Wozu eigentlich Bildung?

Ein Gastbeitrag von Matthias Bohlen

Ja, wozu eigentlich? Nicht, dass es nicht schön wäre, mal was zu wissen, aber der Hessen-Koch kommt doch auch ohne aus. Keine Ahnung, was das mit Zukunftssicherheit zu tun haben soll, aber wenn man schon an Grundfesten rüttelt, warum nicht mal darüber nachdenken, warum die Bildung eigentlich so wichtig ist? Ja, warum brauchen wir eigentlich Bildung?

Klar, für den Einzelnen ist Bildung wichtig, wenn Aufstiegschancen erworben werden sollen. Aber warum muss der Staat für Bildung sorgen? Sicher nicht, weil das Konstrukt aller Bürger so explizit menschenfreundlich ist – ob es das ist, liegt schließlich an den Mitgliedern. Doch ist es für den deutschen oder jeglichen Industriestaat damit getan, Bildung zu fördern, um die bisherige Vormachtstellung und den technischen Vorsprung zu halten? Sind es lediglich ökonomische Gründe?

Das Problem der gegenwärtigen Bildung ist, dass keiner weiß, sich darüber auch nur ansatzweise im Klaren ist, warum sie wichtig ist – und genau das entwertet sie. Bildung ist nicht wichtig um ihrer selbst willen. Bildung bietet die Fähigkeit zum Problemlösen. Deshalb brauchen wir eine kreative Bildung. Keine Schmalspur-Wissenschaft, sondern breit ausgebildete Akademiker, die über den Tellerrand schauen, die ihre Potentiale in Gänze nutzen.

Karl PopperNatürlich könnte man heute sagen, wir hätten doch alles wichtige, mehr bräuchte man nicht, warum also noch Bildung? Genießen wir das, was wir haben, genießen wir das Leben und gut ist. Doch diese Möglichkeit besteht, vor allem für die jüngere Generation nicht. Sie sieht sich mit Problemen konfrontiert, die den Zusammenhalt der Welt in Frage stellen. „Alles Leben ist Problemlösen“, so der Titel eines Buches des Philosophen Karl Popper, und die Bildung ist das Werkzeug dazu. Die Bildung muss, unter Anderem, als Werkzeug begriffen werden. Doch wie jedermann weiß, ist ein Zimmermann ein schlechter Handwerker, wenn er nur den Hammer bedienen kann, ohne zu wissen, wo er vielleicht Hilfe von Anderen benötigt. Nicht zuletzt braucht es Kreativität. Und die bekommt man nicht durch Schmoren im eigenen Saft, mit streng parametrisierten Ausflügen in fremde Fachgebiete, die bestenfalls ein unscharfes Zerrbild vermitteln können.

Diese streng modularisierten Ausflüge in andere Fächer bringen nichts. Für den einen, der nur schnell durchkommen will, den Fachidioten in spe mag es noch ein wenig nerven, wenn man sich über ein Semester lang mit irgendeiner Vorlesung befassen muss, die auf unterstem Niveau andere Fachrichtungen erklären und repräsentieren soll. Für den, der wirklich Umwege macht, und machen will, bedeutet dass, dass er sich um einen Haufen Prüfungen kümmern muss, die alle nicht zusammenpassen, von Fächern die wild aus sog. Elementen zu Modulen zusammengewürfelt wurden. Ein tieferes Einsteigen in andere Fachgebiete wird nicht geschätzt oder als sinnvolle Erweiterung des Horizontes gesehen, sondern lediglich als zeitlicher Mehraufwand ohne Mehrwert. Im Gegenteil, die neuen Studiengänge sollten ja gerade die „employability“, also gewissermaßen die „Berufsbefähigung“ erhöhen, geradezu zum goldenen Kalb machen. Aber ist es nicht so, dass 2 Jahre mehr, die man in seine Persönlickeitsbildung investiert hat, auch diese Berufsbefähigung erhöht? Eine intensive Beschäftigung mit anderen Themen, als dem Hauptstudiengebiet lässt zudem eine neue geistige Elite heranwachsen, und wo sollte ein geistiger Eliteanspruch sein, wenn nicht an den Universitäten, weil diese Zusammenhänge zwischen den Fachrichtungen erkennen können. So können von vornherein Fehler und Irrtümer, die auf Unverständnis, auf Inkompatibilität der einzelnen Menschen in einer Gruppe, sei es zur Arbeit oder auch nur eine andere soziale Gruppe, vermieden werden. Das zweite goldene Kalb ist aber die Fixierung auf ein schnelles Studium. Das vermittelt aber nur stark verdichtetes Wissen über die Problemlösung von Spezialfällen, nicht aber die Fähigkeit, mit neuartigen Problemen umzugehen. Grundlegende Forschungsprinzipien werden nicht oder nur am Rande thematisiert. Hier wäre also eine grundlegende Umgestaltung nötig, weg vom Turbo-Studium, hin zum Twainschen Bild des Bummelstudenten, der seinerzeit nach Deutschland kam und die Universitäten bewunderte – man ging einfach hin und studierte, was man wollte. Es wurde niemand schief angeschaut, nur weil er ein bisschen durcheinander studierte. Wohlgemerkt war das im 19. Jahrhundert. Wer wollte behaupten, wir könnten uns das heute nicht erlauben? Von einem derartigen Bildungsideal sind wir heute leider weit entfernt.

Betrachtet man das gegenwärtig die Universitäten, sieht man ein Bild erstarrter Systeme, die studentisches Lernen in engen Bahnen hält, fachlich stark abgeschottet und streng an vorgegebenen modulierten Arbeitsaufwand orientiert. Unter dem Vorwand, Vergleichbarkeit und Flexibilität zu schaffen, wurde jeglicher Anflug von Flexibilität unterminiert, die Vergleichbarkeit ist ebenfalls nur scheinbar gegeben. Wie also zu einer Bildung finden, die dem Namen gerecht wird, dem Begriff eines Mittels zum Zweck des Fortbestandes der Menschheit in einer Welt, die besser ist als heute, die mehr Menschen ein Leben nach eigenen Vorstellungen ermöglicht. Wie kann eine derartige Bildung aussehen?

Nochmal: Eine Bildung, die nur um ihrer selbst Willen betrieben wird, läuft sich tot. Es füllt weder die zu bildenden aus, noch bringt es ein Verständnis mit sich für die Sinnhaftigkeit, die dieser Bildung innewohnt. Mir schwebt eine Bildung vor, die ein tieferes Verständnis fördert. Sei es in der Physik (meinem persönlichen Studiengebiet) und anderen Naturwissenschaften, in ökonomischen Studien, in Geisteswissenschaften oder Künsten. Es ist gerade das Gegenteil der Bildung, die existiert und weiter in Richtung Verwertbarkeit getrieben wird – wir können es uns nicht leisten, in gewohnten Bahnen zu bleiben und diese nutzen zu wollen. Wir brauchen ein neues, verrücktes Denken, Grundlagenforschung, kritische Überprüfung von Althergebrachtem, die stetige Erneuerung des Wissens durch ständiges Hinterfragen, was wir wissen.  Wie heißt es so schlicht wie flapsig? „Wissen ist nur der Stand des letzten Irrtums!“ Was hochtrabend philosophisch als Suche nach dem Wahren bezeichnet wird, ist die beste Chance auf Fortschritt, auf Erkenntnis. Wenn Probleme nicht mit dem aktuellen Wissen gelöst werden können, oder es große Einbußen an Komfort bedeuten würde, dann sollte man vielleicht anfangen, über ganz neue Dinge nachzudenken.

Humboldt-Universität zu Berlin
Humboldt-Universität zu Berlin. http://www.flickr.com/photos/zug55/4042967469/ unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

