen wird als Konkurrenznachteil für die eigenen Kinder empfunden […]

Dass “Volkes Stimme” wie in Hamburg gegen eine ganz große Parteienkoalition von Union, SPD, Grünen und Linkspartei, die sich für die Primärschule aussprachen, stimmte, kann nur verwundern, wer noch immer noch meint, dass “die da unten” oder auch “der kleine Mann” sozialer abstimmen als die politischen Parteien. Eine solche Vorstellung verkennt, wie stark die Idee der Ungleichheit und des Konkurrenzgedanken in großen Teilen der Bevölkerung Konsens sind.

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Der Rücktritt Köhlers: eine erste Analyse

Horst Köhler tritt also zurück, weil man seine Worte genauso verstanden hat, wie er sie gesagt hat: dass er Kriege Deutschlands für seine wirtschaftlichen Interessen befürwortet. Und das verstößt nun mal gegen das Grundgesetz. Und das Völkerrecht. Dies aufzuzeigen und zu kritisieren ist nicht nur notwendig in einer freiheitlichen Demokratie -wenn dies nicht geschieht, kann man wohl kaum von einer Demokratie sprechen. Ein “Respekt” vor einem Staatsamt, der bedeutet, solche furchtbaren Ansichten (auch wenn Köhler vielleicht nur etwas ausgesprochen hat, was viele in de Politik denken) einfach verschwiegen werden, würde sich wohl nicht mehr viel von einem blinden Gehorsam in einem autoitären System unterscheiden. Und bei diesen Äußerungen hätte die Kritik sogar noch deutlich härter ausfallen können. Dass die ganze Sache zuerst im Internet, in den Blogs, publik wurde und lange von den Mainstream-Medien ignoriert wurde, verdeutlicht deren wichtige und wachsende Rolle im öffentlichen Meinungsbildungsprozess.

Darüber, ob Köhler vielleicht in dem Interview etwas ausgesprochen hat, was er nicht wollte, kann im Moment nur spekuliert werden. Die Taktik der letzten Tage, dass er nur falsch verstanden wurde, war ein relativ erfolgloser Rehabilitationsversuch. Die Äußerungen waren deutlich genug: aus wirtschaflichen Interessen muss man Deutschalnd auch Kriege führen. Ob das jetzt speziell auf die Lage in Afghanistan bezogen war, war da eher eine Detaillfrage. Sicher hat Köhler jedoch festgestellt, dass er in einer öffentlichen Debatte, in der offen für Wirschaftskriege eingetreten wird, nur verlieren kann. Daher ist sein Rücktritt aus politischen Gründen nachzuvollziehen. Die Ursache aber ist der Inhalt seiner Äußerungen, sind seine Ansichten, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind und die ihn gerade für das höchste Staatsamt disqualifizieren. Wahrer Respekt vor dem Grundgesetz, und auch vor dem Amt eines Bundespräsidenten, zeigt sich gerade, indem man darauf beharrt, dass dieser zu den Kerninhalten der Verfassung stehen muss.

Freilich wird nun die Debatte über die Auslandseinsätze Deutschlands mit den üblichen Gründen weitergehen können und Köhlers Aussagen nur als “kleine Fehlinterpretation” dastehen. Deshalb gilt es, dieses Thema nicht zu vergessen, und darauf aufmerksam zu machen, dass am Horn von Afrika derzeit ein schon Krieg für die Wirtschaft des Nordens geführt wird. Köhler mag gegangen sein, aber der Inhalt seiner Äußerungen ist leider nur allzu wahr.

Link zum Thema:

Köhler erklärt Rücktritt (Oeffinger Freidenker)

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Zum Wahlausgang in Großbritannien

Die Wahl in Großbritannien ist also wie erwartet ausgegangen. Die Conservative Party errang zwar eine Mehrheit, diese ist aber nicht groß genug, um alleine die Regierung bilden zu können. Ob Labour oder Conservative Party, wer auch immer den Regierungschef stellen wird, wird nun auf die Unterstützung der Liberal Democrats angewiesen sein. Dies ist zu begrüßen – für Großbritannien und für Europa.

Die britischen Parteien

Dabei müssen wir beachten, dass das britische Parteiensystem kaum mit dem deutschen vergleichbar ist.