Mit all dem vorhergegangenen meine ich auch ausdrücklich die Kunst. Wenngleich Musik die Erderwärmung nicht stoppen wird, ein Bild nicht mehr Wasser aus dem Wüstenboden holt und eine Skulptur keine Hungersnöte beendet, so ist der Mensch doch ein ästhetisch veranlagtes Wesen. Warum ein Nachkommen dieser Veranlagung, dieses natürlichen Triebes sinnvoll ist? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es rührt an den Sinn des Lebens, den ich ebenso wie alle anderen Menschen dieser Erde nicht kenne. Aber jeder wird wohl anerkennen müssen, dass auch Künste Völker verbinden können, Gräben überwinden, oder einfach nur das Leben schöner machen. Schon die griechische Philosophie teilte sich in die Grundströmungen des Wahren, des Guten und des Schönen auf, Logik, Ethik und Ästhetik. Über Logik und Ästhetik habe ich mich bereits ausgelassen, doch wie steht es mit dem Guten? Wo findet man an einer Universität das Gute? Nur in den philosophischen Fakultäten. Doch die werden von anderen Fachrichtungen häufig kritisch beäugt, bringt doch ihre Wissenschaft keine direkt verwertbaren Erkenntnisse. Speziell die Ethik bringt Sätze hervor, die beginnen mit „Du sollst…“, was heute einen negativen Beiklang hat. Es klingt nach Hilflosigkeit der Politik. Dass es kaum einen anderen Weg gibt, um Menschen von einer bestimmten Denkrichtung hinsichtlich eines weltlichen Problems gibt, als ihnen zu erklären, warum sie es sollten, wird in meinen Augen in den allermeisten Fällen vollkommen verkannt. Dass die Philosophie sich derartigen Anfeindungen stellen muss, ist teilweise auch selbstverschuldet. Es gibt viele hübsch verklausulierte Sätze, die Bildung heucheln, meist von schlechten Philosophen, auf die dann Journalisten hereinfallen, wenn sie nicht selbst das Philosophieren gelernt haben (wobei im Bezug auf das Philosophie treiben das Wort „lernen“ nicht mit dem ein Einklang zu bringen ist, was aktuell als Lernen bezeichnet wird). Es mag auch viele gute Philosophen an den Unis geben. Tatsache ist doch, dass diese sich wieder vermehrt selbstbewusst an die Oberfläche trauen müssen. Wenn jemand sagt, er studiere Philosophie, dann haben wir erst dann einen Schritt in die richtige Richtung getan, wenn die Antwort ist: „wow“, und nicht mehr „Und davon kann man leben?“ oder „Und was macht man damit?“

In Verbindung damit steht auch das Humboldtsche Bildungsideal, das  sich auf eine ganzheitliche Ausbildung fixierte. Das heißt nicht, dass jeder alles können muss, Gott bewahre, das wäre von ausnahmslos jedem Menschen zu viel verlangt. Doch es wäre eine Hinwendung zu einer Bildung, die Verständnis um die Zusammenhänge liefern soll, zum Fachgebiet, das eigentlich hauptsächlich behandelt wird. Darüber hinaus muss die Universität die Aufgabe übernehmen, Vordenker zu entwickeln. Wo sonst sollten sich Menschen Gedanken machen, und diese Aufgabe, diese stetige Suche, die Idee eines Nachdenkens über die eigene Bezugsgruppe hinaus, wo sonst sollte diese Idee weitergegeben werden? Sicher, es gibt auch kluge, nicht studierte Leute. Doch diese werden gern geschnitten, ob ihres Mangels an akademischen Graden und es sind bei weitem doch nicht genug, um später die Geschicke eines Landes als Vordenker, eben als geistige Elite zu gestalten. Sie müssen als Mittler dienen zwischen Politik, die die Wünsche der Menschen umsetzen soll und den Menschen selbst, die zwischen den Denkrichtungen wählen sollen, denen aber auch diese verschiedenen Richtungen erklärt werden müssen. Nicht jeder hat die Fähigkeit, selbst derart tiefgreifende Gedankengänge zu verstehen, wie es in der akademisch-philosophischen Ausbildung notwendig wäre. Dennoch haben auch diese Menschen eine Stimme und diese weniger wertzuschätzen als die eines Akademikers wäre mindestens eine gewisse Geringschätzung des demokratischen Gedankens.

Doch nach all diesen idealistischen Begründungen gibt es auch ganz profane Aspekte, die eine deutliche Umstrukturierung der Bildung notwendig machen.Es müssen mehr junge Menschen an die Unis. Es wird immer weniger Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe geben und nicht zuletzt ist jedem ersichtlich, dass andere Länder billiger produzieren können, was also entweder dauerhafte Subventionen erfordert oder andere Arbeitsplätze. Diese ganz profanen Gründe leuchten ein, doch das wichtigste Grund, viel mehr in Bildung zu investieren, ist schlicht der Fortbestand einer Erde, die eine ausreichende Lebensgrundlage für die Menschen bietet. Wenn wir es heute schon nicht schaffen, alle Menschen zu ernähren, obwohl die Erde es eigentlich hergibt, wie sollen wir es in Zukunft schaffen, wenn nicht durch mehr Forschung und dafür auch durch mehr Bildung? Das schließt natürlich die Schulen mit ein. Um mehr Kinder und Jugendliche auf die Universitäten vorzubereiten, muss ein Studium einen Anreiz darstellen. Wenn heute beim Arbeitsamt erzählt wird, man sollte mit einem Abitur ohne 1 vorne durchaus eine Ausbildung in Betracht ziehen, ausdrücklich auch bei Natur- und Ingenieurwissenschaften, halte ich das für fatal. Gerade da gibt es viel zu wenige Bewerber, um den Bedarf zu decken. Möchte man die Forschung weiter ausbauen, bräuchte es also noch viel mehr Anfänger. Doch auch in anderen Bereichen, beispielsweise beim Lehramt, ist der Bedarf riesig. Dazu muss aber eine Schule zum Lernen motivieren. Einzelbetreuung darf kein Fremdwort bleiben – doch genau das wird es bleiben, wenn die Klassen immer noch mit 30 oder mehr Kindern und Jugendlichen besetzt sind. Die unterdurchschnittlich Begabten werden abgehängt, kommen kaum mit und sind demoralisiert, weil sie jeden Tag im Unterricht und auch in Form von Noten mitbekommen: Egal, wie ich mich anstrenge, ich komme nicht gut weg. Und die überdurchschnittlich Begabten? Tja, die werden künstlich klein gehalten, obwohl diese viel schneller lernen könnten. Im Sinne des Frontalunterrichts, der bei derartigen Klassenstärken nahezu die einzige Möglichkeit bleibt, langweilen sie sich und erfahren Lernen nicht mehr als etwas anstrebenswertes. Ich habe selbst erlebt, wie Kreativität rigoros unterdrückt wurde, Selbstdenken bestraft wurde, selbst der viel zitierte Einsatz für die Leistungsschwächeren sanktioniert wurde, weil ja „auch sie dem Unterricht folgen müssen“, der offensichtlich für sie in etwa so fordernd ist wie das Aufeinanderstapeln dreier Duplo-Bausteine. Sie haben genauso wenig Erfolgserlebnisse, wenn nicht die Eltern oder einzelne Bezugspersonen (wie z.B. ein einzelner ausnehmend guter Lehrer, der zudem noch Zeit und Kraft für diese persönliche Förderung hat) viel Zeit und, nicht zu vergessen, Geld dort einsetzen (natürlich vorbehaltlich der bloßen Möglichkeit).

Die konkrete Ausgestaltung von Früherziehung, Schulbildung und Akademischen Einrichtungen zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wichtig ist nur: Bildung ist wichtig. Lebenswichtig. Für die Welt: Überlebenswichtig. Wenn wir nicht weiter forschen, und wir brauchen schließlich Bildung, um bisher gewonnenes Wissen weiterzugeben, handeln wir nicht nur einem natürlichen Trieb zum Trotz, wie verbauen die Möglichkeit, die Welt zu gestalten, so dass sie für alle Menschen besser wird. Und für jeden Einzelnen.

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Recht und Unrecht

Wenigstens in Italien werden brutalst gewalttätige und Beweise fälschende Polizisten verurteilt. Es geht um die Polizisten, die beim G-8-Gipfel in Genua 2001 (das erste Mal, dass die globalisierungskritische Bewegung größer in den Medien hervortrat), nachdem ein Carabiniere am Vortag einen Demonstranten erschossen hatte, in einer vor allem jugendlichen Demonstranten als Schlafplatz dienenden Schule alles kurz und klein geschlagen hatten. Das Resultat: Knochenbrüche, ausgeschlagene Zähne, Lungenperforationen, Schädeltraumata. Einen wilderen Akt der Raserei und Gewalt seitens der Sicherheitsbehörden eines demokratischen Staates hatte man lange nicht mehr gesehen. Als Rechtfertigung fälschte man (zudem höchst dilettantisch) Beweismittel. Danach gab es zunächst Freisprüche, Beförderungen und politische Protektion für die meisten Beteiligten, bevor das Berufungsgericht nun wirklich Recht im Sinne des Wortes sprach und die Beschuldigten zu drei bis fünf Jahren Gefängnis verurteilte. Wie lange man auf ein solches Urteil hiezulande wohl noch warten muss?


Darf die US-Regierung Terrorverdächtige(!) gezielt töten, und dann auch noch eigene Bürger, und dann auch noch in anderen Ländern, in denen weder die USA noch sonst jemand Krieg führt? Am besten noch ganz mutig mit einer ferngesteuerten Drohne? Darüber gibt es in den USA tatsächlich eine Debatte. Präsident Obama hatte nämlich den Befehl an die CIA gegeben, den islamistischen Prediger Anwar al-Awlaki, einen US-Bürger, der sich zur Zeit im Jemen aufhält, mit einer Drohne zu töten. Und das Beste: die Befürworter sagen, das ist ja gar kein Mord, das ist – Selbstverteidigung! Und da kann man ja keinen Prozess abwarten, wenn jemand das Land bedroht, indem er terrorverdächtig, also verdächtig, es zu bedrohen, ist? Äh, Moment, liegt da nicht ein kleiner Denkfehler vor? Und würde solch ein Vorgehen, konsequent fortgeführt, nicht zu einem wild marodierenden Willkürstaat führen? Also noch mehr als jetzt schon? Auch schön:

Noch paradoxer ist, dass die Geheimdienste erst eine Gerichtsanordnung erwirken müssen, um seine Telefonanrufe abhören zu dürfen, aber keinerlei Rechtsprüfung notwendig sein soll, um ihn zu töten.