Die Labour Party etwa als Sozialdemokraten oder gar als Linke zu bezeichnen ist kaum zutreffend und höchstens irreführend. Seit Ende der 90er Jahre unter Tony Blair und den Konzepten von Anthony Giddens kann man Labour meiner Meinung nach nicht mehr als Sozialdemokraten bezeichnen. Von dem gemeinsamen Charakteristikum und der Tradition sozialdemokratischer und demokratisch-sozialistischer Parteien weltweit haben sie sich explizit verabschiedet, der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit) – sie wollen nur noch “Chancengerechtigkeit”. Umverteilung steht nicht mehr auf dem Programm. Die neoliberale Politik der Thatcher-Ära haben sie in der Grundtendenz fortgeführt, mit nur kleinen Verbesserungen. Umfangreiche Privatisierungen, tendenzieller Abbau der Sozialleistungen, keine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft, Förderung des Finanzmarktkapitalismus. Einzig auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik (trotz all der Klischees über das britische Gesundheitswesen) und in der Bildungspolitik (auch wenn man dort nicht einmal so weit ging, die Studiengebühren abzuschaffen – das wäre wohl zuviel Chancengleichheit) gab es weitreichende Verbesserungen. Und unter Gordon Brown gab es durchaus eine leichte Wende nach links in der Sozialpolitik. Noch drastischer allerdings war die Politik von Labour auf dem gesellschaftspolitischen Feld – in Großbritannien haben sie den wohl technisch fortgeschrittensten Überwachungsstaat der Menschheitsgeschichte aufgebaut. Die Einschränkungen der Bürgerrechte und der Freiheiten sind kaum aufzählbar.

So kam es, dass die Conservative Party paradoxerweise fast schon als eine sogar etwas liberalere Alternative auf diesem Gebiet schien. Allerdings unterscheiden sich die Positionen der beiden Parteien dort nicht sehr stark. Und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik würden die Tories durchaus einen großen Rückschritt hin in die Thatcher-Ära bedeuten, auch wenn dies Cameron immer wieder zu bestreiten versuchte. Die Pläne zur Wirtschaftspolitik, zur weiteren Einschränkung des Sozialstaats, zur Schulpolitik oder zum öffentlichen Dienst wären durchaus fatal. Zudem sind die meisten Mitglieder der Conservative Party in vielen Feldern nicht so fortgeschritten wie ihr Vorsitzender.

Die Liberal Democrats sind in der Tat eine Partei mit in vielen Fällen grundsätzlich anderen Positionen als Tories und Labour. Ich würde sie als klassisch liberale Partei bezeichnen, mit dem Schwerpunkt auf gesellschaftspolitischen Gebieten. Sie treten als einzige gegen den ausufernden Überwachungswahnsinn ein, waren als einzige gegen den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg. Wirtschaftspolitisch würde ich sie in der Nähe von Labour einordnen – also nicht marktradikal wie andere sich “liberal” nennende Parteien, aber auch nicht links. Dennoch traten auch nur sie für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte ein.

Die Green Party hat zwar den Einzug ins Parlament geschafft – aber nur mit einer Stimme. Die anderen dort vertretenen kleineren Parteien sind vor allem solche mit regionalen bis hin zu nationalistischen Interessen.

Das britische Wahlsystem

Zudem fordern die Liberal Democrats eine Reformierung des britischen Wahlsystems, und die ist dringend geboten. Denn das Mehrheitswahlrecht führt nicht nur dazu, dass kleinere Parteien systematisch benachteiligt werden (nur die, die einen Wahlkreis gewinnen können, erhalten ja einen Parlamentssitz), es sorgt für eine extreme Verzerrung der Stimmen (z.B. diesmal: Liberal Democrats: 22,9% der Stimmen, 8,8% der Sitze. Es gibt aber noch viel drastischere Fälle).

Die Wahl hat nicht nur die Grenzen des Mehrheitswahlrechts aufgezeigt, sondern dieses als ein Wahlsystem ohne auch nur einen einzigen positiven Aspekt dastehen lassen. Als vermeintlich positiver Punkt der Mehrheitswahl wird eigentlich nur aufgeführt, dass dieses zu “stabilen Mehrheiten” für eine Regierungspartei führe – das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wobei dieser Punkt für mich nie positiv war, da bei der Mehrheitswahl ja die Stimmenverteilung nicht der Sitzverteilung entspicht, nicht jede Stimme gleich viel zählt. Dies aber ist eine Grundforderung an eine demokratischen Wahl.

Welche Möglichkeiten bieten sich?

Welche Optionen stehen nun für eine Regierungsbildung offen und wie sind diese zu bewerten? Eine Neuwahl wäre ein Armutszeugnis. Auch wenn man sozusagen kaum Erfahrung mit Koalitionsregierungen hat, hat der Wähler so entschieden. Ob eine Neuwahl andere Ergebnisse bringen würde, wäre außerdem zweifelhaft. Eine Minderheitsregierung der Tories würde wohl kaum lange überleben.

Eine “Große Koalition” halte ich ebenfalls für schwer vorstellbar. Höchst wahrscheinlich werden die Liberal Democrats der entscheidende Faktor sein. Es wäre auf jeden Fall positiv zu bewerten, wenn diese in einer Regierung vertreten sind, vor allem, da die Bürgerrechte in Großbritannien endlich wieder auf das Niveau eines freiheitlichen Rechtsstaates gebracht werden müssen. Eine Einführung (oder wenigstens eine neue Entscheidung darüber) des Verhältniswahlrechtes wäre außerdem eine Bedingung der Liberal Democrats, ohne die eine Koalition mit ihnen schwer vorstellbar wäre. Als wahrscheinlichste Koalitionen gelten also (möglicherweise unter Einbeziehung anderer kleinerer Parteien – dies soll hier ausgelassen werden):

Conservative Party und Liberal Democrats: Für die Bürgerrechte wäre diese Koalition wohl wünschenswert. Hier wären die Konservativen wohl auch bereit, Zugeständnisse zu machen. Allerdings leidet Großbritannien neben der Unterdrückung der Rechte und Freiheiten auch immer noch unter den Folgen des Marktextremismus der letzten Tory-Ära. Das Sozialsystem, die öffentliche Daseinsfürsorge, das Gesundheitssystem dürfen keineswegs noch weiter eingeschränkt werden. Dies wäre aber unter den Konservativen zweifelsohne zu erwarten, schon im Wahlkampf wurden genug Sozialabbau-Maßnahmen angekündigt, und Cameron hat auch angekündigt, dass sich dort wenig Verhandlungsmöglichkeiten ergeben.

Labour und Liberal Democrats: Solle Labour in der Lage sein, mit den Liberal Democrats eine Koalition zustande zu bekommen, und würden sie umfangreiche Zugeständnisse an diese in gesellschaftspolitischen Feld machen, kann das für alle nur von Nutzen sein, und Labour könnte sich vielleicht eher wieder auf seine alten, durchaus ehrhaften Wurzeln besinnen. Auch auf wirtschafts- und sozialpolitischem Feld wären Verbesserungen im Vergleich zur Alleinregierung von Labour zu erwarten, insbesondere bei der Regulierung der Finanzmärkte. Bisher ist Großbritannien zusammen mit Deutschland bei dieser Frage ein hartnäckiger Blockierer und ein Hemmnis für welt- oder wenigstens europaweites Vorgehen. Auch in der EU würde eine eher sozialliberale britische Regierung vielleicht (eventuell zusammen mit der eher gemäßigt-konservativen französischen Regierung) eine Gegenmacht bilden können zum marktradikalen Hardliner-Vorpreschen der deutschen Regierung. Und auch bei der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten ist die EU ja ganz vorne mit dabei, bisher unter einem großen Einfluss der britischen Regierung.

Sicher wäre dies insgesamt keine wirklich gute Regierungskonstellation, aber wohl die bestmögliche. Wir sollten also für Großbritannien und auch für Europa hoffen, dass nicht wieder eine liberale Partei zur Umfallerpartei und zum Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen wird.

[Auch erschienen beim binsenbrenner.de.]

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TV-Tipp: Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?

Sehr sehenswert war die letzte Ausgabe von Quarks & Co “Nackt aber sicher? Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?” (Video).

Dort berichtet Andrej Holm über die Umstände seiner Verhaftung als angeblicher “Terrorist” und es wird klar gemacht, wie die sogenannten “Anti-Terror-Gesetze” zu einer Gefahr für den Rechtsstaat und die Freiheit geworden sind. Eine viel unmittelbarere und realere Gefahr als die, vor die sie angeblich schützen sollen. Denn, auch das zeigt die Sendung sehr gut, es ist ein psychologisches Phänomen, dass  relativ große Risiken oft als geringer empfunden sind, als sie tatsächlich sind, und solche Bedrohungen oft die größte Angst verursachen, die in Wirklichkeit sehr gering oder gar nicht vorhanden sind. Dieser Angst wird ausgenutzt und gezielt geschürt:  zum Ausbau von immer mehr Maßnahmen und Gesetzen zur Überwachung und zum Entzug von Freiheit und Bürgerrechten. Angeblich soll dies der Sicherheit dienen, auch wenn das, wie die Sendung zeigt, bei fast allen diesen Maßnahmen nicht der Fall ist. Die Frage im Titel ist also eigentlich nicht wirklich richtig gestellt. Sie sollte eher lauten: wie stark wollen wir unsere Demokratie noch beschneiden für eine nur vermeindliche Sicherheit?

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Die Extremismustheorie: demokratiegefährdend

Alex Demirović (ein Vertreter der Kritischen Theorie) und Paulina Bader verdeutlichen im Freitag, was das Extremismus-Schema für den Kampf für die Demokratie und gegen den Rechtsextremismus bedeutet. Sie zeigen, wie diese Theorie demokratiefeindiche Maßnahmen oder Rassismus beschönigt, wenn diese aus der “Mitte” kommen und wie der Staat teilweise gegen diejenigen vorgeht, die die Demokratie gegen den Rechtsextremismus verteidigen wollen  (wie aktuell etwa Kristina Köhler mit Hilfe der Medien Anti-Rechts-Initiativen unter den Generalverdacht des “Linksextremismus” stellt oder wie der Protest gegen den Naziaufmarsch in Dresden kriminalisiert wird).