Na warum sich denn dann die Mühe so einer nervigen Gerichtsverhandlung machen? Und so haben die CIA-Jungs wenigstens noch etwas Spaß, hinter ihren Monitoren ein paar Aufständischen einen Gruß aus dem Land der Freiheit zu schicken!


Wenigstens herrscht noch an manchen Stellen Recht und Ordnung: nicht nur das Internet, nein, auch der Fußballplatz ist kein rechtsfreier Raum! (s.: ehemaliges Nachrichtenmagazin, via Fefes Blog)

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Urban Priol über Merkels “alternativlose Politik” und Silvanas Rechenkünste

Aus der neuesten Folge von Neues aus der Anstalt: Urban Priol über die TINA-Politik von Angela Merkel, hinter der sich eigentlich eine völlige Konzeptionslosigkeit verbirgt, und über die Rechenkünste von Silvana Koch-Mehrin (FDP, INSM, “Praline”-Kolumnistin. Achso, und promoviert in Wirtschaftsgeschichte)

http://www.youtube.com/watch?v=8FuojlXaWoQ

Von der letzten Folge hatte das ZDF einen Clip auf Youtube gestellt (Kathedralen der spätkapitalistischen Dekandenz). Inwzischen hat es das Video aber entfernt. Hat das was mit diesem furchtbaren Rundfunkstaatsvertrag zu tun? Oder hat das die CDU verboten? Naja, egal, dann so:

http://www.youtube.com/watch?v=7F9CiuaIFVY

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Abwahnrecht

Stefan Niggemeier zeigt an ein paar Beispielen den ganzen Wahnsinn der Praxis von Abmahnungen in Deutschland, die dem Prinzip der Meinungsfreiheit oft völlig zuwider läuft.

Woher kommt der Gedanke, dass man Dinge, die einem nicht gefallen, mit der Hilfe von Anwälten und Gerichten aus der Welt schaffen lassen kann? Wenn das nicht mit Meinungsfreiheit gemeint ist: dass Leute frei finden und sagen können, an wen ich sie erinnere, egal wie ungerecht mir das erscheinen oder wie unvorteilhaft das für mich sein mag — was denn dann? (…)

Für erstaunlich viele Menschen, Gruppen und Unternehmen scheint es ganz normaler Bestandteil des Repertoires einer Auseinandersetzung zu sein, anderen ihre Äußerungen zu verbieten. Das ist nicht nur ein juristisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles. (…)

Natürlich gibt es Fälle, in denen es legitim ist oder sogar notwendig sein kann, Veröffentlichungen verbieten zu lassen (und es haben nicht einmal alle dieser Fälle mit der „Bild”-Zeitung zu tun). Aber müsste das in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht das letzte Mittel sein? Eine drastische Maßnahme für besonders drastische Fälle — anstatt ein Routinewerkzeug in jeder Auseinandersetzung? Es ist völlig das Bewusstsein dafür abhanden gekommen, was für ein einschneidender Schritt das ist: jemandem zu verbieten, etwas zu sagen.

Das deutsche Abmahnrecht ist längst zu einem wirkungsvollen Zensurmittel verkommen, durch das mächtige und v.a. finanzstarke Unternehmen oder Organisationen alle ihnen unliebsamen Meinungsäußerungen und auch wahre Tatsachenbehaupungen zu unterlassen quasi erpressen können, will man nicht einen jahrelangen und extrem teuren Rechtsweg auf sich nehmen, zudem mit äußerst ungewissem Ausgang. Denn die Rechtssprechung, v.a. die eines Gericht in einer deutschen Hansestadt landet, ist inzwischen berüchtigt. Abmahnunrecht wäre wohl ein passenderes Wort. Auch gerne dabei mit Abmahnungen: die Katholische Kirche. Und sie geht sogar noch weiter als viele andere, auch das hat Stefan Niggemeier jetzt erfahren. Will sie nach Jahrhunderten endlich wieder zum Vorreiter der Verdunklung der Wahreheit auftreten? Erfahrung hat sie ja. Und das Abmahnunrecht bietet ihr jetzt quasi alle Mittel dazu.

Die Diözese Regensburg hat nun auch mich abgemahnt. Sie geht also nicht mehr nur gegen Artikel über ihr Verhalten im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch eines Pfarrers vor elf Jahren vor. Sie geht auch gegen Artikel vor, die darüber berichten, wie sie gegen diese Artikel vorgeht. (…)

So umfassend ist also das Schweigen, das das Bistum Regenburg gerichtlich erzwingen will. Es geht ihr offenkundig nicht nur um eine (richtige oder falsche) Aufbereitung der Ereignisse von 1999. Es geht ihr offenkundig darum, das Thema insgesamt aus der Öffentlichkeit herauszuklagen.

Einzig das Bundesverfassungsgericht ist anscheinend regelmäßig die letzte Bastion der Vernunft im ausartenden Abm/wahnsinn. Und doch, wenn erst das BVerfG feststellen muss, dass das Persönlichkeitsrecht eines Menschen “seinem Träger keinen Anspruch darauf vermittelt, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es ihm selbst genehm ist”, wie weit ist es dann mit der tatsächlichen Praxis eines formalen Rechtsstaats gekommen? Wie kann daran überhaupt jemand zweifeln?

Auch CARTA beschäftigt sich in einer Artikelserie mit anderen Aspekten der deutschen Abmahnpraxis. Bisher erschienen: Abmahnrepublik Deutschland (I), der die Auswüchse der Abmahnungen anschaulich darstellt und für eine Allianz gegen die Pervertierung des Abmahnrechts plädiert, und Wie man aus Schülern Geschäftsleute macht. Teil II der Serie „Abmahnrepublik“, der zeigt, wie sich die Politik  bei der Gesetzgebung zur Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums von Lobbys und Klientelgruppen beeinflussen ließ und wie aus diesem Gesetz eine vollkommen widersinnige Rechtssprechung resultierte.

Und der rauskucker demonstriert, wohin die ausartende Abmahnpraxis und freiheitsfeindliche Rechtsprechung noch führen könnte. Zwar als Satire, aber leider wohl gar nicht mehr so unrealistisch:

Der Moppedclub “Hells Angels” ließ ein Verbot des Begriffs “Rockerbande” verfügen.
Osama Bin Laden setzte durch, daß seine Al Kaida nicht mehr als “Terrornetzwerk” und ihre Arbeit nicht mehr als “Terroranschläge” bezeichnet werden durften.
Die NPD ließ (in ihrer Eigenschaft als Rechtsnachfolgerin der NSDAP) die Wörter “Holocaust”,”Shoah”, “Völkermord” und “Angriffskrieg” verbieten, ebenso alle Bezeichnungen für A. Hitler (wie z.B. “Diktator”), außer dem korrekten “Reichskanzler”, bzw. “Führer”.
Der Hamburger Zensurrichter Andreas Buske erreichte, daß der Ausdruck “Zensur” in allen Abwandlungen und Kombinationen nicht mehr verwendet werden durfte.

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Sensationelle Entwicklung oder simple Täuschung?

Die angeblichen Wunder um den Rückgang der Erwerbslosenzahlen in Deutschland im April 2010 sind relativ einfach zu entzaubern: es handelt sich um eine bloßen statistischen Trick. Statt durch eine Erholung ist der deutsche Arbeitsmarkt in Wirklichkeit durch mehr Prekarität gekennzeichnet.

Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt?

Die deutschen Medien jubeln, dass die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sensationell sei. Eine Schlagzeile jagt die nächste. Staunen, Wunder, Euphorie. Alle scheinen völlig aus dem Häuschen zu sein. Und alles kam völlig überraschend! Ein unfassbar starker Rückgang der Arbeitslosigkeit wird verlautbart, die Wirtschaft kommt wieder in Schwung – und das haben wir alles nur unserer klugen und umsichtigen Regierung zu verdanken! Klingt ja erstmal ganz gut, könnte man denken. Macht die Regierung ja doch vielleicht mal was richtig. Doch wie sieht es wirklich aus?

178.000 Erwerbslose wurden diesen April weniger gezählt als im April 2009, so meldet man. Doch hinterfragt wird nicht. Wieso auch? Heißt das etwa nicht, 178.000 Erwerbslose weniger, fragt man sich jetzt zu Recht? Um die Pointe vorwegzunehmen: Nein, das heißt es nämlich nicht! Das Stichwort lautet: Schönrechnen. Dabei ist es hier noch einfacher als bei vielen anderen der üblichen Verdrehungnen und Verzerrungen, hinter den nackten Zahlen die tatsächliche Entwicklung zu erkennen. Eigentlich schon zu einfach, ist es doch nur ein wirklich ganz billiger Statistiktrick.