Das Extremismus-Schema, das die Demokratie schützen soll, erweist sich als demokratiegefährdend. Diejenigen, welche die gegenwärtige Form der Demokratie für unzureichend halten, werden als Extremisten mit den Rechten gleichgesetzt und von den braven Demokraten geschieden. Diese werden erleichtert zur Kenntnis nehmen, dass sie sich besser nicht für die Demokratie einsetzen. Leicht angeekelt können sie aus der Distanz auf das Schauspiel der „Extremisten“ schauen. Demgegenüber wird denjenigen, die für Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Mitteln des offenen und öffentlichen Protests und des zivilen Ungehorsams eintreten, das Fürchten gelehrt und mit den Mitteln hoheitlicher Gewalt beigebracht, dass nicht die Bürger, sondern der Staat entscheidet, was Demokratie und wer ein guter Demokrat ist. So muss man sich fragen, was wir in unserer Gesellschaft gerade treiben, wenn diejenigen, die bereit sind, mit Leib und Leben, mit ihren häufig knappen Ressourcen für das demokratische Gemeinwohl einzutreten, damit rechnen müssen, beschimpft und beleidigt, von der Staatsanwaltschaft verfolgt, von der Polizei im Namen der Demokratie zusammengeschlagen, schließlich mit denjenigen auf eine Stufe gestellt zu werden, die den rassistischen Massenmord und den Expansionskrieg, den der deutsche Staat vor nur wenigen Jahrzehnten organisiert hat, verteidigen und verherrlichen – anstatt dass ihnen von öffentlicher Seite alle moralische und materielle Unterstützung gewährt wird.

Ach, apropos, auch sehr lesenswert ist ein Interview  in der Frankfurter Rundschau mit dem Historiker Erich Später über den Bund der Vertriebenen:

Und worum geht es wirklich?

Darum, eine alternative Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus aufzubauen. Das Zentrum unter Federführung des BdV soll die Sicht der deutschen Rechten manifestieren. (…)

Die Deutschen in der Opferrolle?

Ja, es ist ja die Leistung Erika Steinbachs, den Diskurs der deutschen Rechten an die internationale Menschenrechtsdebatte angeglichen zu haben: Man redet nicht mehr von Polacken, von asiatischen Horden, vom Vernichtungskrieg gegen Deutschland – die Vertriebenen sind jetzt Opfer der Weltgeschichte, von unmenschlichen Regimes, von einer seit Jahrtausenden stattfindenden Politik der Vertreibung. Der Zweite Weltkrieg verliert seinen historischen Ort; er wird zu einem Ereignis unter vielen in einer Kette von weltgeschichtlichen Verhängnissen. Der Massenmord an den Juden versinkt im Meer der Geschichte. (…)

Es war auffällig, was in den Ausstellungen unter den Tisch fiel: Die Rolle der deutschen Minderheiten für die nationalsozialistische Expansionspolitik, die Beteiligung der ostdeutschen Volksgemeinschaft an der Shoa, das Leid der Sowjetunion. Die Deutschen erscheinen hier als Opfer der Nazis und der Alliierten; die Ostgebiete sind dargestellt als friedliche Idyllen, in die ein barbarischer Feind einbricht

Und wie sieht es aktuell aus? Laut vorläufigen Erkenntnissen der Polizei (die in den vergangenen Jahren später stets massiv nach oben korrigiert wurden – der BKA-Präsident erwartet etwa 20.000) haben Rechtsextreme im vergangenen Jahr mehr als 16.133 Straftaten begangen, darunter 678 Gewalttaten, 658 Menschen wurden verletzt. Die Polizei ermittelte 8269 Verdächtige. 278 wurden vorläufig festgenommen. Haftbefehle ergingen gegen 19.

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Ist die Linke verfassungsfeindlich?

Das Bundesverfassungsgericht beschrieb 1952 die freiheitliche demokratische Grundordnung  folgendermaßen:

„Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ist der Schutz dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung, daneben der Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. (Und auch Vertreter der Extremismustheorie und ihr Nahestehende behaupten ja gerne, dass bei ihnen Extremismus lediglich eine Einstellung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bedeute.) Nun sehen das aber leider manche der dort Arbeitenden offensichtlich als nicht ausreichend an:

„Wer die Linken als naive Spinner sieht, unterschätzt sie. Denn das, was sie sagen und wollen, ist mit den Werten des Grundgesetzes nicht vereinbar“,

so der der stellvertretende Leiter des Landesverfassungsschutzamtes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Freier im Focus. Nein, nicht nur naive Spinner sind bei der Linken – “das ist ja schon mal klar!” oder wie – es gibt auch Hinweise für den Verdacht auf linksextremistische Bestrebungen, und gar solche, dass die Linken die freiheitliche demokratische Grundordnung durch eine andere Ordnung ersetzen wollten. Harter Tobak, in der Tat. Ist die Linke etwa für Gewalt, gegen die Menschenrechte? Für eine Willkürherrschaft, gegen den Rechtsstaat? Gegen Freiheit, Gleichheit oder Demokratie? Was meint Freier?

Dazu gehöre die Forderung nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die ablehnende Haltung zu Privateigentum. Verstaatlichen ohne Entschädigen sei grundgesetzwidrig.

Eine, sagen wir mal, mindestens eigenwillige Rechtsauffassung. Das BVerfG spricht zwar nirgendwo explizit von Privateigentumsrechten, doch schauen wir einfach mal ins Grundgesetz. Das Recht auf Eigentum als Grundrecht ist dort in Artikel 14 folgendermaßen spezifiziert:

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Und wie steht nun die Linke in Nordrhein-Westfalen zu dem Ganzen?

Zu (1): Die Linke spricht sich offensichtlich nicht gegen das Eigentum im Allgemeinen aus, sondern nur gegen das an bestimmten Produktionsmitteln, nämlich den wichtigsten Schlüsselindustrien. Eine Schranke, die allgemein durch Gesetze festgelegt werden kann.

Zu (2): Hier kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die Linke die Bestimmung des Grundgesetzes ernster nimmt, als es derzeit alle anderen Parteien tun.

Zu (3): Was sagt die Linke hier genau? In ihren “Positionen zur Landespolitik” schreibt sie (S. 8f.):

Wir streben die Kontrolle von Schlüsselbereichen der Wirtschaft durch die öffentliche Hand an. „Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten“ (Artikel 27 der NRW-Landesverfassung). Wir lehnen die Privatisierungspolitik von Bund, Land und Kommunen ab und fordern die Rückführung des bereits Privatisierten in öffentliches Eigentum. Das Eigentum der Kommunen und des Landes an Wohnungen sind zu erhalten, Wasser-und Stadtwerke sind zu rekommunalisieren und die wirtschaftslenkende Rolle der öffentlichen Hand ist wieder auszubauen.

Im Bereich der Schlüsselindustrien gibt es in der Tat viele Möglichkeiten der Argumentation, dass diese dem Wohle der Allgemeinheit dienen würde, sowohl in sozialer (öffentliche Daseinsfürsorge, gemeinwohlorientierte Nutzung, Versorgung der Bevölkerung, Sozialstaatsgebot) wie in wirtschaftlicher (Auflösung von privaten Monopolen, weniger Ressourcenverschwendung, Vorteile dadurch, dass Gewinne reinvestiert werden oder der Gesellschaft zu Gute kommen, statt in private Geldbeutel oder Spekulationen zu fließen) Hinsicht. Natürlich kann man solche Argumentationen ablehnen, etwa die Priorität bei der wirtschaftlicher Freiheit vor egalitären Prinzipien sehen, auf Kostensenkungen durch den Wettbewerb von privaten Anbietern, Effektivitätssteigerungen, stärkere Flexibilität und technische Erneuerungsfähigkeit hinweisen. Dies sind aber politische und ökonomische Erwägungen und Debatten, keine rechtlichen. Zudem waren politische Meinungen wie die, dass Wasser- und Stadtwerke in öffentlicher Hand sein sollten und der Staat eine lenkende Rolle in der Wirtschaft haben soll, mindestens bis zur neoliberalen Wende 1982 sozusagen Mainstream in der deutschen Politik. Also wären etwa auch Helmut Schmidt, Heiner Geißler oder gar Helmut Kohl (denn ich glaube, selbst er wäre dafür, dass der Staat die Wasserversorgung übernimmt) gefährliche Linksextremisten.

Wie sieht es mit der Entschädigung aus? In der Tat, diese wird hier nicht angesprochen. Aber: die Überführung in öffentliches/ Gemeineigentum, mit der zweifelsohne Enteignungen einhergehen, darf ja laut den Buchstaben des Grundgesetzes “nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt”. Selbst wenn man der Linken unterstellen wollte, sie wolle enteignen, ohne zu entschädigen, dürfte sie dies gar nicht. Und dass sie dies, also gegen die Verfassung verstoßen, wolle, soll Freier doch mal zeigen. Dies wäre für die Linke ja nicht nur politisch ein Harakiri-Unternehmen, sondern schlicht illegal. Und egal, als wie “naive Spinner” manche sie ansehen mögen – so “naiv”, so dumm, so, ja man muss es sagen, verrückt, sind sie sicher nicht.

Also, man muss die wirtschaftlichen Vorstellungen der Linken nicht teilen, man kann sie politisch oder wirtschaftlich ablehnen, man kann sie als unvernünftig, gar als gefährlich bezeichnen.  Was sie jedoch wohl kaum sind: gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen die Verfassung gerichtet. Die wirtschaftsliberale und neokonservative Seite sollte einer politischen Diskussion aber nicht ausweichen, weil sie vielleicht für sie unangenehm werden könnte und indem sie andere politische Meinungen als extremistisch zu deklarieren versucht, wenn sie es nicht sind. Der Verfassungsschutz NRW aber will die Partei Die Linke “intensiv beobachten”.

NACHTRAG: Natürlich sei hier auch noch Artikel 15 GG erwähnt:

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Dieser Artikel ist auch auf binsenbrenner.de erschienen.