Ein simpler Rechentrick

Denn, tadaa!, alle Arbeitslosen, die bei privaten Arbeitsvermittlern gemeldet sind, zählt man 2010 einfach nicht mehr zu den Arbeitslosen! Laut Schätzungen sind dies etwa 200.000. Schauen wir noch mal auf den angeblichen Rükgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vergangenen Jahr. Wie hoch soll der noch mal gewesen sein? Ach ja, 178.000. Und schon hat man statt tatsächlich mehr Arbeitslosen sogar offiziell weniger! Und der angeblich so überraschende “Rückgang” im Vergleich zum Vorjahr ist dann keineswegs mehr überraschend (und ja noch nicht einmal ein Rückgang). So einfach kann man sich Erfolge stricken, so einfach kann man von katastrophalen Entscheidungen in der Wirtschaftspoliik ablenken.

Wenn diese Tatsache in den meisten Berichterstattungen mal gar nicht erwähnt wird, weiß man schon, was man hinsichlich journalistischer Qualität von diesen zu halten hat. Offenbar freut man sich in vielen Redaktionen so sehr, endlich mal wieder etwas Positives über die Regierung schreiben zu können, dass man alle Einwände, auch wenn sie noch so offensichtlich sind, schnell unter den Teppich kehrt. Hat ja hoffentlich keiner bemerkt. Ok, wäre diese Maßnahme wenigstens irgendwie statistisch sinnvoll, meinetwegen (trotzdem hätte man es erwähnen müssen). Aber wieso soll denn bitte ein Arbeitsloser, der bei einer privaten Job-Agentur nach einem Arbeitsplatz sucht, weniger arbeitslos sein als jemand, der bei der Bundesagentur gemeldet ist? Nein, so eine Zählweise ist nur verschleiernd und gar kontraproduktiv, erschwert sie doch eine für politische Progamme notwendige umfassende Bestandsaufnahme des Arbeitsmarktes.

Eher Wandlung statt Zunahme der Arbeitsplätze

Natürlich, bleiben wir fair, gab es dennoch einen relativ großen Rückgang im Vergleich zum Vormonat. Worauf ist dieser nun zurückzuführen? Das Kurzarbeitergeld war im Prinzip richtig und hat viele Jobs gerettet, keine Frage (aber natürlich hätten gößere Konjunkturprogramme auch mehr bewirken und die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sich schneller erholen lassen). Aber: die Kurzarbeit, sowie die oft erfolgte Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen (s.u.), hat dazu geführt, dass zwar vielleicht nicht die Zahl der Beschäfigten, aber die Arbeitsleistung insgesamt (in Stunden) zurückgegangen is, auch das muss man betrachten. Und andere Faktoren, die zu den Arbeitslosenwerten im April beigetragen haben, wie saisonale und demographische, darf man auch nicht vernachlässigen.

Andere wichige Eckpunkte des Arbeitsmarktes, die die Bundesagentur bekanntgab, werden in der medialen Berichterstattung meist einfach verschwiegen: Die Zahl der Unterbeschäftigten blieb im vergangenen Jahr weitgehend konstant (4,6 Millionen). Die gemeldeten offenen Stellen sind nicht viel mehr geworden. Es gibt deutlich mehr Hartz-IV-Bezieher (6,7 Millionen), darunter auch viele “Aufstocker”, die nur Niedriglöhne verdienen. Im letzten Jahr gab es 300.000 Vollzeitstellen weniger und 200.000 Teilzeitsarbeitsstellen mehr. Die Zeitarbeit hat deutlich zugenommen. Insgesamt gab es deutlich mehr prekäre Beschäftigungsformen und nur wenig tatsächliches Wachstum der Arbeitsplätze. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden durch prekäre ersetzt. Wahrlich kein Grund, in voreiligen Jubel auszubrechen.

[Quellen: Arbeitsmarkt: Wo das “deutsche Job-Wunder” herkommt (Frankfurter Rundschau), Arbeitsmarkt im April (NachDenkSeiten)]

Deutschland, Land der Niedriglöhne

Das Wachsen prekärer Arbeitsformen und die zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft wird auch von ganz unerwarteter Seite bestätigt. Die Bertelsmann-Stiftung (!) stellt in einer neuen Studie (“Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit. Benchmarking Deutschland: Befristete und geringfügige Tätigkeiten, Zeitarbeit und Niedriglohnbeschäftigung”; Autoren: Werner Eichhorst, Paul Marx, Eric Thode; Zusammenfassungen: Taz, Bertelsmann, S. 5-7 der Studie) fest, dass in Deutschland zwischen 2000 und 2007 von 17 OECD-Ländern die Lohnungleichheit am meisten gewachsen ist. Untersucht wurden in der Studie die EU- und die OECD-Staaten. Auch im europäischen Vergleich gebe es in Deutschland eine “ausgeprägte Lohnspreizung”. Außerdem ist es hier sehr schwer, in jeweils höhere Lohngruppen aufzusteigen.

Niedriglöhne haben sich hierzulande sehr stark verbreitet. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Frauen, junge Arbeitnehmer und Ausländer sowie der Bau- und der Dienstleistungssektor. Der Niedriglohnanteil unter den beschäftigen Frauen ist sogar der zweithöchse unter allen Industrieländern (nach Südkorea, noch vor den USA). Der deutsche Niedriglohnsektor hat außerdem am meisten zugenommen und lag 2007 bei einer Größe von 17,5% der Beschäftigten. Ursachen sind eine abnehmende Tarifbindung, mehr “Aktivierungsbemühungen von Transferbeziehern” und eine Zunahme von Mini-Jobs, Teilzeitarbeit und Aufstockern.

Wachsende Prekarität

Ein weiteres Ergebnisse der Studie: atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit (auch Zeitarbeit genannt), befristete Beschäftigung und Mini-Jobs haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen, oft auf Kosten regulärer Beschäftigung. Zeitarbeit wird dabei nicht primär genutzt, um den Beschäftigungsstand der Auftragslage anzupassen, sondern als eigenständige prekäre Beschäftigungsform (vor allem in der Industrie). Sie führt – ähnlich bei befriseter Beschäftigung – außerdem nicht zu mehr Übergängen in reguläre Beschäftigung. Und: die Bertelsmann-Stiftung  empfiehlt eine Angleichung der Bezahlung und Arbeitsbedingungen von Zeitarbeit und regulärer Beschäftigung. Außerdem stellt sie fest, dass Minijobs zu niedrigeren Löhnen und mehr Belastung für die Sozialsysteme führen. Diese sowie andere Kombilohn-Modelle sollten nicht ausgeweitet werden. Der Kündigungsschutz solle bei unbefristeter wie bei befristeter Beschäftigung (und auch bei der Leiharbeit) von der Beschäftigungsdauer abhängig gemacht werden. Außerdem fordert sie eine Pflichtversicherung für Selbstständige und eine Verstärkung von qualifizierenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht neu, auch ich habe auf Guardian of the Blind schon auf entsprechende Untersuchungsergebnisse (z.B. zur Lohnungleichheit und zur Leiharbeit oder zu Kombilöhnen) hingewiesen. Jedoch ist es auch, so wenig man die Bertelsmann-Stiftung mögen muss, gut zu sehen, dass mal nicht alle Neoliberalen vor den ökonomischen Tatsachen die Augen verschließen – und vor allem, dass sie diesmal sogar bereit sind, wenigstens teilweise die Konsequenzen zu ziehen und den Befunden entsprechnde Forderungen zu stellen. Würden unsere Politiker wenigstens ab und zu mal zu solchen Einsichten fähig sein, wäre schon viel geholfen. Mit einer anderen Interpretation könnte man sagen: Die Wandlungen in der deutschen Gesellschaft sind so groß, dass sie nicht mehr geleugnet werden können, auch nicht von den neoliberalen Vordenkern. Auch wenn sie oft zögern, das Wort Prekarität in den Mund zu nehmen, sondern lieber von Strukturwandel oder ähnlichem sprechen. Irgendwie muss man wohl doch noch versuchen, Schlechtes schönzureden.

Aufkommende Krise und deutsche Verantwortung

Wie dem auch sei, die Fakten sprechen für sich, und sie zeigen wenig Erfreuliches. Statt einer Zunahme von regulären, sicheren, gut bezahlten Arbeitsplätzen wurden diese oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch Unsicherheit, schlechte Bezahlung und schlechtere Arbeitsbedingungen abgelöst. Die Kurzarbeit mag Schlimmeres verhindert haben, doch sie verschleiert auch teilweise das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise. Solche Tatsachen zu benennen wäre Aufgabe eines kritischen und sachgerechten Journalismus, und nicht das blinde Zujubeln zu Regierungsverlautbarungen. Doch das will man offenbar gar nicht, wie auch die Berichterstattung zu Griechenland zeigt.