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Soll der Kampf gegen den Rechtsextremismus kriminalisiert werden? (UPDATE)

Tausende Exemplare dieses Plakats wurden beschlagnahmt

“Gemeinsam blockieren”, heißt es auf den Protest-Plakaten gegen den größten Naziaufmarsch Europas in Dresden am 13. Februar. Darunter die Logos von Grünen, Attac, Piratenpartei, der Linken, Gewerkschaften und anderen Gruppen. Doch was für Nazi-Gegner eine Selbstverständlichkeit ist, klingt nach Ansicht der Sicherheitsbehörden nach einem Aufruf zu Straftaten. Am Dienstagmittag durchsuchten die Polizei daraufhin in Dresden die Landesgeschäftsstelle der Partei die Linke, in Berlin traf es ein Ladengeschäft linker Gruppen. Tausende Plakate, Flyer und Sticker wurden beschlagnahmt. Aber auch Computer nahmen die Beamten mit.

“Die Polizei möchte offenbar unseren Protest im Keim ersticken. Das wird ihr aber nicht gelingen – im Gegenteil. Stattdessen werden die Behörden der Öffentlichkeit erklären müssen, warum ihnen der reibungslose Ablauf des größten Neonazi-Aufmarschs so am Herzen liegt”, sagte Lena Roth, Sprecherin des Bündnisses.

Der ganze Beitrag: Zeit Online Störungsmelder: Polizei geht gegen Dresden-Plakat vor

Der Kampf gegen den Rechtsextremismus, für Freiheit, Toleranz und Demokratie wird kriminalisiert? Sollten die öffentlichen Stellen und die staatliche Gewalt diesen nicht so gut sie können unterstützen, sollten sie nicht die Courage fördern, gegen den menschenverachtenden Faschismus und Rassismus auf die Straße zu gehen? Stattdessen werden die Organisatoren (aus juristisch höchst zweifelhaften Gründen) mit Repressalien überzogen.

Achja, die neue Bundesfamilienministerin Kristina Köhler hat ja “erkannt”, dass die wahren Gefahren ganz woanders herkommen – nämlich von linksextremistischer und islamistischer Gewalt (vor nicht allzu langer Zeit sprach sie auch von angeblicher deutschenfeindlicher Gewalt von Ausländern in Deutschland) und weitet die Programme gegen Rechtsextremismus dementsprechend aus, trotz der Warnungen von unterschiedlichsten Seiten, dass sie damit Rechts- und Linksextremismus gleichsetzt (Michael Sommer), die beschämende Zahl der Todesopfer rechtextremistischer Gewalt vergisst (Claudia Roth) und aus ideologischen Gründen die Gefahren durch Rechtsextremismus unterschätzt (SPD-Innenexperte Sebastian Edathy). Die innenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion Ulla Jelpke sagte, die Bundesregierung wolle kapitalismuskritisches und antifaschistisches Gedankengut ächten. Stellt Dresden dafür den Anfang dar? (20. Januar 2010)

UPDATE (23. Januar 2010):

Man geht  nun offensichtlich in die nächste Runde: nachdem Jugendliche und sogar Bundestagsabgeordnete, die die Plakate aufhängten, verhaftet wurden, hat nun das LKA Sachsen dem Provider der Internetseite Dresden-Nazifrei.de eine Verfügung zugestellt, die die Abschaltung der Seite fordert, da über diese angeblich zu Straftaten aufgerufen werde. Damit meinen sie den Mut zu zivilem Ungehorsam, sich Nazis in den Weg zu stellen. Doch ist fraglich, ob sie ihr Ziel erreichen, diesen zu kriminalisieren, mit Razzien, Verhaftungen und Verboten immer mehr ein Klima der Angst vor Zivilcourage zu schaffen, wo man irgendwann gar nicht mehr auf Demonstrationen geht, wo Blockaden Gewalt sind und man gleich in den Verdacht gerät, linksextremer Terrorist zu sein, nur weil man gegen Rechtsextreme demonstriert – oder sie nicht in Wahrheit eine noch größere Mobilisierung verursachen.

Und wer immer noch der Meinung ist, dass die Verbeitung von Rassimus und Antisemitismus, die Bekämpfung von Freiheit und Menschenrechten irgendetwas mit Meingsfreiheit zu tun hat, dem sei dieser Artikel empfohlen: Nazis und die Meinungsfreiheit.

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Twitter – mehr als nur ein Kaffeekränzchen

Nun sind also auch die Blogger-Kollegen Jens Berger und Frank Benedikt bei Twitter gelandet. Ich bin dort unter dem Account @H0MERSIMPS0N auch seit Mai letzten Jahres vertreten – etwas länger, als es dieses Blog gibt. Doch wozu das Ganze?