Die aufkeimende Euro-Krise, für die Angela Merkel durch ihr verantwortungslose Handeln die Hauptverantwortliche ist, wird in Europa zu fatalen Folgen führen, und, das ist abzusehen, sie wird auch an der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Arbeitsmarkt nicht spurlos vorbeiziehen. Doch sei es drum, hat man ein paar Wähler in Nordrhein-Westfalen durch die von den Mainstream-Medien bejubelte “harte Haltung” zu Griechenland und die “sensationellen Erfolg am Arbeitsmarkt” (die ja, wie gezeigt, nur sehr wenig sensationell sind), gewonnen, dann ist ja das Ziel erreicht. Auch wenn solche möglichen Wahlerfolge aufgrund der drohenden Krisen relativ klein und unbedeutend erscheinen könnten. Doch auch große Lawinen werden von kleinen Erschütterungen ausgelöst.

Bilder:

Eigene Screenshots; Merkel: http://www.flickr.com/photos/30698512@N04/4414905694/ / http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed.de

[Dieser Artikel wurde auch beim binsenbrenner.de und beim Oeffinger Freidenker veröffentlicht.]

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Wenn sich Inkompetenz und Wahlkampfmanöver paaren

Der durch einseitige Ausrichtung auf Wahlkampfinteressen bestimmte und von hetzerischen Kampagnen der Boulevardpresse begleitete zögerliche Schlingerkurs der deutschen Bundesregierung in der Griechenlandfrage hat schon jetzt zu erheblichen wirtschaftlichen und politischen Schäden geführt. Die weiteren Folgen könnten noch verheerender sein.

Die Berichterstattung der deutschen Medien zur Griechenland-Krise ist von einer selbst für diese fast beispiellosen Inkompetenz geprägt, oft besteht sie nur im Nachplappern der von Wahlkampfmanövern bestimmten Positionen der Bundesregierung bis zu offener Hetze, Diffamierungen und niederste Beleidigungen seitens des Rechts-Boulevards. Positiv ragen in der Berichterstattung fast nur Onlineveröffentlichungen, etwa bei Weissgarnix (z.B. “Drohendes Desaster”), beim Herdentrieb (Zeit Online), auf Telepolis oder vom Spiegelfechter hervor.

Statemens von (ernstzunehmenden) Ökonomen sind in den Mainstream-Medien zudem selten zu finden. Aus gutem Grund, denn deren Analysen unterscheiden sich stark von dem populistischen Griechen-Bashing des Politik-Medien-Konglomerats. Heiner Flassbeck bezeichnet in einem Interview mit tagesschau.de das Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung zu Griechenland als katastrophal, u.a. da sie “dem Irrsinn, der im Moment an den Märkten herrscht, nicht Einhalt gebietet”, der “das Resultat von Zockerei und Panikmache” sei. Europa habe es leider versäumt, Maßnahmen zur Reform der Finanzmärkte wie die aktuell von Obama geplanten zu treffen. Finanzhilfen für Griechenland seien im Grunde richtig, aber in einer solchen Krise würden Sparmaßnahmen in Griechenland, die v.a. bei Löhnen und Sozialleistungen erfolgen, dessen wirtschaftliche und soziale Schieflage weiter verschärfen. Außerdem, so ein weiterer Punkt, solle die verzerrte Wettbewerbsfähigkeit in Europa aufhören: in Deutschland müssten höhere Löhne gezahlt werden.

tagesschau. de: Andere Stimmen sagen: Wir haben die Stabilitätskriterien eingehalten durch eine zurückhaltende Lohnpolitik und gut gewirtschaftet, und jetzt sollen wir für die einspringen, die das nicht getan haben. Ist das nicht ein berechtigter Einwand?

Flassbeck: Das ist vollkommen falsch. Man hat eine Währungsunion gemacht mit einem Inflationsziel von zwei Prozent. Das ist eine implizite Verpflichtung, die Löhne ungefähr zwei Prozent über der Produktivität zu halten. Deutschland ist massiv darunter geblieben und hat damit sozusagen eine Deflationspolitik betrieben, ohne es den anderen zu sagen. So wurde Deutschland fast zum alleinigen Gewinner, während fast alle anderen darunter leiden. Das hat nichts mit Sparen zu tun: Das war und ist ein klarer Verstoß gegen den Geist der Währungsunion.

Nein, das hört man nicht gerne. Schulden und Inflation vermeiden, das ist dem Deutschen noch heiliger als sein Bier und sein Auto. Dass Deutschland zumindest eine Mitschuld an den europäischen Ungleichgewichten tragen könnte will man nicht einmal in Erwägung ziehen. Und dass die jahrelange Lohndumping-Ökonomie schädlich sein könnte, nein, dass ist ja alles nur sozialromantischer Linksextremismus! In Deutschland lässt man sich von allem, was gegen die neoliberale Ideologie spricht, egal wie gut belegt, egal wie sinnvoll es ist, schon lange keine Ratschläge geben. Flatter von Feynsinn schreibt:

Seit 30 Jahren wird gebetet, Konsum sei schädlich, niedrige Löhne gut und die jährliche Exportweltmeisterschaft pure Glückseligkeit. (…)

Kein Wort war es den gefragten “Experten” wert, wie volkswirtschaftlich – und zwar global – vernünftige Politik gestaltet werden könnte. Im Gegenteil wurde das Wohl und Wehe der Menschen dem “Standortwettbewerb” überantwortet, was nichts anderes heißt, als den manischen Egoismus eines einäugigen Betriebswirtschaftsdenkens der politischen Ökonomie überzustülpen. Werden in der kruden Konkurrenz der Betriebe und Konzerne die Verlierer vom Markt radiert oder ausgeweidet, ist das unschön, aber in Grenzen praktikabel. Dieses Prinzip aber als alternativloses den Staatswirtschaften zu verschreiben, ist ökonomischer Völkermord. Es sollte keine Volkswirtschaft existieren dürfen, die sich nicht den Regeln der profitorientierten freien Märkte unterwarf. Alternativen wurden mit aller Macht unterdrückt.

Die ökonomische Uneinsichtigkeit paart sich zudem mit parteipolitischen Interessen im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Wäre schnelle Handeln seitens der Bundesregierung erforderlich gewesen, gab es einen wochenlangen Schlingerkurs. Die Rettungsaktion für Griechenland nun dürfte als der unprofessionellste bailout aller Zeiten in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Angela Merkel hat durch ihr Wahlkampfgeschacher und -geplänkel nicht nur Griechenlands Krise verschlimmert und die Kosten in die Höhe getrieben, sondern könnte auch einen Flächenbrand in Europa ausgelöst haben, der bald auch Portugal und Spanien und dann Irland und Italien erfassen und die Eurozone in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte.

Diese Regierung hat hier wie in wohl kaum einem anderen Feld gezeigt, dass sie keinerlei Verantwortung, Solidarität oder auch nur Einsicht besitzt. Für ein paar Wählerstimmen ist man bereit, Milliardenverluste in Kauf zu nehmen, ganze Ökonomien weiter zu destabilisieren und Zinssätze und Spekulationstätigkeiten anzuheizen. Die Kosten dafür wird die Bevölkerung in Europa tragen müssen, in den betroffenen Ländern und bei uns. Die Beteiligung des IWF an den Rettungsaktionen, auf denen Merkel so bestanden hat, wid noch größere soziale Schäden verursachen und mehr Armut schaffen. Und die Kosten für die Zukunft der europäischen Integration sind kaum absehbar. Aber immerhin kann sich jetzt der Stammtisch freuen, dass WIR es diesen faulen, streikenden, schuldenmachenden, nicht sparen wollenden, korrupten, lügenden, im Luxus prassenden Pleite-Griechen mal so richtig gezeigt haben!

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Wohin steuert Obama?

Die rechtskonservative “Tea-Party”-Bewegung will die USA vor dem Sozialismus retten, notfalls mit Gewalt. Sarah Palin heizt die Stimmung mit an. “Zieht Euch nicht zurück! Ladet nach!”, rief sie einer versammelten Party-Meute zu, nachdem Obama endlich eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung in den USA eingeführt hatte. Zudem kommt es in den USA immer mehr zu einer gefährlichen Vermischung von rechtsextremen Verschwörungstheoretikern und militanten Randgruppen mit dem republikanischen Mainstream. Man weiß dabei nie, wer gefährlich werden kann und den extremen Drohungen der Rechten vielleicht irgendwann entsprechende menschenverachtende Gewalttaten folgen lässt.

Am 15. Jahrestag des Oklahoma-Attentats, bei dem 168 Menschen durch einen Bombenanschlag einer rechtsextremen Miliz getötet worden waren, maschierten bei Washington schwer bewaffnete Männer auf. Ex-Präsident Bill Clintion warnte nach einer “überhitzten Rhetorik” mancher Wortführer der Tea-Party-Bewegung, dass sie damit Leute zu Taten anstiften könnten, “die sie sonst niemals begehen würden“. Auch die Mörder von Oklahoma City hätten sich von einer militanten Anti-Regierungs-Rhetorik anstecken lassen, und dies könne auch heute durch die Tea-Party-Bewegung wieder geschehen. Die Zahl von militanten und bewaffneten rechten, teilweise rassistischen, und christlichen Gruppen,  ist im letzten Jahr in der Tat sprunghaft gestiegen. Besonderen Aufschwung haben dabei die Patriot-Gruppen, zu denen auch der Drahtzieher der Oklahoma-Anschläge gehörte.

Die politische Rechte in den USA hat sich seit dem Wahlsieg Obamas noch mehr radikalisiert. Neben den Gruppen außerhalb der Parlamente wird auch die Republikanische Partei durch diese Bewegung weiter nach rechts gedrängt. Nicht eine Abkehr von der wenig ruhmhaften Bush-Ära, nein, eine Verteidigung von Krieg und Folter und eine vollständige Ablehnung sinnvoller sozial- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen der Regierung kennzeichnen die Positionen der amerikanischen Rechten. Wenn man überhaupt von Positionen sprechen kann angesichts einer offensichtlich großen Verwirrtheit:

24 Prozent der Anhänger der Republikaner sagen, US-Präsident Obama könne der Antichrist sein, 22 Prozent meinen, er stehe auf der Seite der Terroristen, für 76 Prozent ist er Sozialist, für 57 Prozent Muslim, 51 Prozent meinen, er wolle die Souveränität der USA opfern und die Macht an eine Weltregierung geben. Zudem glauben die Republikaner mehrheitlich, er habe gegen die Verfassung verstoßen und wolle den Amerikanern ihre geliebten Waffen nehmen. 45 Prozent sagen, er sei nicht in den USA geboren und sei daher nicht rechtmäßig Präsident, für 42 Prozent ist er ein Rassist, 40 glauben, er mache, was die Wall Street ihm sagt, und 38 Prozent sagen, er mache viele Dinge, die auch Hitler gemacht hat. (Telepolis)

Einen Eindruck von dem oft von unbändigem Hasst und einer, man muss es so sagen, fast unfassbaren Dummheit geprägten Atmosphäre in diesem Lager kann man sich auch bei der Wochenzeitung machen, die ein paar Tea-Party-Aktivisten begleitet hat:

Sie jubeln, wenn der reaktionäre Radio­talkmaster von einer apokalyptischen Katastrophe spricht und dabei US-Präsident Barack Obamas Gesundheitsreform meint. Sie jubeln, wenn er von der «bewussten Zerstörung» der USA – des «schönsten und wichtigsten Landes der Erde» – durch «üble Hippies» und deren Abrüstungsverträge spricht. Sie sind begeistert, wenn er das Ende des «Marxismus, Leninismus und Stalinismus light» fordert. Ihre Schilder schimpfen auf Liberale, Friedensdemonstrantinnen, Faulenzer und Sozialisten, die ihrer Meinung nach zu Unrecht in Washington an der Macht sind und ihre Steuergelder ergaunern. (…)

Die traurige Ironie ist: Gerade sie, die Arbeiter in den befleckten Hosen, die Rentnerinnen in ihren billigen Regenjacken und die kleinen Angestellten, die zwei zusätzliche Jobs und tiefe Ringe unter den Augen haben, verloren unter dem konservativen letzten US-Präsidenten George Bush jegliche Chance, an der Gesellschaft teilzuhaben. Doch ihre Wut darüber bekommt nun die neue US-Regierung zu spüren. Der Protest ist ein Ventil ihrer Angst: Sie brüllen den vorsichtig fragenden Reporter nieder, keifen drohend auf die Frage, was denn schlimm an einer rudimentären Gesundheitsversorgung sei. Der Staat ist in ihren Augen zum Tyrannen geworden, gegen den sie Verfassung und Fahne in den Himmel strecken. (…)

Die Tea-Party-Bewegung, das wird hier hoch über den weiten Feldern Wis­consins klar, ist der fleischgewordene Unmut, den allerlei konservative Organisationen für sich zu nutzen wissen. Ihr kommt die Aufgabe zu, den bitterbösen Kampagnen von Fox News gegen Staat, Steuern und den Präsidenten Street Credibility zu verleihen – Glaubwürdigkeit auf der Strasse. Dazu gehören die bigotten Behauptungen der Demonstrant­Innen, Obama tue nicht viel anderes, als das, «was Hitler in Deutschland gemacht hat», oder die Ankündigung, mit dem Blut des liberalen Establishments den Baum der Freiheit giessen zu wollen.

Wie kann Obama, wie können die Demokraten versuchen, diesem Einhalt zu gebieten, und wie können sie am besten eine gute Politik durchsetzen? Ich glaube, dass es falsch ist, dass Obama bisher so viele Zugeständnisse an die Rechte gemacht hat. Mag es in Einzelfällen notwendig gewesen sein, um seine Reformen durchzubringen, stellt sich für mich die Lage bspw. bei der Frage von Verfolgung von US-amerikanischen Kriegsverbrechen und -verbrechern anders da. Hier und in vielen anderen Bereichen sollte er deulich konsequenter gemäß seiner Linie vorgehen. Sicher würde dies ein weiteres Auseinanderdriften von Demokraten und Republikanern bedeuten. Für Obama bestand von Anfang an die Alternative, entweder eine Politik zu verfolgen, die auf die Vereinigung der unterschiedlichen politischen Lager zielt, oder einen wirklich neuen Politikstil und neue Politikinhalte zu verfolgen. Beides zusammen war nie wirklich möglich.

Eine wirkliche Hoffnung kann es für die USA nur geben, wenn eine für amerikanische Verhältnisse “linke” Politik betrieben wird, wenn endlich Sozialstaat und Bildung statt Militär und Banken gefördert werden, wenn Schluss ist mit allen katastrophalen Vermächtnissen der Vorgänger-Regierung. In einigen Bereichen ist viel geschehen. Eine Eindämmung des Lobbyismus, einige ziemlich gute Konzepte zur Lösung der Finanzkrise (und zur Verhinderung einer neuen), nicht zuletzt die Gesundheitsreform, u.a. Aber in den Bereichen, in denen Obama auf die Republikaner zugehen wollte, zeigten sich wenig Erfolge, im Gegenteil, wie wir sehen gibt es sogar eine Radikalisierung dieser. Bei den eigenen Anhängern und besonders dem “linken” Flügel der Demokraten verliert er an Unterstützung (sowohl an Wählerstimmen, besonders wegen einer niedrigeren Wahlbeteiligung, als auch an Akionsbereitschaft), da viele Wahlversprechen durch die Kompromisstaktik nicht eingehalten werden konnten, durch die er aber kaum Unterstützer aus dem Republikaner-Lager erhalten dürfte (viele Wechselwähler dürfte er zudem vor der Wahl für sich gewonnen haben und nun zu verlieren drohen).

Nein, das Land ist zu sehr gespalten, um fundamentale Differenzen in der Gesellschafts- und Sozialpolitik aufheben zu können.  Die zehn Kernforderungen der Tea-Party-Bewegung etwa, zusammengefasst in einem Kriterienkaalog für Kandidaten, die sie beim Wahlkampf unterstützt, sind: niedrige Steuern, weniger Schulden, kleinerer Staat, Fortsetzung der Kriege im Irak und in Afghanistan bis zum Sieg, sie sind gegen die Gesundheitsreform, gegen die Legalisierung der Homosexuellenehe, gegen Abtreibung und gegen eine Amnestie für illegale Einwanderer sowie für das Recht auf Tragen von Waffen und für eine entschiedene Politik gegenüber Iran und Nordkorea. Bis auf die Fordeung nach weniger Schulden (und diese ist in Zeiten einer Wirtschaftskrise alles andere als primär) erscheinen alle Punkte aus einer linken oder liberalen (im US-amerikanischen Sinne) Sicht ablehnenswert.

Viele Ansichten werden kaum zusammenfinden können, und das muss man so zugestehen. Die Konfliktlinien in der US-amerikanischen Politik und Gesellschaft sind oft relativ klar zu ziehen und die unterschiedlichen Positionen nicht graduell, sondern dichotom, Zwischenlösungen sind oft kaum möglich. Abtreibung erlauben oder generell verbieten? Staatliche verpflichtende Gesundheitsvorsorge oder freiwillige private? Menschen foltern dürfen oder nicht? Finanzmärkte regulieren oder vollkommen unangetastet lassen? Wenn die Regierung etwa Abtreibung unter bestimmten Bedingungen zulassen würde oder geringe Eingriffe des Staates in Wirtschaft und Soziales, haben sie sofort eine Fundamentalopposition der Republikaner gegen sich. Die Weltbilder der Anhänger der beiden großen Lager sind in sehr vielen Feldern nahezu gegensätzlich.