Twitter, oder andere Mikroblogging-Dienste wie Identi.ca, bieten – im Gegensatz zu dem Eindruck, der durch die meisten Erwähnungen in der Mainstream-Presse erweckt wird – in der Tat mehr Möglichkeiten, als solche weltbewegenden Meldungen wie “Ich trinke Kaffee.” oder “Ich trinke Tee.” an die Öffentlichkeit zu bringen. Und auch politische Tweets (so nennt man die Statusmeldungen bei Twitter) müssen nicht so aussehen wie “Auf dem Weg zur FDP-Ortvereinsvorstandssitzung Wanne-Eickel” und “Zurück von der FDP-Ortvereinsvorstandssitzung Wanne-Eickel”. Man kann Mikroblogging so nutzen (da ist ja auch nichts gegen einzuwenden) – muss man aber nicht.

Denn: das, was man bei Twitter liest, ist von den Nutzern abhängig, denen man folgt, die Gestaltung der Inhalte, für die diese neuen Technik das Medium bietet, kommt von den Usern selbst. Und so kann man Twitter durchaus sehr gewinnbringend nutzen.

Ich verwende Twitter v.a. zum Austausch von Links und Hinweisen auf z.B. interessante Zeitungsartikel oder Blogbeiträge. Die Hinweise sind bei Twitter gebündelter, aktueller und leichter weiterzuverbreiten, als wenn man sie z.B. über Verlinkungen in verschiedenen Blogs bezieht – und, nutzt man Mikroblogging zusätzlich zum eigenen Blog, kann man dieses besser für eigenene inhatliche Beiträge nutzen. Das Mikroblogging bietet die technische Ausstattung für extrem schnelle und zeitnahe Meldungen über Ereignisse, meist schneller als Webseiten, Blogs oder Feeds. Außerdem nutzen ich Twitter auch, um kurze Kommentare, zu diesen Artikeln, zu politischen Vorgängen usw., zu lesen und natürlich auch selbst zu geben. Möglich ist zudem die direkte Kommunikation der Twitterer untereinander. All dies sind für mich Faktoren, die Mikroblogging zu mehr als eine bloßen Spielerei mit banalen Inhalten zum Zeitvertreib machen können.

Die gerne als “Web 2.0” bezeichneten Möglichkeiten der neuen Technologien wie Blogs und wie Twitter bieten die Möglichkeit, politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Autoritäten und Hierarchien immer besser zu hinterfragen und zum Einsturz zu bringen und zu einer Demokatisierung der gesellschaftlichen Kommikation beizutragen – und das sollte doch jede Skepsis gegenüber “neumodischer Technik” übertrumpfen. 😉

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Eingesperrt ohne Verdacht – der deutsche Rechtsstaat 2009?

Juli Zeh und Rainer Stadler schreiben im Süddeutsche Zeitung Magazin über den Fall eines marrokanischen Studenten, der während des Oktoberfestes ohne Verdacht inhaftiert wurde. Dieser Bericht zeigt wiedermal, wie weit die Bürgerrechte in Deutschland schon mit Hilfe einer Terror-Panik abgebaut wurden und wie weit die fundamentalsten Grundsätze des Rechtsstaats missachtet, umgedreht oder pervertiert werden:

Um ihren massiven Eingriff zu rechtfertigen, gibt sich die Polizei alle Mühe, Samir als höchst gefährlich erscheinen zu lassen. Seine Freunde heißen in dem Observationsbericht »Kontakt- und Vertrauenspersonen«; sein Bekanntenkreis ist ein »Geflecht«. Dass er sich in der Moschee mehrmals mit einem Bekannten unterhielt und beide das Gebäude »jeweils getrennt voneinander« verließen, wird als verdächtig eingestuft; ebenso wie der Umstand, dass Samir sich von der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden belästigt fühlte. »Der Betroffene zeigte sich äußerst misstrauisch« und »versuchte, seine Verfolger abzuschütteln«. Weil Samir sich nicht in aller Ruhe von Unbekannten fotografieren und verfolgen ließ, schließen die Ermittler daraus, dass er »Freiraum für Aktivitäten gewinnen« wollte. Die Tatsache, dass Samir vor seiner Festnahme zweimal bei der Polizei anrief, um Hilfe gegen seine Verfolger zu erbitten, fehlt in dem Bericht.

Doch auch die Richterin hat sich das präventive Prognose-Denken zu eigen gemacht: In ihrem Beschluss wiederholt sie, was die Polizei zu Samirs angeblichen Kontakten zur Islamisten-Szene vorgebracht hat. Und schreibt: »Weitere Kontakte können nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden.« (…) Schließlich heißt es in dem Beschluss: »An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« Auf den Präventivstaat angewendet bedeutet dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ist das Szenario für einen Anschlag nur verheerend genug, haben die Sicherheitsbehörden weitgehend freie Hand.

Noch mehr haarsträubende Details zu den angeblichen “Verdachtsmomenten” in diesem Fall gibt es auch beim Stern unter “Angst vor einem Anschlag: Vorsorglicher Terrorverdacht”:

(…) waren Ermittler des bayerischen Staatsschutzes. Sie hatten den Mann seit längerem im Visier und dabei offenbar nicht mehr festgestellt, als dass er bis zum Mai dieses Jahres Kontakt zu einer Person hatte, die irgendwann im Jahr 2003 einmal Kontakte zu Bekkay Harrach hatte. Jenem Islamisten, der kurz vor der Bundestagswahl per Video zum Dschihad gegen Deutschland aufrief und seit 2007 im Verdacht steht, Kontakte zu Osama bin Laden zu haben.