Verwaschene Kompromisse, die keine der beiden Seiten repräsentieren, können dem Land aber nicht weiterhelfen. Die Rechten werden ohnehin weiter protestieren, und sie radikaliieren sich trotz der bisherigen Kompromisspolitik. Warum also Kompromisse schließen, zudem mit denen, die überaus verwirrte bis zu gefährliche Ansichten vertreten? Warum nicht konsequent für eigene gute Ideen und eigene Ideale einstehen? Obama sollte spätestens jetzt klar die Schritte und Programme durchziehen, die er im Wahlkampf angekündigt hatte. Es ist noch nicht zu spät. Sein Kampf um eine Reform des Finanzsektors jedenfalls lässt schon einmal Positives erhoffen.

Bilder:

http://www.flickr.com/photos/pargon/ / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de

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Zum Verfahren gegen Oberst Klein

Kurz noch ein paar Hinweise auf lesenwerte Artikel und Kommentare zum Verfahren gegen Oberst Klein und zum Afghanistan-Einsatz:

Informationen zur Einstellung des Ermittlungverfahrens durch die Bundesanwaltschaft (Telepolis pnews): Freibrief für Luftschlag in Afghanistan

Soweit die Getöteten zu den Aufständischen gehörten, war der Angriff auf sie nach Ansicht der Juristen berechtigt. Eine Bekämpfung durch Bodentruppen sei wegen der damit verbundenen Gefährdung der eigenen Truppen nicht zumutbar gewesen (…) Die Entscheidung der Bundesanwaltschaft dehnt in einem Zusatz die straflosen militärischen Angriffsmöglichkeiten noch weiter aus

Interview auf Spiegel online: Verfahren gegen Oberst Klein: Ex-Bundesrichter Neskovic wirft Bundesanwaltschaft mangelnde Distanz vor

Neskovic: Die veröffentlichte Begründung ist juristisch gesehen handwerklich so unbefriedigend und lückenhaft, dass es gar nicht möglich ist, die Entscheidung nachzuvollziehen. Die Argumentation ist nicht transparent, weil sie sich hinter der Geheimhaltung der zugrunde liegenden Dokumente verschanzt. Eins ist klar: Die Bundesanwaltschaft hat eine ihrer wichtigsten Pflichten vernachlässigt. Sie hätte die Vorgänge in Kunduz mit einer kritisch zivilen Distanz prüfen müssen. Stattdessen hat sie sich ausschließlich die militärische Sichtweise zu eigen macht.

Kommentar vom Spiegelfechter: Kriegsrecht

Je stärker der deutsche Kriegseinsatz in Afghanistan gesellschaftlich kritisiert wird, desto dichter rücken die staatlichen Organe zusammen, die diesen Krieg bis zum Endsieg von „Demokratie und Freiheit“ fortführen wollen. Ein deutscher Offizier befehligt im fernen Kunduz einen Bombenangriff auf eine Menschenmasse und nimmt dabei – zwar nicht vorsätzlich, aber dennoch fahrlässig – zivile Opfer in Kauf und die Bundesanwaltschaft stellt trotz überwältigender Indizien und Beweise, die zumindest eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung in 74 bis 83 Fällen rechtfertigen würden, das Verfahren gegen diesen Staatsbürger in Uniform ein. Mit Zivilrecht und Rechtsstaatlichkeit hat dies nur wenig zu tun – Deutschland ist im Krieg angekommen und wenn es um die Bundeswehr geht, herrscht offensichtlich Kriegsrecht. Ob die Verantwortlichen – und dies sind nicht nur Uniformträger – für das bisher schlimmste Kriegsverbrechen seit dem Untergang des Dritten Reiches je zur Verantwortung gezogen werden, darf bezweifelt werden. (…)

Es herrscht Krieg und im Krieg gilt Kriegsrecht. Kein Wunder, dass die Bundeswehr die Entscheidung der Bundesanwaltschaft bejubelt – nun darf sie endlich töten, ohne großartig Angst zu haben, in der Heimat für die rechtlichen Folgen geradestehen zu müssen. Oberst Klein mag formaljuristisch unschuldig sein – moralisch trägt er jedoch die volle Verantwortung für sein Handeln

Kommentar von SZenso: Hofberichtblogging (12): Über die Unbedenklichkeit des Kollaterierens

Weshalb wir als nichtafghanische Bürger bei diesem Krieg mittöten und -sterben, ist jedoch keine Frage, die wir uns in Kriegszeiten stellen sollten.Die in der Qualitätshofberichterstattung oftmals geforderte Rechtssicherheit für unsere im Krieg befindlichen Soldaten wurde endlich geschaffen. Die Soldaten brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie am Check Point afghanische Familien oder im friendly fire ihre afghanischen Kameraden kollaterieren. Was jedoch weiterhin nicht geht, ist zum Beispiel der Diebstahl von Kantinenbesteck oder nicht polierte Stiefel. Dann wird das ganze Arsenal an disziplinarischen Maßnahmen ausgepackt und der Soldat gemaßregelt, denn immerhin sind wir zivilisiert und das sind und bleiben wir natürlich auch im Krieg. Wir haben in Afghanistan in erstaunlich kurzer Zeit erfolgreich das Töten und Sterben gelernt, alte Kriegstraditionen wieder belebt und wir werden auch die kommenden Herausforderungen  meistern. Es gibt im Grunde nur noch eine Schwachstelle, die Heimatfront ist noch unterentwickelt. Das Kämpfen und Kollaterieren muss wieder als soldatisches Heldentum begriffen und in der Heimat entsprechend gewürdigt werden. Bei jedem toten deutschen Soldat muss der animalische Reflex der Rache und Vergeltung unverzüglich nach dem Blut des Feindes verlangen.

Kommentar von Andrian Kreye (Sueddeutsche.de): Völkerstrafrecht – Niederlage im Kampf um Herzen und Köpfe

Das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein wurde eingestellt. Damit stellt Deutschland seine Rolle als Speerspitze der Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

NACHTRAG: Kommentar von Jakob Augstein (Der Freitag): Die Wahl der Waffen

(…) dieser Mann kann allen deutschen Soldaten künftig als Vorbild dienen: Die wahllose Tötung von Menschen, seien es Zivilisten oder Kämpfer, Männer oder Frauen, Greise oder Kinder, ist im Krieg Alltag und kein Vergehen, und die Justiz ist nicht zuständig. Man kann getrost damit rechnen, dass die eigene Gerichtsbarkeit der Bundeswehr sich des Falles, wenn überhaupt, dann gnädig annehmen wird.

Bundeswehr und Bundesregierung waren erfreut, dass Richter und Staatsanwälte sich nicht mit Oberst Klein befassen werden. Es hieß, diese Entscheidung gebe den Soldaten nun Rechtssicherheit. Die Soldaten können mit mehr Sicherheit töten. Es wird ihnen nichts geschehen. Wenn Oberst Klein davonkommt, wird jeder andere auch davonkommen. 91 Menschen verlieren ihr Leben, und es wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Es geschieht einfach. Das ist die Wirklichkeit des Krieges. Diese Wirklichkeit greift die Moral der deutschen Gesellschaft an, so wie sie die Moral aller Gesellschaften auf Dauer angreift, die sich im Krieg befinden. Die Frage nach Schuld und Unschuld des Einzelnen, die in der Zivilgesellschaft Grundlage jeden staatlichen Eingriffs ist, spielt im Krieg keine Rolle mehr. Es dürfen alle sterben. Die Schuldigen und die Unschuldigen. Die Männer und die Kinder. Im Tode sind sie alle gleich.

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Vom Töten und vom Sterben

In Afghanistan haben tapfere US-amerikanische Soldaten acht Kinder und Jugendliche im Schlaf erschossen. Verneigen wir uns vor dem Mut und der Tapferkeit! Und da man in Deutschland ja heutzutage offenbar nicht für das Töten von Zivilisten belangt wird (zumindest, wenn es Afghanen sind), dürfen wir vielleicht auch bald auf ähnliche Heldentaten unserer Jungs hoffen! Für die Brunnen und die Schulen! Und die Frauenrechte!!

Warum wird man in Deutschland eigentlich freigesprochen, wenn man in Afghanistan “142 Menschen, darunter auch viele Zivilisten” tötet? Warum gibt es in Deutschland eigentlich keine Trauerfeiern für getötete afghanische Zivilisten? Warum soll ich diese ignorieren? Warum soll ich aber um gefallene Soldaten trauern? Warum soll ich Respekt haben vor Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, Menschen auf Befehl zu töten?

Roberto von ad sinistram hat ein paar sehr treffende Worte gefunden:

Mit Ihnen trauert ein ganzes Land! (…) Ich weiß nicht, wie andere das wahrnehmen, aber ich, in diesem Lande lebend, trauere nicht; ich will damit nichts zu tun haben. Man spreche nicht an meiner Statt! Das verbitte ich mir! Man verstehe mich bitte nicht falsch: ich freue mich auch nicht, dass Blut geflossen ist. Aber dieses Blut, es hat nichts mit mir zu tun. (…)

Deutschland verneigt sich vor Ihnen! (…) Ich aber nicht! Ich weiß, das mag für manchen starker Tobak sein. Zurückhaltung!, wollen sie mir belehrend zurufen. Über Tote nichts Schlechtes!, lehren sie mich. Ich weiß, ich weiß! Pietät und Ehrfurcht und so. Aber bitte, ich will doch den Toten gar nichts Böses nachsagen. Ich weigere mich ja auch ausdrücklich, sie zu verurteilen, weil sie Soldaten waren, weil sie an einem Angriffskrieg teilnahmen, der verfassungswidrig ist. Und dass es denen recht geschähe, wird man hier nicht lesen, wenngleich man natürlich festhalten muß, dass derjenige, der seiner Arbeit im Kriegsgebiet nachkommt, auch wissen muß, wie traurig das alles enden kann. Aber recht geschieht ihnen der Tod nicht! Gegen solche kraftmeierische Verächtlichkeiten wehre ich mich. Doch verneigen? Ich möchte doch sehr bitten!  (…) Aber einen Knicks für Fremde zu machen, die ihren besoldeten Dienst im eroberten Ausland getan, die einen Quisling des Westens zur Regierung verholfen haben, die im Zweifelsfall geschossen hätten oder sogar haben? (…)

Oh nein, ich bin wahrhaftig nicht stolz darauf, Hinterbliebene zu brüskieren – aber ich kann nicht damit leben, als Teil einer Trauergemeinde angesehen zu werden, der ich nicht angehöre. Ich kannte jene Toten nicht und ich will deren Engagement, das nun andere an ihrer Stelle weiterbetreiben, auch weiterhin nicht kennen – sie schießen dort nicht für mich, daher verneige ich mich nicht. (…) Ich trauere nicht mit einer Gesellschaft, die es als hinterhältige Morde ansieht, wenn Besatzungssoldaten erschossen werden, die sich aber beruhigt durchschnaufend zurücklehnt, wenn es nur Afghanen waren, die im Kugelhagel oder Bombenregen starben; ich trauere nicht um Soldaten, die vorher wußten, dass sie sich für ein Kriegsgebiet entschieden haben, in dem man auch zu Schaden kommen kann; ich trauere nicht an der Seite von Selbstdarstellern, die die Freiheit am Hindukusch verteidigen wollen, während sie zwischen Rhein und Oder selbige schrittweise beschneiden. Darauf muß ich nicht stolz sein – aber ich muß es loswerden dürfen!

Und auch Georg Schramm trifft es mal wieder:

http://www.youtube.com/watch?v=9YUDvAnoM7I

Ich finde dabei überhaupt nicht, dass man sich dafür schämen muss, wenn man für den Frieden und gegen sinnloses Töten und Sterben eintritt. Und ich finde, auch eines muss gesagt werden: sicherlich sind v.a. die verantwortlich, die die Soldaten in den Krieg schicken, sind es die Politiker in ihren bequemen Büros abseits des Geschehens. Aber ich kann auch vor Soldaten selbst, vor denen, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, die Menschen, bei denen es ihnen befohlen wird, zu töten, keinen Respekt empfinden. Es sind nicht “meine Jungs”. Nein, ich kann dies nicht nachvollziehen, empfinde es nicht als “Dienst am Vaterland”. Ich kann dem Töten von Menschen auf Befehl nichts abgewinnen.

Und ich glaube auch nicht, dass diejenigen, die sich zur Armee melden, nur Deutschland vor bösen Angreifern verteidigen wollen o.ä. Nein, sie wissen, was auf sie zukommen kann. Sie wissen, was sie für ihren eventuell Sold tun müssen. Und, ich muss es so deutlich sagen, ich habe mehr Respekt vor einem Arbeitslosen als vor jemandem, der für Geld dazu bereit ist, Menschen zu töten, oder ihr Töten zu befehlen, oder Armeen von Tötenden auf der Landkarte zu verschieben. Nicht, weil er glaubt, dass dies richtig ist, nicht für ein höheres Ziel. Sondern, damit er sein Geld bekommt. Nein, davor habe ich keinen Respekt.

Falls jemand aus anderen Beweggründen beim Militär ist, falls er glaubt, dort etwa die Sicherheit Deutschlands gewährleisten zu können oder Sicherheit und Frieden weltweit auf diese Art schaffen zu können, dann teile ich diese Ansicht nicht unbedingt, aber dann respektiere ich diese. Doch dann frage ich diese, die etwa oft sagen, dass sie etwa den Afghanistan-Krieg nicht befürworten, auch: Warum kämpft ihr dann trotzdem dort? Warum tretet ihr nicht öffentlich gegen den Krieg ein. Und v.a.: Warum tretet ihr aus der Bundeswehr nicht aus?

Das mag hart klingen, und ich denke auch keineswegs etwas wie “das haben die Soldaten ja nicht anders verdient!”, und ich könnte es auch nicht verstehen, wenn man andererseits das Töten durch Afghanen zu legitimieren versucht. Sie sind gestorben, das bedaure ich. Aber sie sind nicht für mich gestorben.

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Die deutsche Blogosphäre: Selbstreferentialität versus Relevanz

Das größte Hobby der deutschen Blogger, sich mit den Mainstreammedien zu zoffen und darüber zu philosophieren, ob Blogger nun Journalisten sind und Journalisten überhaupt Blogger sein können, ist von außen betrachtet ungefähr so unterhaltsam wie die dogmatischen Kabbeleien sektiererischer Theologen. Ob Gott, Jesus und der Heilige Geist nun Hypostasen oder Substanzen sind, mag für Dogmatiker, die sich zeitlebens mit dieser Frage beschäftigen, ja interessant sein. Für moderne Netzdogmatiker ist es anscheinend die Blogger-Journalisten-Frage, der man sein Lebenswerk widmet – außer den Beteiligten interessiert diese Frage aber sonst niemanden. (Der Spiegelfechter)

In der Tat ist ein Großteil der deutschen Blogosphäre immer noch sehr mit sich selbst beschäftigt und füllt Bibliotheken mit medieninternen Fragen, deren Relevanz für die Gesellschaft außerhalb des irgendwas-mit-Medien-Bereichs nahe am Nullpunkt liegt. Doch zwischen der einhunderttausendsten Diskussion über medieninternes Bla oder das neueste Apple-Produkt stecken durchaus Perlen, die leicht unterzugehen drohen in der öffentlichen Betrachtung des Internets.

War es eigentlich die ersten Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks auch so, dass ständig Bücher ohne jeden Inhalt erschienen, in denen es nur darum ging, wie man Bücher schreibt (aber nicht um Inhalte), wie man Bücher verbreiten und damit möglichst Geld verdienen kann und darum, dass Papyrusrollen ja so veraltet wären und die Papyrusrollenhersteller sich immer noch nicht an die neuen Zeiten angepasst hätten und endlich neue Strategien finden müssten (ohne zu sagen, wie die aussehen oder in welche Richtung sie gehen könnten)? Ich glaube nicht, dass es so war. Es war ja auch nicht so, dass die Bücherschreiber sich immer nur untereinander mit dem Bücherschreiben beschäftigt haben und das Volk weiter bei den Papyrusrollen blieb, da diese auch wirkliche Informationen lieferten. Nein, eine neue Medien-Technik wird nur ihr gesamtes Potential ausschöpfen können, wenn sie neben den praktischen Vorteilen auch eine gute inhaltliche Qualität gewährleistet. Und das geht nun mal nicht, wenn sich sämtliche Ressourcen und Energien nur in selbstreferentiellem inhaltslosem Gerede eschöpfen.

Das klingt jetzt wahrscheinlich härter, als es gemeint ist.  Natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, dass es auch solche Blogs gibt, aber so kommt es halt, dass Blogs in der nichtinternetaffinen Öffentlichkeit entweder mit irgendwelchen bescheuerten Verschwörungstheoretikern assoziiert werden oder eben mit den zwar netten, aber nicht wirklich ernstzunehmenden Nerds, die sich entweder mit Technik oder eben mit sich selbst beschäftigen. Dabei steckt im Netz in der Tat ein rieseiges Potential für kritischen Journalismus. Mit den Netzsperren und den Bürgerrechten hatte und hat man ja durchaus Themen, bei dem man den Mainstream-Medien an Qualität der Recherche und Argumentation um Meilen vorraus ist. Es gibt durchaus sehr gut Blogs in Deutschland, die sich mit politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen beschäftigen, doch ist ihre Zahl, wie die ihrer Leser, durchaus sagen wir ausbaufähig. Erst wenn deutlich mehr von der Energie, die in selbtbezogene Diskussionen gesteckt wird, in inhaltliche Arbeit übergehen kann, werden Blogs so relevant sein, wie sie sich gerne sehen.

P.S.: So, und nachdem ich nun selber wenig Inhaltliches geschrieben und mich selbst in medieninterne Meta-Diskussionen verstiegen habe, soll das aber eine Ausnahme sein. 😉 Es geht doch um Inhalte!

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