Als Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee “ständig seine Umgebung geprüft”. Außerdem habe die “Zielperson” bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen “mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln”. Möglicherweise, so wird spekuliert, um “Freiraum für Aktivitäten” zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.

Glaubt man den Staatsschützern, dann gibt es in dieser Hinsicht nur vage Anhaltspunkte. So traf sich Hatem M. – der Mann, der zusammen mit Marouane S. in Gewahrsam genommen wurde – im Jahr 2003 in Bonn mit Bekkay Harrach. Und obwohl die Ermittler ausdrücklich erklären, dass es keinerlei Belege dafür gibt, dass auch Marouane S. den Islamisten Bekkay Harrach jemals getroffen hat, heißt es aus dem Münchner Polizeipräsidium überraschend, Marouane S. könnte sich durch die Terror-Videos seines “Freundes” Bekkay Harrach angesprochen fühlen und sie quasi als eine “persönliche Botschaft an sich” sehen. Die Ermittlungsrichterin geht sogar noch weiter. Trotz der gegenteiligen Aussage der Staatsschützer erklärt sie, “der Betroffene pflegte in der Vergangenheit Kontakt zu dem Verfasser der Videos und zwar über Hatem M.”.

Ein Student sieht sich – zu Recht – von den Handlangern des Überwachungsstaates verfolgt, wendet sich sogar an die Polizei – und gilt als terrorverdächtig? Weil er Muslim ist? Und deshalb fühlt er sich von Drohvideos, die jemand, den er nicht kennt, ins Internet gestellt hat, angestachelt als eine “persönliche Botschaft an sich”? Tun das vielleicht auch alle Muslime? Und wenn die Verdachtsanforderungen schrumpfen, je mehr die Größe der Gefahr wächst: He, die Terroristen könnten ja vielleicht Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen erlangen und einen Atomkrieg entfachen. Wie konkret müssten da die “Verdachtsmomente” sein? Vielleicht, dass jemand aus dem selben Land wie ein Terrorist kommt? Könnte man die nicht auch alle präventiv wegsperren?

Kein fassbarer Verdacht, allerhöchstens noch Indizien, die einen Verdacht vielleicht irgendwann einmal möglich machen könnten, solche Verdachtsanforderungen, die mit den Hinweis auf eine angebliche Terrorgefahr gerade mal in homöopathischer, also selbst für einen Experten wohl kaum wahrnehmbarer Höhe –  man könnte auch von einem Nichtvorhandensein sprechen –  liegen sollen, eine Beweislastumkehr – dies sind Vorgänge, für die in einem Rechtsstaat kein Platz ist. Stattet man Positionen in einer Gesellschaft mit Autoritätsrechten aus – v. a., wenn diese das Gewaltmonopol des Staates oder die Rechtssprechung ist – so benötigen die Personen, die diese ausfüllen, eine wirksame Kontrolle, damit diese nicht ausgenutzt und ausgehöhlt werden.

Und dieser Fall ist bei weitem kein Einzelfall – schaut nur mal bei annalist vorbei. All dies kann so gut wie jeden treffen. Die normalsten Handlungen können plötzlich “terrorverdächtig” sein oder einen “Terrorverdacht” “nahelegen”, wenn die Öffentlichkeit ersteinmal genug mit ständigen Terrorwarnungen bearbeitet ist. Wie real diese Gefahr ist, ist dabei unerheblich – wichtig ist, für wie real sie die Bevölkerung hält. Diese Gefahr wird in der veröffentlichten Darstellung niemals abnehmen – hat sich eine Warnung nicht als gerechtfertigt erwiesen, folgt reflexartig der Verweis, dass die Gefahr jedoch keineswegs veschwunden ist, nicht einmal kleiner geworden ist sie – sie besteht weiterhin und wird regelmäßig erneuert. Dass ist die Gesellschaft der Verängstigung und der Einschüchterung, die die Neokonservativen sich immer gewünscht haben, um die von ihnen ersehnte Stärkung der “Sicherheits”- und Überwachungsmaßnahmen zu verwiklichen und eine Stimmung zu erzeugen, in denen in anderen demokratischen Rechtsstaaten unrechtmäßige Verhaftungen und Gefängnisse, sogar die Anwendung von Folter durchgeführt, geduldet und unterstützt wird – alles im Dienste der Sicherheit vor der allseits und allerzeit bestehenden Gefahr. Die harte, autoritäre Hand des Staates, law und order – wobei man es mit dem existierenden law nicht immer so genau nehmen muss, wenn man es eigentlich verteidigen sollte.

Dies zeigt wieder mal umso mehr, wie sehr unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Demokratie verteidigt werden müssen gegen die, die ihn abbauen und einschränken wollen – auch unter dem Vorwand, ihn zu schützen.

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